Mythen und Geschichten der Polarlichter
N 68°11’57.5’’ E 013°31’56.1’’Datum:
27.09.2020
Tag: 056
Land:
Norwegen
Ort:
Strand
Tageskilometer:
40 km
Gesamtkilometer:
5086 km
Bodenbeschaffenheit:
Asphalt
Fähre
0
Brückenüberquerungen:
0
Tunneldurchfahrten:
3
Sonnenaufgang:
06:58 Uhr
Sonnenuntergang:
18:57 Uhr
Temperatur Tag max:
7°
Temperatur Nacht min:
4°
Aufbruch:
15:00
Ankunftszeit:
17:00
(Fotos zum Tagebucheintrag finden Sie am Ende des Textes.)
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Obwohl wir die Nacht nur ein paar Stunden geschlafen haben, stehen wir regelrecht energetisiert auf. „Ob die Polarlichter sich in irgendeiner Form auf uns Menschen auswirken?“, fragt Tanja. „Könnte schon sein. Sonne, Mond, Wind, Trockenheit, Regen und Schnee, jedes Wetter beeinträchtigt in irgendeiner Form das menschliche Leben. Warum nicht auch die elektrisch geladenen Teilchen der Sonnenwinde, die mit den Gasen der Erdatmosphäre kollidieren?“, überlege ich. „Wegen eines geomagnetischen Sturms waren die Polarlichter Mitte des 19. Jahrhunderts so stark, dass sie sogar in den Tropen zu sehen waren. Und um deine Frage zu beantworten, ob sich die Aurora auf uns Menschen auswirkt, ist das zumindest für unsere Technik zutreffend, denn man geht davon aus, dass bei einem gleichwertigen geomagnetischen Sturm heute einen weltweiten Blackout verursachen würde. Das wäre sicherlich fatal für die Erdbevölkerung. In Kanada gab es 1989 einen großen Stromausfall, der auf einen starken Sonnenwind zurückgeführt wird.
Aber es braucht gar keinen großen Sonnensturm, denn in manchen Fällen sind auch so elektronische Einrichtungen, insbesondere Satelliten gefährdet. Das geht sogar so weit, dass in Zeiten erhöhter Polarlichteraktivitäten der Flugverkehr in geringere Höhen umgeleitet wird und Routen abseits der Polarregion gewählt werden. „Wow, also haben die schönen Lichter doch einen Einfluss auf uns. Aber was ist ein geomagnetischer Sturm?“, fragt Tanja. „Soweit ich verstehe, sind das Schockwellen eines Sonnenwindes, die auf Masseneruptionen unserer Sonne zurückzuführen sind.“ „Faszinierend wie alles zusammenhängt.“ „Absolut. Die Christen des Mittelalters zum Beispiel suchten schon Zusammenhänge herzuleiten, indem sie die Lichterscheinungen als Vorzeichen einer Apokalypse interpretierten, was damit zusammenhing, dass in den Breiten Mitteleuropas die Lichterscheinungen oftmals feuerrot sind. Aber auch die zahlreichen nordischen Völker versuchten Zusammenhänge zwischen sich und der Aurora herzustellen, wovon zahlreiche Legenden und Mythen zeugen“, sage ich. „Oh interessant. Du kannst mir doch sicherlich die eine oder andere Geschichte der frühen Völker erzählen?“ „Kann ich“, antworte ich nachdenkend, „die Bewohner Alaskas, Sibiriens und Lappland glaubten zum Beispiel in den Nordlichtern Zeichen ihrer Götter zu sehen.“ „Du meinst, sie dachten, dass die Götter, die kosmischen Farbenspiele zu den Menschen sendeten, um mit ihnen zu kommunizieren?“ „Ja.“ „Und was sollen das für Zeichen gewesen sein?“ „Nun, manche ihrer Druiden oder Schamanen interpretierten diese Zeichen als Vorboten für einen verheerenden Krieg, andere sahen darin kommende Hungersnöte oder vielleicht sogar einer bevorstehenden Epidemie oder Seuche. Das Volk der Samen, über die wir uns ja schon vor ein paar Tagen lange unterhielten, sahen in den Nordlichtern ebenfalls das Unglück auf sich zukommen. Wenn die Aurora sich rötlich färbte, dachten sie, ihre Verstorbenen haben das verursacht. Sie verboten daraufhin ihren Kindern nach draußen zu gehen, zumindest solange, bis die Toten sich wieder verzogen.“ „Seltsam, dass die Menschen damals die Aurora mit so viel Negativen in Verbindung brachten. Dabei ist sie so schön“, wirft Tanja ein. „Hm stimmt schon, aber es gibt auch andere Mythen und Überlieferungen. Die Inuit zum Beispiel, die im arktischen Zentral- und Nordostkanada sowie auf Grönland leben, glaubten bei der Sichtung der Aurora ebenfalls daran, dass sich dort oben die Geister ihrer Ahnen bewegen. Sie waren sich sicher, dass die bunten Lichter eine Verbindung zum Himmelreich war und dass diese Verbindung von Fackeln ihrer Verschiedenen beleuchtet wurde, um kürzlich Gestorbenen einen sicheren Weg in die andere Welt zu weisen. Außerdem dachten sie, dass das Leuchten durch das Hin und Her werfen eines Walrossschädels beim Spiel entstand. Manche glaubten, dass sich ihre Götter über das Wohlbefinden ihrer Völker erkundigten. Die Wikinger waren sich sicher, dass mit dem Erscheinen der Nordlichter irgendwo eine große Schlacht geschlagen wurde und dass danach die Walküren über den Himmel ritten, um die verstorbenen Helden der Schlacht auszuwählen, damit sie ab sofort an Odins Tafel speisen durften. Während ihres wilden Ritts über den Himmelsbogen beleuchtete das Mondlicht ihre glitzernden Rüstungen, worauf die bunten Polarlichter entstanden.“ „Schöne Geschichte aber was sind Walküren?“, wirft Tanja fragend ein. „Walküren sind nach der nordischen Mythologie die Schlacht- oder Schildjungfern, die zum Gefolge Odins gehören“, erkläre ich. „Danke und kannst du mir noch etwas über Odin erzählen, mein Schatz?“ „Klar“, antworte ich lachend, weil ich zurzeit eine Buchreihe über das Leben der Wikinger lese und somit voll im Thema bin. „Odin war der Hauptgott der Wikinger. Er war der Gottvater, Kriegs- und Totengott zugleich und galt auch als Gott der Dichtung der Runen, Magie und Ekstase. Interessant ist auch das selbst die Maori Neuseelands einen Bezug zur Aurora, die auf der Südhalbkugel als Südlich bezeichnet wird, hatten. Wenn das sehr, sehr seltene Südlicht erschien, dachten sie, es sei ein himmlisches Feuer, das ihre Ahnen entzündet hatten, um es auf ihren Weg in die Arktis warm zu haben.“ „Fantastisch, welche Geschichten und Mythen um die Nordlichter ranken. Für mich sind sie auch göttlich und ehrlich gesagt kann ich gar nicht genug von ihrer herrlichen Schönheit bekommen“, sagt Tanja. „Ich auch nicht. Hoffentlich haben wir noch weitere Chancen sie sehen zu dürfen“, antworte ich und frage Tanja, ob sie uns ein verspätetes leckeres Obstfrühstück zubereitet. „Gerne“, antwortet sie, macht sich in die Küche einen Meter neben unserem Speisetisch und beginnt das Obst zu schnippeln, während ich die 500 Bilder der vergangenen Nacht ansehe, aussortiere, bearbeite und beschrifte.
Starker Wind kommt plötzlich auf und lässt die Terra leicht hin und herschwanken. Ich blicke vom Laptop auf und sehe aus dem Fenster auf das Meer direkt neben uns. Die höher werdenden Wellen werden von ein paar norwegischen Surfern genutzt, die trotz 7 Grad Kälte Freude dabeihaben, eine Welle zu reiten. Um 15:00 Uhr verlassen wir den unvergesslichen Strand und fahren neuen Abenteuern entgegen. Vielleicht zu einer weiteren Polarnacht? Es geht vorbei an kleinen rotbraunen, frisch hergerichteten Fischerhütten, an weißen Stränden, rauen Felsküsten, bis wir einen Parkplatz neben dem Hauklandstrand entdecken. „Lass uns ein wenig am Strand spazieren gehen“, schlägt Tanja vor, weswegen ich den Zündschlüssel ziehe und wir wenig später über weißen Sand laufen, den man sich so eigentlich nur in der Karibik vorstellt. Weil der Stellplatz für unseren Geschmack nicht perfekt ist, fahren wir weiter, durchfahren ein Tunnel und gelangen am Ende der geschotterten Straße an einem Platz, für den man glatte 25,- Euro nur fürs Dastehen verlangt. Wir sind sicherlich nicht geizig, aber es fällt uns schwer, so viel Geld zu bezahlen, nur das wir mit einigen anderen Campern in Reih und Glied an einem Strand stehen. „Lass uns umkehren“, sagt Tanja. „Gute Idee“, antworte ich, stoße zurück und wende die Terra wieder in Richtung Hauklandstrand. „Und siehe da der Platz ist plötzlich leer“, freue ich mich. „Sind alle heimgefahren“, meint Tanja, weil die meisten Besucher Norweger waren, die hier nur für einen Tagesausflug geparkt hatten.
Ab 20:00 Uhr schauen wir ständig aus dem Fenster, ob wir die verdächtigen Streifen am Himmel entdecken. „Nichts zu sehen“, stelle ich enttäuscht fest. Um 21:00 Uhr hält es Tanja nicht mehr aus. „Komm, lass uns zum Strand laufen. Vielleicht sind sie ja doch da“, drängt sie. „Okay“, sage ich, schnappe mir das Stativ und die neue Kamera, an der die Langzeitbelichtung wieder funktioniert, und verlasse die Terra Love.
Am Strand legen wir unseren Kopf in den Nacken und blicken in den wolkenverhangenen Himmel, um Polarlichter zu sehen, die laut einer entdeckten Keilschrift schon vor 2500 Jahren von den Babyloniern am Persischen Golf bewundert wurden. Hinter den Wolkengebilden versteckt sehen wir plötzlich verdächtige Streifen. „Das sind sie doch!“, sagt Tanja. „Ja ich glaube, du hast recht. Das sieht nach Polarlichtern aus“, sage ich, stelle das Stativ in den weichen Sand, klicke die Kamera darauf, fokussiere auf die dunklen Felskanten, die in zwei oder dreihundert Meter Entfernung das spiegelglatte Meer etwas einengen und drücke auf den Auslöser. Ungeduldig sehe ich mir eine halbe Minute später die Aufnahme an. „Super! Bingo! Wieder ein Volltreffer!“, jubiliere ich und zeige Tanja das Ergebnis. „Da ist sie wieder“, sagt sie erstaunt über das tolle Bild. Wie gestern auch können wir unser Glück kaum glauben, auch am zweiten Tag unserer Polarlichterjagd wieder erfolgreich zu sein. Gerade weil sich einige Wolkenbänder über den Nachthimmel ziehen, wirkt die Aurora völlig anders, hat einen eigenen Charme, vor allem andere Farben. „Da ist das Rot, von dem du heute Morgen erzählt hast“, sagt Tanja nach oben deutend. Tatsächlich mischt sich unter das eigenwillige Grün eine rötliche Färbung. Diesmal stellen wir uns mit den Stirnlampen an den Strand, reichen uns die Hände und sehen gemeinsam nach oben. Am Ende der Bucht, da wo die Wolkendecke brüchig wird, zieht sich der Aurorastreifen übers Meer und verschwindet im dunklen All. „Odin sendet seine Walküren“, sage ich andächtig. „Ja, sie beobachten uns und laden uns an seiner Tafel ein“, meint Tanja. „Na hoffentlich noch nicht. Die Einladung galt nur den in der Schlacht verstorbenen mutigen Helden“, entgegne ich. „Oh ja stimmt, das hast du erzählt. Na, dann blicken sie auf uns und senden uns Gesundheit, positive Energie und ihren Schutz.“ „Das werden sie bestimmt tun“, antworte ich mich an dem Naturschauspiel nicht sattsehen könnend…