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AUFGELADEN zu den Polarlichtern im hohen Norden - 2020

Mit 1000 Meter über den Abgrund einer der gefährlichsten Foto-Hotspots der Welt

N 59°54.00.5’’ E 006°46’42.5’’
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    Datum:
    27.08.2020

    Tag: 025

    Land:
    Norwegen

    Ort:
    Kjeragbolten

    Tageskilometer:
    54 km

    Gesamtkilometer:
    2665 km

    Bodenbeschaffenheit:
    Asphalt

    Brückenüberquerungen:
    3

    Tunneldurchfahrten:
    0

    Sonnenaufgang:
    06:17 Uhr

    Sonnenuntergang:
    20:57 Uhr

    Temperatur Tag max:
    17°

    Temperatur Nacht min:
    11°

    Aufbruch:
    09:00 Uhr

    Ankunftszeit:
    21:00 Uhr

(Fotos zum Tagebucheintrag finden Sie am Ende des Textes.)

Hier geht´s zum Podcast!Link zur aktuellen Reiseroute 
(Für weitere Beiträge klick auf eines der Fähnchen in der Karte)

„Tanja mach schnell, die sperren gerade die Straße.“ „Was? Die Straße?“ „Ja, offensichtlich wollen sie den Straßenbelag ausbessern. Hoffe, die lassen uns noch durch.“ Eilig hüpfen wir in unsere Kleidung, räumen das Geschirr ins Spülbecken, verstauen die zwei Töpfe im Schrank, beordern Ajaci auf seinen Co-Piloten-Sitz, schauen, ob alle Fenster und Türen verschlossen sind und verlassen das Plateau. „Komme ich da vorbei?“, frage ich Tanja, weil das Baufahrzeug, welches die Straße abgesperrt hat, kaum Platz lässt. „Wird knapp, aber das schaffst du.“ Wenige Augenblicke später sind wir hinter der Blockade und fahren die letzten 7 Kilometer zum heutigen Ziel. Die schmale Passstraße windet sich ein paar Hundert Meter ins Tal. Ich schalte in den zweiten Gang herunter. Der Motor heult auf und bremst die Terra. Obwohl wir in dieser Untersetzung fahren, muss ich zusätzlich immer wieder auf die Bremse treten. Die 6,2 Tonnen schieben und drücken uns die steile Gebirgsstraße nach unten. Wir erreichen den großen Privatparkplatz, auf dem alle, die auf die Kjeragbolten-Wanderung gehen möchten, 30,- € berappen müssen. „Pssst“, sagt ein braun gebrannter Mann am Eingang des Parkplatzes seinen Zeigefinger vor den Mund haltend. Es ist der Chef der Anlage. „Ich habe euch schon von Weitem gehört“, lacht er. „Ja die Motorbremse ist recht laut“, antworte ich. „Und ihr wollt da rauf?“ „Ja absolut.“ „Da habt ihr euch gutes Wetter ausgesucht. Es hat den gesamten Juli jeden Tag geregnet. Der August ist hingegen ist viel besser. Wenn Engel reisen. Ha, ha, ha. Stellt bitte euer schönes Expeditionsfahrzeug auf den Platz dort und löst ein Ticket. Wenn ihr das gemacht habt, kommt bitte noch mal zu mir. Dann zeige ich euch auf der Karte den besten Spot, von dem ihr einen tollen Blick in den Fjord habt. Der offizielle Aussichtspunkt ist nicht so gut. Macht also Sinn, die Route für ein paar Meter zu verlassen.“ „Oh, das ist sehr nett. Ihr Norweger seid wirklich ein freundliches Volk“, sagt Tanja. „Ha, ha, ha, solche habe ich noch nicht getroffen. Die meisten von uns sind sehr introvertiert und wollen mit anderen wenig zu tun haben.“ „Dann bist du offensichtlich anders.“ Stelle ich ebenfalls lachend fest. „Ich wohne während des norwegischen Winters in Florida und im Sommer bin ich hier und manage den Platz.“ „Klingt nach einem guten Lebensweg“. „Nicht so gut wie eurer. Würde auch gerne um die Welt reisen. Nachdem was ich auf eurem Mobil lese, seid ihr schon 1991 aufgebrochen, um die Welt zu bereisen. Stimmt das?“ „Ja, seit 1991 machen wir nichts anderes, als Mutter Erde und ihre Bewohner zu erkunden und für uns zu erforschen.“ „Ha, ha, ha, solche wie ihr habe ich jetzt auch noch nicht getroffen. Das ist ja großartig.“ „Wie heißt du eigentlich?“, frag ich. „Oh, mein Name ist Henrik. Und du bist Denis und deine hübsche Beifahrerin heißt Tanja.“ „Du scheinst Hellseher zu sein?“ „Ich kann gut lesen, ha, ha, ha. Steht ja groß und breit auf eurem Fahrzeug“ „Meinst du, man kann einen Hund mit auf die Wanderung nehmen? Laut Beschreibung soll sie nicht ganz einfach sein.“ „Auf jeden Fall könnt ihr euren Hund mitnehmen. Der tut sich mit seinen vier Füßen leichter als ihr.“ „Bist du dir sicher?“ „Absolut. Er hat die richtige Größe und wenn es der Hund von Abenteurern ist, besitzt er sicherlich auch eine gute Kondition.“ „Ja, die sollte ausreichen“, ist sich Tanja sicher.

Schnell schultern wir die für heute präparierten Rucksäcke. Ich schnalle mir noch meinen neuen Kameragürtel um, klicke die Kamera ein, sperre die Terra ab und auf gehts. Kaum haben wir den Parkplatz hinter uns gelassen, geht es steil in die Höhe. Um die Wanderer abzusichern, sind Eisenketten installiert, an denen man sich nach oben hangeln kann. Schon nach wenigen Hundert Metern bekomme ich beklemmende Schmerzen im unteren Rücken. Es fühlt sich so an, als würde mir jemand die Luft abdrücken, nur dass es nicht die Luft, sondern die Energie ist. Tanja und Ajaci hängen mich schnell ab. Ich kann es nicht glauben. „Bin ich wirklich so unfit?“ Mit jedem Meter weiter fällt es mir schwerer, einen Fuß vor dem anderen zu setzen. Ein paar junge Wanderer steigen an mir vorbei. Sie schnaufen zwar auch heftig, aber im Vergleich zu mir scheinen sie nicht die geringsten Schwierigkeiten zu haben. „Gehts?“, höre ich Tanjas Frage. „Geht schon“, schwindle ich mir nicht eingestehend das ich, wenn der Schmerz nicht aufhört, schon am Anfang der Tour aufgeben muss. „Der Abenteurer muss bei einer Wanderung aufgeben. Das gibt es doch nicht. Da bin ich 12.000 Kilometer mit Kamelen durch lebensgefährliche Wüsten gelaufen, habe mit Tanja Australien zu Fuß durchquert, Pakistan und die Mongolei durchritten und durchlaufen und jetzt ist schon nach ein paar Höhenmetern Schicht im Schacht. Nein, nein, nein.“ Mit großen Schwierigkeiten arbeite ich mich weiter hoch, hangle mich an der Kette entlang. Der Parkplatz direkt unter mir wird nur langsam kleiner. „Wie lange soll es so nach oben gehen? 2 ½ bis 3 Stunden hieß es. Keine Chance, das schaffe ich nicht. Ich muss ja nicht nur hoch, sondern auch wieder runter. Viele Bergsteiger gelangen auf den Gipfel, jedoch liegt die Herausforderung nicht nur im Besteigen eines Berges, sondern im sicheren Abstieg und der heilen Ankunft im Tal.“, geht es mir durch den Kopf. „Wir können gerne eine Pause einlegen“, schlägt Tanja mitfühlend vor, als sie meinen Gesichtsausdruck erkennt. „Nach 33 Jahren kann ich ihr nichts vormachen. Sie weiß, dass ich am Limit bin.“ „Ja vielleicht sollten wir mal kurz anhalten“, gestehe ich mir selbst ein, obwohl wir gerade mal 15 Minuten unterwegs sind. „Was ist denn? Mit dir stimmt doch was nicht?“ „Ich habe Schmerzen im Rücken und weiß nicht wo sie herkommen. Es fällt mir schwer, einen Schritt vor den anderen zu setzen. Irgendwie sind beide Hüften blockiert“, sage ich. „Sollen wir umkehren?“ „Weiß nicht. Ich versuche es noch ein paar Hundert Meter.“ Fünf Minuten später klicke ich die Kamera vom Kameragürtel, um ein Bild zu schießen. Selbst das Fotografieren fällt mir schwer. Plötzlich streift mich ein seltsamer Gedanke. „Ob es am Kameragürtel liegt? Kann es sein, dass er mir auf einen Nerv drückt?“ Auch wenn ich es nicht wirklich glaube, bleibe ich stehen und nehme den Rucksack von der Schulter. Dann klicke ich den Kameragürtel von der Hüfte, verstaue ihn und die Kamera darin und laufe weiter. Auf diese Weise ist es zwar beschwerlich, Bilder zu machen, aber der Versuch ist es wert. Wenn es so weitergeht, werde ich eh bald keine Bilder von dieser Bergbesteigung mehr fotografieren können. „Nicht zu fassen. Als hätte mir eine unsichtbare Hand die Fesseln abgenommen. Die Schmerzen sind augenblicklich weg. Auch meine Hüften sind wieder frei.“, jubiliere ich innerlich. „Tanja! Es war der Gürtel! Der muss auf einen Nerv gedrückt haben. Es ist nicht zu glauben, aber jetzt ist wieder alles normal und die Schmerzen sind wie verflogen“, frohlocke ich erleichtert, als ich sie eingeholt habe. „Kann ich mir gut vorstellen. Wenn Akupunktur und Akupressur funktionieren, dann ist es auch möglich, dass so ein Gürtel Einfluss auf einen Körper haben kann“, sinniert sie.

Ab diesem Zeitpunkt genieße ich die Exkursion und den beeindruckenden Blick von hier oben. Es ist die gleiche spektakuläre Mondlandschaft, die wir gestern mit der Terra durchfahren haben, nur das wir sie diesmal durchwandern. Unser Ajaci verblüfft mich völlig. Er klettert und springt die steilen Felsen hoch, als wäre er eine Bergziege. „Einen tollen Hund habt ihr da“, lobt ein Engländer. „Das ist kein Hund. Er ist ursprünglich eine Mischung aus Eisbär und Wolf, jetzt glaube ich aber, dass er eine Mischung aus Kletteraffe und Bergziege ist“, antwortet Tanja voller Stolz und lachend. „Ha, ha, ha, Affe und Bergziege sind gute Eigenschaften für solch eine steile Tour“, sagt er.

Nachdem wir einen Höhenzug erreicht haben, geht es über teils von Menschenhand angelegten Stufen wieder hinunter. Wir überqueren ein paar Bäche mit glasklarem Wasser, durchlaufen ein sumpfiges, nasses Tal. Steigen über Stufen, teils mit Eisenketten gesichert, wieder in die Höhe. Ich fühle mich großartig, befreit von meinem Gürtel, der mir noch vor Kurzem das Laufen fast unmöglich gemacht hat. Wir klettern über griffigen Felsen, über glattes, von der letzten Eiszeit und Gletschern geschliffenes Gestein. „Wie weit ist es noch bis oben?“, frage ich zwei junge Inder. „Seht ihr den Anstieg dort?“ „Ja.“ „Da müsst ihr rauf, dann über ein Hochplateau. Ab da geht es nicht mehr so steil weiter, bis ihr am Kjerag seid“, erklären sie. Der Anblick des steilen Anstiegs ist ein wenig einschüchternd. An einer Berghütte wie in den deutschen Alpen schießen wir ein paar Fotos, dann laufen wir weiter und arbeiten uns die Steigung hoch. Das Wetter ist für solch eine teils gefährliche Wanderung perfekt. Nicht daran zu denken, wie glatt es hier sein muss, wenn es regnet. Geschweige denn im Winter, da kommt man nur mit Spezialausrüstung und kundigen Bergführer rauf.

Wir erreichen das Plateau. Kleinere Wasserflächen liegen in uralten Gletscherbecken, ein paar Gräser wachsen an den Ufern, manchmal strecken vereinzelnde, hart gesottene Blumen ihre Blüten in das Himmelsblau. Eine heftige Böe bläst wie aus dem Nichts, biegt die zarten Gräser und Blüten und verpufft in der Weite der krassen Bergwelt. Ajaci säuft das Schmelzwasser, liebt es, kann nicht genug davon bekommen. „Verwunderlich, wie viel Wasser ein Hund trinken kann“, geht es mir durch den Kopf. Schnee und Eisfelder liegen links und rechts von uns in tiefen Spalten und Schluchten. Dauerhafter Schatten hat sie den Sommer überstehen lassen. Wir erreichen eine schmale Schlucht. Klettern hinein. Am Ende dieser Passage soll der berühmte fünf Kubikmeter große Felsblock zwischen zwei Felswänden verkeilt sein, auf den sich der eine oder andere Mutige ablichten lässt. Ich bin gespannt, ob er wirklich so spektakulär ist, wie es in manchen Instagramveröffentlichungen gezeigt wird. Und plötzlich, nach zweieinhalb Stunden Kraxelei durch die norwegische Bergwelt, befinden wir uns vor ihm, einem der gefährlichsten Foto-Hotspots der Welt. Ein paar Wanderer stehen mit der Kamera im Anschlag da und fotografieren einen jungen Mann, der auf dem zwischen zwei abfallenden Felswänden eingeklemmten Felsblock posiert. „Wow“, entfährt es mir, denn der Anblick übersteigt meine Vorstellung. „Komm, geh drauf“, fordern zwei Franzosen ihren Freund auf, den Felsblock zu besteigen. Aus der Position der Fotografen erhaschen wir seinen Kopf, der um die Felskante spitzt. Kurz ist sein Gesicht zu sehen, dann verschwindet es wieder. „Ich geh mal hoch und schau mir das an“, beschließe ich, während Tanja mit unserer Kamera hierbleibt, um ein Foto von mir in den Kasten zu bekommen. „Was ist?“, frage ich den jungen Franzosen, der am ganzen Körper zittert, als hätte er gerade den Teufel persönlich gesehen. „Ich habe Höhenangst und trau mich nicht auf den Felsen zu klettern. „Dann bleib besser da. Es macht keinen Sinn, nur für ein Foto sein Leben zu riskieren“, beruhige ich ihn und sehe erst jetzt, wovon er spricht. Nicht zu fassen. Um auf den berühmtesten und einen der gefährlichsten Foto-Hotspots der Welt klettern zu können, muss man über ein schräg ins Nichts abfallende Felsplatte gehen. Sie ist geschätzte zwei Meter lang, auf ihrer rechten Seite vom Felsmassiv begrenzt und bietet denjenigen, der es wagt, eine Trittfläche von 30 oder 40 cm. Sollte man auf den schmalen Steg stolpern oder schwanken, fällt man 1084 Meter, um dann auf dem felsigen Ufer des Fjords aufzuschlagen. „Verrückt, einfach verrückt“, geht es mir durch den Kopf. Kein Wunder, das der Franzose so zittert. Jeder, der da rüber klettert, muss wahnsinnig, absolut lebensmüde oder todesmutig sein. „Nicht nachdenken und unter keinen Umständen nach unten sehen“, sage ich mir selbst den ersten Schritt auf den schmalen Pfad der Felsplatte setzend. Sofort fährt mir ein unerträgliches, kaum zu beschreibendes Gefühl in den Körper. Jede meiner Zellen schreit auf. „Nicht nach unten sehen!“, warne ich mich selbst. Der Franzose ist jetzt hinter mir und sieht mir stumm zu. Zweiter Schritt, dritter Schritt, dann ist der Spalt vor mir, auf dessen anderen Seite der Rock eingeklemmt ist. Also ein Spalt auf meiner Seite und einer auf der mir gegenüberliegenden Seite. Dazwischen ist der fünf Kubikmeter große Felsblock, den es jetzt zu betreten gilt. Obwohl der Spalt nur schmal ist, sehe ich im Augenwinkel die Tiefe hochblitzen. „Was für ein Wahnsinn.“ Ich gehe in die Knie, bin nicht im Stande aufrecht den Rock zu betreten, auf dem sich so manch Mutiger oder Verrückter für ein Instagramfoto ablichten lässt. Wie ein Tier kaure ich jetzt auf allen vieren auf dem berühmten Felsen. Mir völlig bewusst, dass es nun in allen Richtungen in nur wenige Zentimeter Abstand 1084 Meter nach unten geht, versagen mir fast die Muskeln und was noch schlimmer ist, sie beginnen unkontrolliert zu zittern. „Wenn sich hier ganz normale untrainierte Menschen ablichten lassen, warum ist es für mich so schwer, meinen Geist unter Kontrolle zu halten, und warum habe ich das Gefühl, als würde mein Körper jeden Augenblick außer Kontrolle geraten?“ „Geht mal auf die Seite! Ihr ruiniert das Bild!“, ruft der Engländer, der beim Aufstieg Ajaci Komplimente machte. „Ihr müsst ein paar Meter auf die Seite treten!“, ruft er erneut, weil irgendjemand neben dem Rock auf dem Plateau steht. „Danke!“, höre ich Tanja rufen, die das Foto schießt, für das ich mich zweifelsohne in Gefahr begebe. Als ehemaliger Ausbilder einer Eliteeinheit, als Fallschirmspringer, Paraglider-Pilot und nach all den teils hochgefährlichen Abenteuern und Expeditionen, die wir in unserem spannenden Leben durchgezogen haben, bin ich überrascht, das mir das Ding hier zu schaffen macht. „Hat der Franzose mich mit seiner Angst angesteckt? Nimmt man die Energie des anderen an?“, wirbeln meine Gedanken durcheinander. „Verrückt, einfach verrückt“, geht es mir weiter durch den Kopf, als ich mich aus meiner Krabbelstellung langsam erhebe. Meine Knie schlottern. Keiner merkt es, aber ich spüre es. Dann stehe ich. Ein einziger Windstoß würde mich hier runterblasen. Zum Glück ist gutes Wetter. „Mach das Foto!“, brülle ich. Tanja steht dort unten scheinbar seelenruhig und versucht wieder einen von den Idioten, die sich im Bild befinden, zu bitten, ein paar Schritte zurückzutreten. „Mir egal! Mach das Foto!“, rufe ich an nichts anderes denkend, als diesen Scheiß Felsen sofort wieder zu verlassen. Dann hebe ich meine Arme und meine damit eine große Leistung zu vollbringen, obwohl mir bewusst ist, dass der eine oder andere Furchtlose für ein gutes Foto auf diesem Felsen sogar noch in die Höhe springt. Tanja zeigt mir das Thumbs Up Zeichen. Mit hoher Konzentration drehe ich meinen Körper um 90 Grad, hebe meinen Fuß, steige über den Spalt auf den schmalen Steg der Felsplatte, Schritt eins, zwei, drei und dann bin ich wieder auf sicheren Boden. „Absolut verrückt“, schießt es mir wieder und wieder durch den Kopf. „Ist was dabei?“, frage ich wieder bei Tanja angelangt. „Weiß noch nicht“, antwortet sie die Bilder in der Kamera ansehend. „Ich hoffe, denn da bringt mich so schnell nichts mehr rauf. Bin noch immer ganz aufgewühlt. Ist eine abgefahrene Erfahrung und ich denke, du solltest nicht auf den Felsen klettern. Ist definitiv zu gefährlich“, sage ich und erzähle, was ich dort oben gefühlt und erlebt habe.

Wir setzen uns auf das Plateau neben dem Rock und Vespern. Auch Ajaci bekommt seine verdiente Mahlzeit. „Ich verstehe nicht, dass die norwegische Regierung das zulässt“, beginne ich meinen Gedanken freien Lauf zu lassen. „Wie meinst du das?“ „Na in diesem Land ist viel verboten und alles irgendwie reguliert. Und auf der anderen Seite darf jeder, der möchte, auf diesen Monolith klettern. Nur um in ihrem Instagram Account etwas Besonderes zeigen zu können, riskieren sie Kopf und Kragen. Das ist doch der pure Wahnsinn. Ja ich weiß, ich war auch da drauf. Vielleicht motiviert durch den ganzen Fotohyphe. Irgendwie finde ich die Situation dekadent und fast ein wenig abstoßend. Man muss aufpassen, von dem ganzen Schwachsinn nicht angesteckt zu werden. Durch unseren extremen Überkonsum und weil wir alles wegwerfen und nicht mehr reparieren lassen können, geht genau in diesem Augenblick unser Planet kaputt. Auf der anderen Seite gibt es die neu erwachten Naturliebhaber, die die letzten schönen Flecken auf der Erde auf ihren Accounts bewerben, um sich selbst einen Vorteil zu verschaffen. Und dann stehen wir hier oben, machen so ein verrücktes Foto, nur um letztendlich noch mehr Menschen anzustecken, das Gleiche zu tun. Eine verrückte Welt, in der wir alle miteinander gefangen sind. Es fühlt sich so ausweglos an. Ist fast ein wenig zum Verzweifeln“, sage ich auf den 1084 Meter unter uns liegenden Lysefjord zu blicken. „Denke, die gerade gemachte Erfahrung auf dem Monolith, hat deine Gedanken angeregt. Du hast mit dem, was du sagts, zweifelsohne recht, aber jetzt verderbe dir nicht die Stimmung an diesem einmaligen Ort“, antwortet Tanja. „Hm, sicherlich, ist womöglich nicht der richtige Flecken Erde, um über die Welt und ihre verrückten Bewohner zu diskutieren, jedoch… vielleicht ist gerade im Hier und Jetzt der passende Augenblick. Nach meiner Recherche starben zwischen 2011 und November 2017 ungefähr 259 Menschen durch Selfies. Im gleichen Zeitraum etwa 50 Menschen durch Haiattacken. Stell dir das mal vor. Sie starben, weil sie sich auf so einen Monolith wie diesen hier gestellt haben“, sage ich noch immer etwas aufgeregt auf den Felsblock deutend, der nur 10 Meter neben uns zwischen den Felswänden verkeilt ist. „Nicht zu fassen. Schau dir das an!“, ruft Tanja. Bestürzt springe ich auf und schaue auf die Felskugel, auf der genau in diesem Augenblick eine junge Inderin sitzt. Das wäre ja nicht so wahnsinnig außergewöhnlich, nur das sie splitternackt vor der Kamera ihrer Freundin posiert. „Wie weit will es der Mensch noch treiben? Wo ist das Ende? Sex verkauft sich gut und das auf dem Kjeragbolten. Siehst du, genau das meine ich“, setze ich unsere Unterhaltung fort. „Da lässt sich eine untrainierte junge Frau auf so einer gefährlichen Location ablichten, nur damit sie ein paar Likes oder Gefällt mir bekommt. Das ist doch nicht normal. Noch vor ein paar Jahren haben sich die Menschen in verwackelten, unscharfen Bildern fotografiert. Dabei war es egal, ob die Aufnahmen über oder unterbelichtet waren und heute wollen viele den absoluten Superschuss produzieren und dabei scheint es egal zu sein, ob man sich als Frau vor all den Leuten hier nackt auszieht, um sich dann noch vor der ganzen Welt zu präsentieren. Einfach verrückt, wirklich verrückt.“

„Kannst du mir das Foto schicken“, sagt die Inderin, die gerade noch nackt auf dem Felsen war und sich als Norwegerin outet. „Gerne“, antwortet Tanja, die sie fotografiert hatte. „Ich wollte es den Männern mal zeigen“, erklärt sie, während wir die Telefonnummern austauschen. „Wie meinst du das?“, möchte Tanja wissen. „Auf dem Kjeragbolten haben sich mittlerweile so viele Männer nackt ablichten lassen, da wollte ich als Frau mal dagegen anstinken. Was die Männer können, können wir Frauen auch.“

16:30 Uhr verrät ein Blick auf die Uhr. Um nicht in die Dunkelheit zu gelangen, brechen wir auf. Wir nehmen den kleinen Umweg, den uns der Henrik, der Parkplatzchef empfohlen hat. „Unfassbar“, sage ich andächtig, als wir dicht am Felsabgrund liegen und tausend Meter unter uns auf den Lysefjord blicken. Der Anblick ist fraglos einer der schönsten und spektakulärsten unseres gesamten Reiselebens. Ein Schiff oder Fähre bahnt sich in diesem Augenblick den Weg durch den Fjord und zieht sanfte Wellen hinter sich her, die sich wie ein V ausbreiten, nur um Minuten nach ihrer Entstehung gegen die Klippen schlagen und sterben. Minutenlang liegen wir da und sehen in die berauschende Tiefe. Ajaci scheint sich des ausgewöhnlichen Moments bewusst zu sein, denn er liegt zwischen uns, sieht ebenfalls nach unten und gibt keinen Laut von sich. „Hier springen die Basejumper runter“, sage ich. „Verrückt“, antwortet Tanja. „Ja, das ist es. Angeblich sind von hier oben schon 53.000 Sprünge absolviert worden. Dabei hat es bisher 136 Unfälle gegeben und 12 Springer haben für diesen Kick ihr Leben gegeben. Als ich 22 Jahre alt war, wollte mein damaliger Freund Wolfgang und ich auch hierherkommen, um da runter zu springen. Aus irgendeinem Grund haben wir es nie in die Tat umgesetzt“, sage ich in Gedanken an die damalige Zeit. „Gut, dass ihr es nie in die Tat umgesetzt habt“, flüstert Tanja. „Ja gut“, sage ich.

Auf den Weg nach unten treffen wir wieder auf den Engländer. „Gehört das Expeditionsfahrzeug dort unten auf dem Parkplatz euch?“, fragt er vor mir herlaufend. „Ja.“ „Ich habe mir in Deutschland ein altes Feuerwehrauto gekauft und bin gerade dabei, es als Expeditionsfahrzeug umzubauen“, erzählt er. „Na, dann wünsche ich dir viel Energie und Ausdauer“, sage ich. „Ja, das brauche ich wohl“, antwortet er und beginnt mich über unser bimobil auszufragen. Im Gespräch vertieft kommen wir vom Weg ab, was in diesem Gebirge nicht gut ist. „Wo ist eigentlich der Weg?“, fragt Tanja. Wir bleiben stehen und schauen uns um. „Wir müssen nach rechts“, bin ich mir sicher, worauf wir in die angegeben Richtung laufen. Plötzlich versperren uns Spalten und Gletscherzungen den Weg. „Wir müssen umkehren“, sagt der Engländer, weswegen wir den Berg wieder ein Stück nach oben klettern. Unerwartet tut sich eine Spalte vor uns auf. „Kann euer Hund da drüber springen?“, fragt der Mann. „Hm, bestimmt, aber er könnte auch abrutschen und da reinfallen“, meine ich. „Na, dann sehen wir uns später wieder. Ich muss zu meinen Freunden aufschließen“, sagt er, springt über den Felsspalt und läuft davon. Tanja und ich sehen uns überrascht an. „Jetzt hat er dich die ganze Zeit über den Autobau ausgefragt und dann verschwindet er einfach“, wundert sie sich. „Egal, wir finden auch ohne ihn zurück zum Weg“, antworte ich und spüre eine leichte Nervosität in mir aufsteigen. Konzentriert studiere ich das Felsmassiv vor mir. „Jetzt keine Fehler machen“, geht es mir durch den Kopf. Ich schreite voran, lese den Fels und den Verlauf der Spalten, nur um ein paar Hundert Meter weiter vor einem noch größeren Felsbruch zu stehen. „Wir müssen da rauf“, entscheide ich nach oben deutend. Dann versuchen wir einen neuen Anlauf. „Vielleicht sollten wir wieder zu unserem Ausgangspunkt zurück?“, überlegt Tanja. „Ich hoffe nicht“, sage ich auf die Uhr blickend. Die Sonne rutscht immer tiefer, nimmt ihr grelles Tageslicht Stück für Stück mit. „Wenn wir hier vor der Dunkelheit nicht herauskommen, wird diese Wanderung lebensgefährlich“, schießt ein alarmierender Gedanke durch meine Gehirnwindungen. Ich versuche, meine Nervosität unter Kontrolle zu halten, laufe ein Stück zurück, um eine andere Passage zu suchen. Links von uns geht es für geschätzte 800 Meter in Tiefe, rechts von uns tauchen immer mehr Schneefelder und tiefe Felsspalten auf. „Kann das wahr sein?“ Ich mache mir Vorwürfe, wegen eines belanglosen Gespräches nicht mehr auf den Weg geachtet zu haben und uns dadurch in diese missliche Lage gebracht zu haben. „So ein Scheiß!“, fluche ich vor mich hin. Unter uns entdecke ich eine weitere Schneezunge. Ich umgehe sie in Richtung Abgrund, weil sich da eine Möglichkeit abzeichnet. Das Dumme ist nur, das hinter jeder vermeintlichen Möglichkeit eine Barriere lauert, die vorher nicht einsehbar war. Ich eile voraus, klettere in eine Spalte, lasse ein Schneefeld links liegen und entdecke einen vielversprechenden Durchgang, der uns nach oben führt. „Das sieht gut aus!“, rufe ich. Oben angelangt sehe ich in der Ferne ein bei Wanderer. 10 Minuten später sind wir wieder auf dem Track. Ohne viel Worte zu verlieren, setzen wir unseren Abstieg fort. Mittlerweile scheinen wir die Letzten zu sein. Tanja läuft mit Ajaci voran. Sie bewegen sich wie zwei Gazellen, während ich mich, um meine Knie zu entlasten, rückwärts an den Eisenketten herunterlasse.

7 Stunden nach unserem Aufstieg erreichen wir sicher, unversehrt und glücklich den Parkplatz. Henrik ist noch da. „Können wir mit der Fähre vom Tal aus nach Stavanger fahren?“, frage ich, weil das der einfachste und schönste Weg aus dem Gebirge wäre. „Leider nein. Seit einer Woche gibt es nur noch Fähren für Pkws. Mit eurem Truck müsst ihr außenrum durch das Gebirge fahren.“ „Okay, dann danke für die tollen Infos und Gespräche. Wir wünschen dir weiterhin ein gutes Leben“, verabschiede ich mich. „Das wünsche ich euch auch. Vor allem noch viele fantastische Abenteuer und Gesundheit.“ „Danke dir Henrik“, ruft Tanja. Dann fahren wir die enge und einspurige Passstraße wieder in die Höhe. Serpentine für Serpentine. Die Sonne ist über der außergewöhnlich schönen Berglandschaft bereist untergegangen. Vorsichtig lenke ich die Terra nach oben und unten. An manchen Kehren in Schrittgeschwindigkeit. Das Gebirge hinter uns gelassen finden wir am Ufer eines Sees um 21:00 Uhr einen Platz für die Nacht. Ich drehe den Zündschlüssel. Der Motor erstirbt. Müde, geschafft und von diesem erlebnisreichen, spannenden und inspirierenden Tag erfüllt, kriechen wir ins Bett und fallen in einen tiefen, erholsamen Schlaf…

 

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