Legendäre Bahnstrecke am heiligen Meer
N 51°52'00.0'' E 104°47'00.0''Tag: 67-68
Sonnenaufgang:
06:56 – 06:58 Uhr
Sonnenuntergang:
21:16 – 21:14 Uhr
Luftlinie:
62.5 Km
Tageskilometer:
198 Km
Gesamtkilometer:
12956.86 Km
Bodenbeschaffenheit:
Schiene
Temperatur – Tag (Maximum):
25 °C
Temperatur – Tag (Minimum):
20 °C
Temperatur – Nacht:
8 °C
Breitengrad:
51°52’00.0“
Längengrad:
104°47’00.0“
Maximale Höhe:
700 m über dem Meer
Maximale Tiefe:
455 m über dem Meer
“Die goldene Fibel auf dem Stahlgürtel Russlands”, “Die Heldentat eingeprägt in Stein”; “Eines der technischen Weltwunder des zwanzigsten Jahrhunderts”, “Die Legende der Transib”, “Das Museum der Ingenieurskunst”, “Die Transsibirische Sackstrecke”, so wird in einer Broschüre der alte Bahnweg an der Küste des heiligen Meeres, liebevoll die Krugobaikalka genannt, beschrieben. “Das müssen wir unbedingt sehen”, sage ich begeistert. Da die Tour mit der alten Dampflok zwei Tage und zwei Nächte dauern soll, fragen wir uns ob wir dafür noch genügend Zeit haben. “Wann läuft unser Visum für Russland aus?”, überlegt Tanja. “Wir müssen am 13. Oktober raus. Das heißt wir haben noch drei Wochen”, antworte ich. “Und wie weit ist es noch bis zur Russisch- Mongolischen Grenze?” “Von Irkutsk ca. 700 Km. Wenn wir wie geplant den 150 Kilometer langen Gebirgsabschnitt zwischen Irkutsk und dem Städtchen Baikalsk mit der Eisenbahn überwinden, gewinnen wir etwas Zeit. Diese Tage können wir für die Dampflokfahrt einsetzen. Das würde bedeuten den Baikal noch mal richtig genießen zu dürfen und ein echtes Highlight zu erleben”, grüble ich.
Nachdem wir uns entschieden haben diese Tour zu unternehmen müssen wir feststellen, dass keiner genau weiß wo sie zu buchen ist und wann genau der Zug Irkutsk verlässt. In unserem Hotel bemüht sich eine hilfsbereite Empfangsfrau die richtigen Informationen herauszufinden und nach vielen Telefonaten ist sie tatsächlich erfolgreich. “Die Baikalbahn ist fast ausgebucht. Es gibt nur noch zwei Tickets”, sagt sie. “Das ist ja wunderbar. Zwei reichen uns völlig”, antworte ich lachend. “Leider befinden sich die Plätze in unterschiedlichen Abteilen. Sie müssten also getrennt sitzen und schlafen”, hören wir den Wermutstropfen. “Wer weiß ob wir noch einmal in unserem Reiseleben nach Sibirien kommen um mit einer alten Dampflok am Baikal entlangzufahren? Diese Chance ist also einmalig”, meine ich, weshalb wir die Fahrkarten trotz getrennter Abteile reservieren lassen. Da es nicht einfach ist am Bahnhof den richtigen Schalter zu finden und wir noch dazu die Billette für die spätere Weiterfahrt von Irkutsk nach Baikalsk benötigen, lassen wir sie gegen einen kleinen Aufpreis von einem Hotelboten kaufen. Dadurch, dass wir nun nicht mit dem Bus zum Bahnhof müssen, nutzen wir die gewonnene Zeit für unsere Arbeit. Tanja sucht ein Internetcafe, während ich mich ins Zimmer zurückziehe, um unsere Erlebnisse festzuhalten.
“Ja?”, melde ich mich am Zimmertelefon welches meinen Gedankenfluss unterbrochen hat. “Ich hatte leider die falsche Information bekommen. Die Baikalbahn fährt nicht am Freitagmorgen sondern erst abends um 22:00 Uhr”, sagt die Dame von der Rezeption. “Hm, seltsame Zeit. Aber vielen Dank für die Info”, antworte ich und bin schon im Begriff den Hörer wieder auf die Gabel zu legen als mich die Frauenstimme stoppt. “Zu meinem Bedauern habe ich noch eine schlechte Nachricht. Auf ihrer Bahnfahrt von Irkutsk nach Baikalsk sind keine Räder im Zug erlaubt.” “Was? Das kann doch nicht sein. Sie sagten doch das es keine Probleme gibt die Räder in die Eisenbahn zu laden”, entgegne ich jetzt erschrocken. “Tut mir leid. Sie müssten ihre Fahrräder schon einen Tag früher zum Bahnhof bringen. Dort wird man sie gegen einen Aufpreis in einen anderen Zug verladen. Sie können sie später in Baikals abholen”, vernehme ich und spüre wie mein Bauchgefühle laute Alarmzeichen sendet. Unabhängig davon, dass wir unsere vielen Radtaschen und Anhänger ohne unsere Zugmaschinen gar nicht von A nach B transportieren können, ergibt es auf der kurzen Strecke von ca. 150 Km keinen Sinn solch ein, mit hoher Wahrscheinlichkeit, unsicheres Mammutprojekt einzuleiten. “Dann bitte ich sie die Tickets wieder umzutauschen”, antworte ich. Im Laufe der nächsten Stunden stellt sich heraus, dass die russische Bahn 60 % Bearbeitungsgebühren für die Stornierung verlangt. Abzüglich des Preises für den erneuten Hotelpagen bleiben uns von 1.000,- Rubel (22,72 Euro) Ticketkosten 100,- Rubel. (2,27 Euro). “Wer weiß wovor uns diese Stornierung bewahrt?”, geht es mir durchs Gehirn. Vielleicht die bessere Möglichkeit solche unvorhergesehenen Missgeschicke zu betrachten als sich grün und blau zu ärgern.
Die Zeit vergeht mit weiterer Organisationsarbeit. Wegen den hohen Hotelkosten suchen wir für die kommenden zwei Tage bis zur Abfahrt der Baikalbahn eine günstigere Gastiniza. Wir erfahren das Irkutsk neben Moskau und Sankt Petersburg zu den teuersten Städten Russlands gehört. Vielleicht ist das der Grund warum man von uns bei einer Privatunterkunft 1.000 Rubel (22,72 Euro) pro Tag nur dafür verlangt, um unsere Räder während der Baikalbahnfahrt sicher unterzustellen. “Wissen sie. Ich kann mein Zimmer immer für 1.600 Rubel am Tag vermieten. Also muss ich von ihnen während ihrer Abwesenheit zumindest die 1.000 Rubel verrechnen”, ist die Erklärung der Vermieterin. Wir entscheiden uns im Hotel zu bleiben. Dort dürfen wir unsere Radlermägen mit einem leckeren Frühstücksbuffet verwöhnen, man verlangt nichts für die Räder, spricht Englisch und es ist noch dazu ein guter Ort um alles Weitere zu organisieren.
Ich tippe gerade die letzten Zeilen in den Itronix als mir urplötzlich schlecht wird. Mit letzter Kraft schaffe ich es noch unsere Geschichten in den Satellitenhimmel zu schicken. Dann lasse ich mich erschöpft ins Bett sinken. “Was ist den los?”, fragt Tanja. “Ich glaube die Bakterie, die auf der Insel Olchon Simone, Leonid und ihre Gäste anfiel, hat mich jetzt auch erwischt.” “Meinst du wirklich?” “Zweifelsohne. Mir ist speiübel. Ich sehe schwarz für die schöne Fahrt mit der Dampflok”, jammere ich unter den ersten Anfällen, Schwindel, Schüttelfrost, Kopfschmerzen, Blähungen und Brechreiz, zu leiden. “Wir fahren erst morgen Abend. Bis dahin hast du dich bestimmt erholt”, höre ich Tanjas tröstenden Worte. “Woher nimmt sie nur immer diese Zuversicht?”, geht es mir durch den Kopf und bitte sie für den Fall der Fälle das Ortliebfaltbecken neben das Bett zu stellen.
Nach einer schrecklichen Nacht blicke am nächsten Morgen in einen völlig verregneten Himmel. “Wie geht es dir?” “Hm, ein bisschen besser. Der ständige Brechreiz und die Bauchkrämpfe sind zumindest weg”, antworte ich kleinlaut. “Ich schlage vor wir verlängern den Zimmeraufenthalt bis heute Abend. Dann kannst du noch so lange im Bett liegen bleiben und dich erholen”, sagt sie und macht sich auf den Weg zur Rezeption.
Um 19:00 Uhr fahren wir mit dem Bus zum Bahnhof. Obwohl ich mich noch ein wenig schwach fühle hoffe ich die gemeinen Bakterien aus meinem Körper getrieben zu haben. An der großen, elektronischen Anzeigetafel entdecken wir unsere Baikalbahn. Gebannt warten wir darauf bis die Anzeige die Gleisnummer angibt. Ein Mädchen in netter Uniform nimmt unser Ticket entgegen und zeigt uns lachend die Waggongnummer. Dann betreten wir den hübsch eingerichteten Touristenzug. Obwohl Tanja und ich nicht im gleichen Abteil sitzen haben wir Glück denn sie befinden sich direkt nebeneinander. Kaum habe ich mich auf der sauberen Sitzbank niedergelassen betreten zwei junge, hübsche Russinnen und eine ältere Frau mein Kupee. Im ersten Augenblick wirken sie erschrocken, denn sie haben bestimmt nicht daran Gedacht die nächsten Reisetage mit einem deutschen Radfahrer verbringen zu dürfen. Jedoch bricht das Eis schnell. Mutter Natascha, die 28 jährige Larissa und die 20 jährige Tatjana sind äußerst freundlich und zuvorkommend. Tanja hat mit ihren Reisegefährden auch Glück. Sie teilt sich das Zugabteil mit Mutter Katja, der 13 jährigen Tochter Nadja, und dem ebenfalls 13 jährigen Neffen Jenya.
Pünktlich um 22:00 Uhr setzt sich der Zug in Richtung dem Städtchen Sljudjanka in Bewegung, wo wir die Nacht in unseren Kojen verbringen. Bewegung gerät in die Reisenden. Jeder muss sich sein Bett mit frischem Bettzeug selbst überziehen. Aus Höflichkeit verlasse ich mein Abteil. So können sich die jungen Damen mit ihrer Mutter für die Nacht fertig machen.
Später liegen wir in unseren Stockbetten. Laute russische Musik dröhnt aus den Boxen und weil man das Abteilfenster nicht öffnen kann ist es sehr warm. Die hübsche blonde Tatjana liegt neben mir in ihrem Zugbett und schwitzt. “Meinst du man kann den Lautsprecher irgendwo abschalten?”, fragt sie. “Keine Ahnung”, antworte ich und beginnen die Wände abzusuchen. “Ah, hier ist ein Knopf”, rufe ich freudig. Jetzt hämmert die Musik nur noch vom Zuggang in unser Abteil. Wegen der Hitze lassen wir die Tür offen. “Die anderen Touristen werden uns schon nichts klauen”, denke ich zur Decke starrend. Als plötzlich Mutter Natascha laut zu schnarchen beginnt ist an Schlaf nicht mehr zu denken. In meinem Bauch brummelt es leicht. Wahrscheinlich werden die letzten Bakterien von der Magensäure vernichtet.
Es ist 7:00 Uhr am Morgen als ich mich aufrichte. Mutter Natascha fällt noch immer die Wälder Sibiriens. Ich lasse mich langsam von meinem Stockbett nach unten gleiten und begebe mich zur Zugtoilette, um mich frisch zu machen. Dann verlasse ich den Waggong. Die kühle Morgenluft und der klare Blick auf das heilige Meer vertreibt meine Müdigkeit. Neugierig laufe ich nach vorne. Tatsächlich haben sie heute Nacht in dem Örtchen Kultuk, welches sich am Ufer des Baikals befindet, zwei alte Dampfloks vor die Waggongs gehängt. Schnaufend und rauchend stehen sie vor einem gähnenden Tunnel. Fasziniert betrachte ich mir die eisernen Gefährde aus längst vergessener Zeit. Noch nie in meinem Leben hatte ich das Vergnügen mit solch betagten Dampfmaschinen reisen zu dürfen. Ich knie mich vor dem riesigen Kessel ab um ein paar Fotos zu schießen. Es kluckert und zischt leise im Kessel als wollte mir die alte Dame etwas erzählen. Erst jetzt verstehe ich warum Eisenbahnfans davon berichten, dass so eine Dampflok wie eine Kreatur zu betrachten ist. Manche sprechen sogar davon, dass Dampfloks mit Leben beseelt sind.
Um 8:00 Uhr schließen wir uns einer Führung für die Fahrgäste an. Der Reiseleiter spricht nur Russisch. Erst jetzt bemerken wir, dass es außer uns keinen einzigen europäischen Reisenden an Board gibt. Durch viel Mühe und Durchhaltevermögen haben wir es fertig gebracht uns hier auf eine anscheinend ganz besondere Tour einzubuchen. Die meisten ausländischen Gäste fahren mit dem elektrisch angetriebenen Zug, der die Strecke allerdings ohne Stopps in einem einzigen Tag bewältigt. Wir sind also froh hier viel Zeit zur Verfügung zu haben und mit den einheimischen Touristen durch die historischen Tunnel zu wandern. Meine Bettnachbarin Tatjana ist der einzige Englischsprechende Fahrgast. Sie übersetzt für uns die eine oder andere Erklärung des Reiseführers. So hören wir davon, dass der Bau der Transib 1899 von Osten her die Station Mysowaja, die heutige Stadt Babuschkin, am Baikal erreichte. Im Jahre 1900 zog sich die Bahnlinie vom Westen her bis zum Abfluss des Baikals, der Angara. So war es nun zum ersten Mal möglich nahezu ganz Russland mit der Bahn zu durchqueren. Allerdings fehlte noch die Verbindung der östlichen und westlichen Strecke. Das hohe Gebirge und der Baikal waren die Hindernisse die bautechnisch kaum zu bewältigen waren. Um die fehlende Lücke zu schließen ließ man von einer englischen Schiffsbaugesellschaft einen monströsen Dampfer konstruieren der in der Lage war 27 Waggongs zu fassen. Bis zur Fertigstellung der teuersten und wichtigsten Streckenverbindung der Transsibirischen Eisenbahn, entlang des Baikalufers, wurde der gesamte Güterverkehr zwischen der West und Oststrecke über den Baikal geschippert. Im Winter lud man alle Güter auf von Pferden gezogenen Schlitten, um sie auf die andere Seite des Sees zu transportieren. Im extrem kalten Winter von 1904, während des Krieges mit Japan, wagte man das Unglaubliche und verlegte sogar Schienen auf den zugefrorenen See. Anstatt der schweren Dampfloks setzte man wieder Pferde als Zugmaschinen ein. Sie zogen nun ganze Waggongs vom Ost- bis zum Westufer.
Ein ohrenbetäubendes Pfeifen der Dampflok fordert alle Fahrgäste auf sich umgehend in die Waggongs zu begeben. Es dauert nicht lange und der eiserne Koloss setzt sich unter lautem Schnaufen und ausstoßenden weißer Dampfwolken in Bewegung. Mit ca. 20 bis 30 Km/h rattern wir nun langsam direkt an der Steilküste des Baikals entlang. Erst jetzt begreife ich warum man hier von einem technischen Weltwunder der Ingenieurskunst spricht. 28 Bahnspezialisten aus der ganzen Welt wurden engagiert, um zwischen 1902 und 1905 diese wichtige Verbindungsstrecke zu erbauen. Die Ingenieure brachten oftmals ihre eigenen Bautrupps mit nach Sibirien. Sie kamen aus Italien, Albanien, Griechenland, der Türkei, Österreich, Japan, China und vereinzelt auch aus Deutschland. Angeblich hat die damalige Regierung auch Zwangsarbeiter und Verbannte mit hinzugezogen, um diesen kostenintensiven Streckenabschnitt so schnell als möglich fertig stellen zu können. Gedankenversunken sitze ich am Fenster dieser schönen Touristenbahn und denke über die damalige Zeit nach. Darüber, wie Sprengarbeiten und Tunnelbauten, Steinschlag und Erdrutsche, das extrem harte Alltagsleben, die fehlende medizinische Versorgung, die Missachtung der elementaren sanitären Bedingungen, dafür verantwortlich waren, dass hier viele Menschen ihr Leben lassen mussten. Wie viele Menschen hier umkamen und in den Tälern und an der Küste des Baikals begraben liegen weiß heute keiner mehr. Ich blicke nach unten auf das von Felsen zerklüftete Steilufer, welches bezeichnender Weise auch “das längste Grab” genannt wird. Alle hier am Bau Beteiligten fristeten ihr Leben unter äußerst harten Bedingungen. Selbst Fachleute wohnten in einfachen Baracken. Die Arbeiter sogar in Laub und Erdhütten. Selbst nach der Fertigstellung blieb dieser Streckenabschnitt eine Schwachstelle der gesamten Transsibirischen Eisenbahn und bedeutete ein unsicheres Nadelöhr. Durch Steinschlag verursachte Zugunglücke oder das Abrutschen des gesamten Untergrunds waren an der Tagesordnung. Schon 1920 betrachtete man diese Strecke als ein Provisorium und plante eine sichere Alternativroute.
Ich frage mich was sich im Laufe der Zeit geändert haben soll? Wenn der Streckenabschnitt schon damals wegen der hohen Unfallgefahr geschlossen wurde, warum hat man ihn dann für den Tourismus wieder aktiviert? Ist er heute sicherer als damals? Meine Gedanken wieder verwerfend bewundere ich diesen atemberaubenden Blick auf das heilige Meer. Es waren ausschließlich wirtschaftliche und militärische Gründe warum hier mit Dynamit und der Kraft von tausenden von Arbeitern einen Weg in das bröckelige Felsmassiv geschlagen wurde und jetzt dürfen wir als Reisende die Nutznießer sein. “Vermessen. Einfach unglaublich”, geht es mir durch den Kopf. Noch immer sind die Förderbrücken, Viadukte, Rohre, Galerien und hohen Stützwände zu sehen. Viele der Dienstgebäude sind völlig verfallen. Teilweise nur noch zu erahnen, doch immer wieder treffen unsere Augen auf eines der ehemaligen Passagiergebäude, Vorsteherhaus, Wächterhäuschen und einfachen, vom Zahn der Zeit halb aufgefressenen, Holzhütten. Einer der 40 Tunnel verschluckt uns, saugt uns in seine Finsternis hinein. Eisige Kälte des sibirischen Winters hat sich darin versteckt. Wasser tropft aus den Spalten und rinnt am Fenster entlang. Als die eiserne Schlange wieder in die traumhafte Natur stampft stößt sie schwarzen Rauch in den Himmel. Er verliert sich in den steilen, von Wäldern bewachsenen, Berghängen. Gebirgsbäche werden in Rohren und gemauerten Gräben umgeleitet. Es geht vorbei an verwaisten Fundamenten, abgerissenen Gebäuden. Traurige und einzelne Pappeln, die vor über hundert Jahren von den Arbeitern gepflanzt wurden, scheinen uns zu grüßen. Duftende Blüten verzaubern die Luft. Möwen nisten in den Felsen, fliegen aufgeschreckt davon als sich unser eisernes, schwarzes Ross zischend nähert. Raubvögel gleiten am Seeufer entlang, immer auf der suche nach Beute. Ich glaube das Rauschen und Murmeln der Wellen des uralten Sees zu vernehmen. Mit jedem Kilometer weiter steigt meine Faszination für dieses Land. Ich fühle den Puls des Baikals, vernehme seinen Herzschlag, seine unbändige Kraft und Ausstrahlung. Meine Augen verlieren sich in seiner Klarheit, in seinen Blautönen. Es ist für mich heute nur noch schwer vorstellbar, dass dieser Bahnbau einmal einer der größten ökologischen Eingriffe in der Geschichte des Baikals war.
Die Dampflok legt einen längeren Stopp in Port Baykal ein. Von hier haben sich die alten Gleise in Richtung Westen gezogen. Seit 1956 die Ufer und damit die Bahnstrecke im Wasser des Irkutsker Stausee versunken sind, ist diese Strecke eine Sackgasse. Seit dieser Zeit gab es hier keinen Güter und Personenverkehr mehr. Wir nutzen die Pause, um den nahen alten Leuchtturm zu besuchen, strecken unsere Füße ins kalte Wasser, besuchen das kleine Museum und sehen der Volkloregruppe zu, die für die Bahntouristen tanzen.
Bebende Geräusche
Mit einem lauten Pfeifen fordert uns der Lokführer nach 1 ½ Stunden wieder auf seine eiserne Schlange zu besteigen. Unter lautem Kreischen und Stöhnen setzen die zehn großen Räder, die über eine Kuppelstange mit der Treibachse verbunden sind, den schwarzen Giganten wieder in Bewegung. Am Abend erreichen wir das Örtchen Ulanovo. Wieder folgen wir einer Führung zu einem besonders langen, von den Italienern erbauten Tunnel. Der Reiseführer erklärt gerade inbrünstig und voller Elan über die damaligen Geschehnisse als ich ein eigenartiges Geräusch vernehme. Da keiner außer mir sich verwundert zeigt, bleibe ich erstmal ruhig, jedoch wird das leise Beben stärker. “Oh Gott! Der elektrische Zug! Runter von den Gleisen. Achtung, alle sofort runter! Der Zug kommt! Der Zug!”, brüllt der Mann bald entsetzt. Die Touristen scheinen seine Warnung nicht richtig ernst zu nehmen und gehen im Schneckentempo auf die Seite. Noch immer kommen aber auf den Gleisen vereinzelnde Fahrgäste zum Tunnel gelaufen. Sie reagieren nicht auf die Warnrufe des Reisführers. “Der Zug! Der Zug kommt! Los runter mit euch!”, brüllt er und fuchtelt mit den Händen in der Luft als auch schon die elektrisch angetriebene Lok aus dem schwarzen Tunnel kreischt. Erst jetzt bemerken die Gleiswanderer die Gefahr und hüpfen im letzten Moment von den Schienen. Nichts passiert. Gott sei Dank. Ich bin verwundert über die lockeren Sicherheitsbestimmungen. Klar, auch die elektrisch angetriebene Bahn kann hier nicht all zu schnell fahren, aber da alle vor dem gähnenden Loch des Tunnels standen war die Reaktionszeit stark verkürzt. Kaum ist der moderne Kollege unserer betagten Dampflok vorbeigedonnert, führt der Mann seine Erzählung fort. Weil Tatjana nicht zum übersetzen da ist und wir deswegen kaum etwas verstehen wandern wir auf dem einzig möglichen Weg, den Schienen, weiter und erkunden den Küstenabschnitt. Nahezu grundsätzlich fehlen alle Geländer und Absperrungen zur Steilküste. Das Gehen hier erfordert Konzentration. Gras ist zum Teil dicht über Mauerrisse und kleine Felsspalten gewachsen, so dass man bei einem Fehltritt leicht in die Tiefe stürzen kann. Neben uns laufen und springen auch Kinder der Fahrgäste herum. Einige von ihnen unbeaufsichtigt. Es ist davon zu lesen das Touristen bei Wanderungen auf den Gleisen verunglücken. Es sind nicht viele aber jedes Jahr geschehen solche Unfälle. Eine der beliebten Wanderungen am Baikal ist zum Beispiel dieser Streckenabschnitt der Baikalbahn. Das Tourismusministerium empfiehlt sie sogar aber auf eigne Gefahr und nur mit guter Ausrüstung.
Wie vor hundert Jahren
“Komm, das musst du fotografieren”, fordert mich Tanja auf. “Was denn?” “Na schau. Dort am Ufer ist der Lokführer mit seinem Team. Sie scheinen ihr Essen am Campfeuer zu kochen. Sieht doch geradezu unglaublich romantisch aus.” “Stimmt. Na dann lass uns mal fragen ob sie etwas gegen das Fotografieren haben.” “Aber klar dürft ihr Bilder schießen. Macht so viel ihr wollt”, sagt einer von ihnen. Über der Feuerstelle hängen zwei Zehnlitereimer. Einer der Männer rührt mit einem großen Schöpfer im Blecheimer den lecker riechenden Eintopf. Bei genauerer Betrachtung entdecke ich darin verschiedene Fleisch und Wurstsorten, Kartoffeln, Zwiebeln, Tomaten, Karotten, Kräuter usw. Im Eimer nebenan siedet Tee vor sich hin. Der Koch wirft eine Hand voll, gerade gezupfter grüne Blätter, hinein. “Lubit Chai?”, (Mögt ihr einen Tee?” fragt er freundlich. Da wir nicht unhöflich sein wollen lehnen wir ab. “Kommt, trinkt doch einen Tee mit uns”, fordert er uns erneut auf. “Gerne aber nur einen Becher”, antworten wir und setzen uns mit den Männern, die in ihrer Uniform recht offiziell aussehen, an einen einfachen Holztisch. Es beginnt zu regnen. Da wir unter einer großen Plastikplane sitzen, die über ein Holzgerüst gezogen wurde, bleiben wir trocken. Der Rauch des Kochfeuers zieht sich über das gut organisierte Camp der Eisenbahner. Augenblicklich und ohne es geplant zu haben, hat sich die Uhr um hundert Jahre zurückgestellt. Nur unweit hinter uns zischen und brummeln die zwei alten Dampfloks. Weißer Dampf entweicht aus ihren Kesseln in den Abendhimmel und löst sich langsam auf. Vor uns breitet sich der Vater aller Seen in seiner unendlichen Schönheit aus. Die Wellen schlagen gegen das steinige Ufer. Drei Frachtschiffe gleiten langsam an uns vorüber. Die Männer in ihren Eisenbahneruniformen lachen und sprechen über den Tag. Keiner von ihnen trinkt nur einen Tropfen Alkohol. Während der Arbeit scheint das absolut verboten zu sein und da sie wissen welch große Verantwortung sie mit ihrer menschlichen Fracht tragen, halten sie sich ausnahmslos daran. Wir erfahren, das es zwei Teams zu je drei Mann sind die die zwei Dampfloks bedienen. Es dauert nicht lange und man bietet uns zu Essen an. “Wir wollen euch doch nichts wegessen”, lehnen wir ab, worauf die Männer herzhaft lachen. “Es ist genügend da. Stellt euch nicht so an. Diesen Moment gibt es doch nur einmal im Leben. Jeden Moment gibt es nur einmal. Also nehmt ihn so wie er ist und esst mit uns. Bitte”, meint der Mann der hauptsächlich am Kochen ist. Schnell bekommen wir einen Teller mit dem heißen, wohlriechenden, Eintopf serviert. “Kuschet, kuschet”, (“esst, esst”) sagen sie und reichen uns Weiß- und Schwarzbrot. Wir erzählen von unserem Reiseleben und weil wir nichts anderes zu geben haben schenken wir dem Lokführer eine Autogrammkarte. “Oh da möchte ich bitte auch eine”, sagt der andere Lokführer. “Gerne”, antworten wir und reichen jedem der Anwesenden eine Karte, die sie alle signiert haben möchten. “Nach dem Essen werden wir Tee trinken und Karten spielen. Wir würden uns sehr freuen wenn ihr wiederkommt”, laden uns die Helden der Schienen ein. “Wir hatten einen großen Tag. Ich glaube wir ziehen uns zum schlafen zurück”, antworte ich freundlich.
Reges Treiben herrscht vor unserem Waggong der genau gegenüber von einem alten Gebäude steht. Lautsprecherboxen und eine Musikanlage werden unter euphorischen Rufen und Lachen aufgebaut. Als es stockdunkel ist beginnen sich ein paar Diskokugeln zu drehen. Dann tritt die Volkloregruppe wieder auf. Diesmal haben sie sich umgezogen und singen moderne Russische Klassiker. Die Menge jubelt und vom Siebzigjährigen bis zum Dreijährigen wird ausgelassen getanzt. “Die Russen haben eine wunderbare Art zu feiern. Sie sind einfach ungezwungen und frei. Ich glaube nicht das wir in Deutschland so spontan Party machen können”, meint Tanja. “Ach, ich denke schon. Wenn wie hier die nötige Menge an Alkohol fließt, ist bei uns auch der Bär los”, meine ich und sehe wie ein vielleicht fünf Jahre alter Junge sich die Hände in den Mund steckt und einen schrillen Pfiff ertönen lässt als eine weitere Sängerin auf die Bühne kommt.
Gnadenloses abholzen der sibirischen Wälder
Es ist 24:00 Uhr als ich mein Abteil betrete. Geradezu unglaublich lautes Geschnarche und Hitze empfangen mich. Mutter Natascha gibt ihr Bestes, um weiter an der Abholzung der sibirischen Wälder zu arbeiten. Verwundert bin ich das Tatjana und Larissa nicht auf der Party sind, sondern ebenfalls schlafen. Zumindest sieht es bei diesen altraumartigen Bedingungen so aus. “Du kannst meinen MP3-Player haben. Der wird dir beim Einschlafen helfen”, bietet mir Tanja an, nachdem ich klagend vor ihrem Abteil stehe. “Am liebsten würde ich bei euch im Zugabteil schlafen. Oder schnarcht da einer?” “Nein hier ist alles ruhig. Ich habe echt Glück gehabt”, lacht Tanja. Mit hängenden Schultern schlurfe ich wieder zu meinem Schnarchbunker und ziehe mich in mein Stockbett. Draußen tobt die Diskomusik und lässt die Betten erzittern. Das Sägen von Natascha unter mir vereint sich mit den Trommelschlägen die aus den Lautsprechern poltern. Ich schalte den MP3 ein und stelle ihn lauter als normal, denn Nataschas Sägen vermasselt mir ansonsten auch noch meine Musik. Um 1:30 Uhr bin ich noch immer wach. Wegen dem fehlenden Schlaf, verursacht von der kürzlichen Magenverstimmung und dem mangelnden Schlaf, verursacht durch Nataschas gestrigen Schnarchattacken, bin ich am Ende meiner Kräfte. Meine Nerven sind vor einer ernsthaften Belastungsprobe. Ich stecke mir die Kopfhörer wieder in die Ohren und versuche mit der Musik ins Land der Träume zu schreiten. Vergebens. Es ist 2:00 Uhr als ich im eigenen Schweiß gebettet und völlig entnervt nach unten Blicke, um zu sehen was ich mit Natascha anstellen kann, um mich von den Geräuschen zu befreien. Sie liegt auf dem Rücken und stößt mir mit jedem Atemzug einen grauslichen Ton entgegen. “Wie halten das nur Larissa und Tatjana aus? Kein Mensch kann so etwas ertragen. Aber sie scheinen davon unberührt”, denke ich und blicke zu Tatjana hinüber. “Ach sieh mal einer an. Sie hat mit beiden Händen ihr Kissen um die Ohren gewickelt und ihren gesamten Kopf darin vergraben. Also macht es ihr doch etwas aus”, denke ich und bin erleichtert, dass ich mit meinem Leid nicht alleine bin. Um 2:30 Uhr nehme ich erneut die Kopfhörer aus den Ohren. “Das kann doch auf keinen Fall wahr sein?”, blitzt es ärgerlich durch meinen schwitzenden Kopf, denn nun hilft die hübsche Tatjana ihrer Mutter beim absägen der vielen Bäume. Ihre Säge ist zwar um einiges kleiner als die ihrer Mutter aber immerhin. Früh übt sich wer ein Meister werden will. Nun ist das Duett perfekt. Während die eine etwas leiser rasselt wird die andere lauter. “Das ist doch zum Wahnsinnig werden”, fluche ich und begebe mich auf den Gang vor unserem Abteil. Aber auch hier ist kein Platz um sich irgendwo für den Rest der Nacht nieder zu lassen. Es ist 3:00 Uhr am Morgen. Die Disko hat gerade ihren Betrieb eingestellt. Das ist ja schon mal ein Erfolg. Ich sitze vorn über gebeugt auf meiner Pritsche und überleg mit dem restliche noch zur Verfügung stehenden Verstand, wie ich dieser verzweifelten Lage entrinnen kann. “Ahh, das ist es”, durchfährt mich ein Geistesblitz. Ich öffne meinen Toilettenbeutel und finde die Watte, die ich aus einer Gastiniza mitgenommen habe und schon seit Wochen mit mir herumschleppe. Eigentlich wollte ich sie erst vorgestern wegwerfen aber jetzt zerpflücke ich sie, lasse Wasser aus meinem Trinksack darauf träufeln und stopfe mir sie in die Ohren. “Oh jaaa, ist schon viel leiser”, flüstere ich und presse mir noch mehr hinein, bis mir das Zeug links und rechts aus den Ohrmuscheln hängt. Jetzt höre ich nur noch aus weiter Entfernung das Schnarchduett und siehe da es dauert nur wenige Minuten bis mich die Erschöpfung in einen bald ohnmächtigen Schlaf reißt.