Langfinger
N 51°44'41.6'' E 107°17'05.1''Tag: 86
Sonnenaufgang:
07:14 Uhr
Sonnenuntergang:
20:22 Uhr
Luftlinie:
33.66 Km
Tageskilometer:
52.21 Km
Gesamtkilometer:
13691.77 Km
Bodenbeschaffenheit:
Asphalt
Temperatur – Tag (Maximum):
15 °C
Temperatur – Tag (Minimum):
7 °C
Temperatur – Nacht:
2 °C
Breitengrad:
51°44’41.6“
Längengrad:
107°17’05.1“
Maximale Höhe:
564 m über dem Meer
Maximale Tiefe:
500 m über dem Meer
Aufbruchzeit:
10.20 Uhr
Ankunftszeit:
13.00 Uhr
Durchschnittsgeschwindigkeit:
15,83 Km/h
“Ab hier gibt es keine Berge mehr. Freie Fahrt bis nach Ulan Bator”, sagt der Portier unseres Hotels als wir uns verabschieden. “Fantastisch, dann sind wir in spätestens drei Tagen an der Grenze”, antworte ich zufrieden. Mit leichtem Wind im Rücken verlassen wir Ulan-Ude. Dann geht es bei angenehmem Sonnenschein tatsächlich relativ flach über die Bundesstraße dahin. Gegen Mittag erreichen wir das Örtchen Iwolginsk. Weil es von hier nicht mehr weit bis zum größten buddhistischen Kloster der Russischen Förderation ist, suchen wir eine Übernachtungsmöglichkeit gleich hier im Ort. Tatsächlich finden wir ein viel versprechend aussehendes Holzhaus direkt an der Hauptstraße. Während Tanja auf die Räder aufpasst betrete ich den großen Gastraum des Straßencafes. “Jeßt Komnatu?” (“Haben sie ein Zimmer?”), frage ich eine junge Burjatin die gerade aus der Küche kommt. “Jeßt”, antwortet sie freundlich. Nachdem ich darum bitte es mir ansehen zu dürfen soll ich mich einen Augenblick gedulden. Im Stock über mir wird nun eifrig hin und hergelaufen. Wahrscheinlich beginnt sie erst in diesem Moment den Raum zu putzen. Zehn Minuten später darf ich das einfache Zimmer ansehen. Außer vier Betten, ein wackliges altes Nachttischkästchen und vier verschmutzte Wände, werden für 800,- Rubel (18,- Euro) auch noch eine stinkende Toilette und Dusche im selben Stock geboten. “Funktioniert das heiße Wasser?”, frage ich aus Erfahrung. “Aber ja”, höre ich. Als ich wissen möchte wo ich unsere Fahrräder über Nacht abstellen kann, zeigt die Frau auf dem Hof. “Nein das geht nicht. Viel zu gefährlich. Die Räder müssen ins Haus”, entgegne ich. “Im Hof ist es sicher. Wir haben einen Zaun, einen Hund und außerdem ist die gesamte Nacht jemand da”, versucht die Asiatin mich zu überzeugen. “Was ist mit dem Keller? Können sie dort rein?”, möchte ich wissen und zeige auf eine völlig verdreckte Treppe die nach unten zu einer offen stehenden Tür führt. “Dort dürfen sie ihre Räder auch rein stellen”, meint sie. Als ich frage ob die Tür nachts abgesperrt wird bekomme ich keine klare antwort. Ein Taxifahrer, der zur Familie des Hauses gehört und wie viele Russen mit einem militärischen Tarnanzug gekleidet ist, wundert sich warum ich so ein Theater wegen der Sicherheit veranstalte. “Mein Taxi steht nachts auch in dem Hof. Deine Räder wird man also nicht stehlen wollen”, ist seine Erklärung auf seinen rostigen Lada deutend, der fabrikneu gerade mal 5.000,- Euro kostet. Ich verkneife mir zu erwähnen, dass er in Deutschland für die Verschrottung dieser kaputten Karre noch Geld drauflegen müsste. Als wir die Räder in den Hof rollen wollen, verlangt die Vermieterin den Wucherpreis von 100,- Rubel (2,27 Euro) extra pro Rad. “Das kann doch nicht sein? In ganz Russland fordert man nichts für die Unterbringung von Fahrrädern. Das sind keine Motorräder, sondern Fahrräder”, argumentiere ich. “Lass ihn”, winkt der Taxifahrer ab, womit nun endgültig geklärt ist das wir hier für eine Nacht bleiben.
Mit schmerzendem Knie schleppe ich die Räder in den Keller, während Tanja Taschen in das Zimmer trägt. Gähnende Dunkelheit und muffiger Gestank empfängt mich. Im Strahl meiner Stirnlampe sehe ich den Müll, altes Werkzeug, undefinierbaren Schrott und ein kaputtes Waschbecken herumliegen. Der Boden ist mit kleinen, spitzen Metallstückchen übersäht. “Ob das eine gute Idee ist hier zu nächtigen?” geht es mir durch den Kopf. Ich stelle unsere starken Sumobikes in den hintersten Kellerraum und sperre sie mit unserem Stahlschloss an einen zerbrochenen Fensterrahmen, der an der verdreckten Wand lehnt. Dann verschließe ich mit einem weiteren Schloss unsere Anhänger an die Räder und decke alles unter die grüne Plane. Das Verließ verlassend, hoffe ich darauf morgen noch alles so anzutreffen.
Wir sperren unser Zimmer ab und fragen die Wirtin wie wir zum Kloster kommen. “Mit dem Taxi”, schlägt sie vor, um ein weiteres Geschäft machen zu können. “Wir würden gerne mit dem Minibus fahren”, erkläre ich, worauf sie uns irgendetwas Unverständliches erklärt. Ein völlig betrunkenes Pärchen sitzt in der Kneipe und hört unsere Konversation. “Ich kann euch sagen wie ihr zum Kloster kommt”, lallt der Mann, während seine Gefährtin laut kichert. “Nein danke. Wir finden den Weg schon”, antworten wir, das eigenwillige Straßencafe verlassend. Kaum sind wir auf der Straße torkelt uns der Betrunkene hinterher und ruft uns zurück. Wir heben dankend die Hände und marschieren einfach weiter. Staubfahnen, aufgewirbelt vom starken Nachmittagswind, verschlucken uns regelrecht als wir durch das armselige sibirische Dorf laufen, um die Busstation zu finden. “Zum Kloster? Immer gerade aus. Am Ende der Straße”, erklärt man uns. Da es von hier nur neun Kilometer bis zum Kloster sind beginnen wir uns darüber zu ärgern nicht gleich mit unseren Rädern hingefahren zu sein. Auf einem schmuddeligen Platz stehen einige Minibusse. “Nein, zum Kloster müssen sie auf die andere Straßenseite. Der Minibus fährt nur wenn genügend Fahrgäste zusammenkommen”, hören wir und warten geduldig an einem verrosteten Schild.
Sie schlagen ihm den Beutel auf dem Kopf
Ein Betrunkener kommt über die Straße getorkelt. Kinder folgen ihm laut grölend. Sie beschimpfen den Mann und schlagen ihn immer wieder mit einer Tasche auf dem Kopf. Verwundert beobachten Tanja und ich was hier auf offener Straße geschieht. Der Mann dreht sich schwankend um die eigene Achse, um sich zur Wehr zu setzen. “Hi! Hi! Hi! Alter Besoffener!”, rufen sie. Der offensichtlich Wehrlose torkelt weiter, immer seinen Plastikbeutel schützend, in dem er ein paar Habseligkeiten und ein halbes Brot aufbewahrt. Plötzlich springt ihn einer der Kids an und entreißt ihm den Beutel. “Ihr!”, ruft er verzweifelt, dreht sich wieder um die eigene Achse, worauf die Meute ein paar Meter zurückweicht. Dann schlägt ihm einer der Jungs den Plastikbeutel über den Kopf. Das Plastik zerreißt und ein paar undefinierbare Sachen und das halbe Brot fallen in den Dreck. “Ha! Ha! Ha! Alter Verrückter!”, kreischen die Kinder vor Vergnügen und probieren ihre Karatetricks, die sie im Fernsehen gesehen haben, an ihrem Opfer aus. Während die abgerissene, armselige Gestalt versucht sich die hässlich gackernde und laut kreischende Kinderschar vom Hals zu halten, dabei mehrfach strauchelt und fast stürzt, laufen immer wieder Passanten vorbei, die von dem Drama nicht die geringste Notiz nehmen. Alle, ob Frauen oder Männer, sehen einfach weg. Als würde hier nichts geschehen. Als wäre die Tragödie unmittelbar neben ihnen nur eine Fiktion aus einer anderen Welt. “Sind die Menschen in diesem Dorf so abgebrüht? Ist es der Alkohol der uns Menschen zu gefühllose Wesen degradiert? Wo sind in diesem Augenblick die liebenswerten Sibirier, die wir ständig antreffen? Oder sind sie da und zeigen nur ihr anderes Gesicht? Wie soll ich das verstehen? Wie kann ich das überhaupt verstehen? Was sind wir Menschen nur für eigenartige Kreaturen?”, denke ich und erinnere mich an die eine oder andere Situation wo auch in Deutschland Menschen auf offener Straße zusammengeschlagen werden ohne dass jemand einschreitet. Ich blicke zu Tanja, die sprachlos dasteht. “Am liebsten würde ich dem Mann helfen”, sage ich und spüre wieder den großen Drang mich einzumischen. “Keine gute Idee. Was willst du denn tun? Das ist eine Kinderbande. Jede Einmischung kann zur weiteren Eskalation führen. Wir wissen doch nicht warum die Erwachsenen außen herum nicht einschreiten. Wir befinden uns in einem für uns fremden Land, mit einer völlig anderen Kultur”, bremst sie mich. Wie auch schon in Ulan-Ude stehe ich nun da und frage mich was geschehen muss, um einen fremden Menschen uneigennützig zur Hilfe zu eilen. Mir ist in diesem Moment klar, dass ich ihn rette, sollte er stürzen und die Kinder auf ihn eintreten. Gott sei Dank verlieren die Rotzbuben nur Augenblicke später ihr Interesse an ihrem schutzlosen Opfer und stürmen davon.
Eine halbe Stunde später und nur wenige Kilometer weiter, befinden wir uns in einer anderen Welt auf dem gleichen Planeten. In einem weiten Tal des Chamar-Daban-Gebirges strecken gleich mehrer buddhistische Tempel ihre bunten Dächer in den blauen Herbsthimmel. Verkaufsbuden reihen sich entlang des Weges, um jegliche erdenkliche buddhistischen Souvenirs anzubieten. Wir schlendern durch die Anlage, die lange Zeit die einzigen funktionierenden buddhistischen Klöster der gesamten Sowjetunion waren. 1945, nach dem zweiten Weltkrieg, bekamen ein paar aus Lagern und Gefängnissen entlassene Lamas die Erlaubnis hier ein Kloster zu eröffnen. Trotz völliger Kontrolle des damaligen Staates entwickelte sich das Kloster schnell. Heute ist es ein Zentrum für buddhistische Philosophie und tibetische Medizin. Als offizielle Hochschule anerkannt unterrichten Lehrer aus Indien, Tibet und der Mongolei Philosophie, Astrologie, Medizin und auch Fächer wie Informatik und Fremdsprachen.
“Wo können wir denn den Körper des berühmten Heiligen sehen?”, frage ich einen der Mönche. Na da müsst ihr im November wiederkomme. Nur dann ist der Leichnam des Lamas Daschi-Dorscho Etigelow für die Öffentlichkeit zugänglich”, antwortet er lachend. Wir sind enttäuscht, denn man hat uns schon in Krasnojarsk davon berichtet, das seit dem Tod des 1927 verstorbenen berühmten Gelehrten, kaum Spuren der Verwesung zu sehen sind und wir diesen Ort unbedingt aufsuchen sollen. Auf dem Weg zum Ausgang glaube ich einen echten Wolf gesehen zu haben der gerade hinter einen der Büsche geflüchtet ist. Wir eilen zu der Buschgruppe und können im ersten Moment unseren Augen kaum trauen. “Das ist eindeutig ein Wolf”, sage ich vorsichtig meine Kamera zückend. Kaum hebe ich die Leica ans Auge rennt das ausgemergelte Tier zum Klosterzaun und verschwindet durch ein Loch in die Steppe.
Wieder in unserer Unterkunft stellt Tanja fest, dass jemand verschiedene Krems aus ihrem Waschzeugbeutel entwendet hat. “Das kann nicht sein? Bist du dir da wirklich sicher?”, frage ich erschrocken. “Aber klar bin ich mir sicher. Ich weiß doch was ich dabei habe. Die Person hat nur die besten und noch volle Tuben und Döschen gestohlen”, antwortet sie. Sofort geht Tanja den Stock tiefer in die Kneipe und spricht mit den Frauen. Erst wollen sie nicht verstehen aber dann wissen sie wovon Tanja spricht und schauen recht betreten drein. Keine von ihnen will es gewesen sein. Weil wir die einzigen Gäste sind und hier nur Familienmitglieder Zugang haben sind wir uns sicher, dass es eine von ihnen war. Zu diesem Zeitpunkt weiß ich noch nicht das die Person auch in meinen Sachen gewühlt hat und unser komplettes Nagelset mitgehen hat lassen. Da wir alles was wir auf so einen Radtrip mitschleppen wirklich benötigen, vermissen wir schnell die kleinen Ausrüstungsgegenstände und haben auch keine Möglichkeit sie dann in den mongolischen Dörfern, die wir durchreisen, nachzukaufen.
Nach bald 14.000 Radkilometern und vielen Übernachtungen in einfachen Unterkünften hat man uns jetzt kurz vor der Ausreise aus Sibirien nun doch noch bestohlen. Wir sind froh nur Kleinigkeiten verloren zu haben und keine Kameras, den Laptop, Sattelitentelefon oder andere teuere Elektronik, die wir oft im Zimmer lassen müssen. Trotzdem ist es ein kleiner Bittergeschmack und Vertrauensverlust den wir hier in diesem unangenehmen Haus erfahren. Natürlich ergibt es keinen Sinn wegen den Kleinigkeiten zur Polizei zu gehen. Die würden uns vielleicht auslachen. Aber wer weiß? Vielleicht würden sie uns auch helfen. Es geht um die nächsten Reisenden die dort unterkommen, im Glauben sich ein Stück Sicherheit für die Nacht zu mieten, um dann festzustellen in der Höhle des Löwen zu sitzen. Vielleicht hätte ich auch auf mein anfängliches Gefühl horchen sollen? Es hat mich ganz klar gewarnt. Nur ist es nicht immer einfach auf Gefühle zu lauschen. Gerade wenn man müde ist. Bisweilen frage ich mich ob mich mein Gefühl manchmal täuscht? Jedoch stellt sich heute wieder heraus in Zukunft noch genauer darauf zu hören. Beweise wie diese werden dann überflüssig.
Um 22:00 Uhr beginnt es in der Kneipe unter uns laut zu werden. Musik dröhnt aus den Lautsprechern und Gäste grölen herum. Im Zimmer neben uns, indem ein Teil der Diebesfamilie wohnt, jault der Fernseher. Bis nachts um ein Uhr machen wir kein Auge zu. Dann gehen alle zu Bett. Die Türen scheppern das die alten Holzbalken knirschen. Um 3:30 Uhr am frühen Morgen poltert jemand gegen die Holztür nebenan. “Andrej Bstawat! Bstawat! Bstawat!” (“Andrej Aufstehen! Aufstehen! Aufstehen!”) brüllt es durch die Hütte, dass es uns fast aus den Betten hebt. Zweieinhalb Stunden danach kriechen wir angeschlagen von der unbequemen Schlafstätte, um den ungastlichen Ort der Langfinger so schnell wie möglich zu verlassen.
“Einer deiner Verwandten hat mir meine Krems gestohlen”, sagt Tanja dem Taxifahrer, der uns beim Packen der Räder zusieht. Er zuckt mit den Schultern und lässt sie einfach stehen. Dann öffnen zwei der Grazien das hölzerne Tor und wir rollen unsere Roadtrains über die staubige Piste zur Straße.