Kapitän frisst seinen Cousin – Kannibalismus in schlimmster Form
N 69°19'28.8" E 16°07'05.7"Datum:
03.10.2020
Tag: 062
Land:
Norwegen
Ort:
Andenes
Tageskilometer:
0 km
Gesamtkilometer:
5444 km
Bodenbeschaffenheit:
Asphalt
Sonnenaufgang:
07:11
Sonnenuntergang:
18:31
Temperatur Tag max:
14°
Temperatur Nacht min:
9°
Aufbruch:
10:30
Ankunftszeit:
18:00
Link zur aktuellen Reiseroute
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52 Tage nach dem Untergang der Essex, also am 12. Januar 1821 verlor der erste Offizier Owen Chase während eines starken Sturmes den Kontakt zu den anderen zwei Booten. Es dauert nicht lange und ihre Nahrungsvorräte waren komplett aufgebraucht, weswegen die ersten Männer verhungerten oder an Schwäche starben. Sie litten alle zusammen furchtbar unter Hunger, was dazu führte, dass sie Kannibalen wurden und begannen, ihre Toten aufzuessen. Letztendlich half ihnen das Fleisch ihrer Kameraden zu überleben, denn am 18. Februar wurden sie in der Nähe der Inseln Juan-Fernández, die im 17. und 18. Jahrhundert englischen Piraten als Versteck diente, um spanische Schiffe und Handelsrouten anzugreifen, vom britischen Handelsschiff Indian gerettet. Für die Überlebenden hatte ihre monatelange Odyssee ein Ende gefunden.
Zehn Tage nachdem die noch Lebenden auf dem Boot des ersten Offiziers Owen Chase gerettet wurden, schaukelten die anderen zwei Boote noch immer auf der gnadenlosen See. Dann, am 28. Januar, verloren sie sich aus den Augen und Kapitän Pollard verlor den Kontakt zum dritten Boot, von dem man nie wieder etwas hörte. Auf Pollards Walfangboot gab es auch nichts mehr zu beißen, und nachdem sie ihre ersten zwei Toten mit einem Seemannsgrab verabschiedete, verwandelte der Hunger auch diese kleine Besatzung zu Kannibalen. Obwohl man es kaum glauben kann, erging es den Männern anscheinend noch schlimmer als den anderen, denn als nur noch vier Männer lebten, losten sie untereinander aus, wer als nächstes sterben sollte, damit er als Nahrung für die anderen diente.“ „Puh, und das ist eine wahre Geschichte?“, unterbricht Tanja Flynn, der mit seinen Gedanken weit weg zu sein scheint und einige Augenblicke benötigt, um auf Tanjas Frage zu antworten. „Öhm, was hast du gefragt?“, fragt er irgendwie abwesend. „Ob, dass eine wahre Geschichte ist, die du uns da erzählst?“ „Klar ist das eine wahre Geschichte. Die hat mir mein Großvater erzählt, und der hat sie von seinem Vater, der zu jener Zeit zwar schon alt war, aber die Überlebenden der Essex teils persönlich kannte. Außerdem kann man über den Untergang der Essex im Netz recherchieren und es gibt viele Berichte über diese Tragödie, die direkt von den Überlebenden stammen. Ich würde euch doch keine Horrormärchen erzählen wollen“, sagt er. „Entschuldige bitte“, antwortet Tanja. „Die Geschichte klingt so unfassbar, dass sie kaum zu glauben ist. Aber bitte erzähl weiter. Was ist mit Käpten Pollards Boot geschehen? Haben sie überlebt?“ „Nun, wie ich sagte, haben sie ausgelost, wer als Nächstes erschossen wird, um den Kameraden als Nahrung zu dienen, damit sie weiterleben konnten. Das Los viel auf Pollards achtzehnjährigen Cousin Owen Coffin. Er versprach am Anfang der Reise seiner Tante Nancy Bunker Coffin, ihn heile und gesund wieder zurückzubringen und nun viel das verhängnisvolle Los auf den Jungen. Klar, dass keiner der anderen den Jungen erschießen wollte. Deshalb zogen sie erneut Lose. Diesmal viel das Los auf Charles Ramsdell der dann Owen erschoss. Kaum das er tot war, haben sie ihn zerlegt und komplett aufgefressen. Dann starb auch noch Barzillai Ray, der dann in den Mägen von Pollard und Ramsdell landete. Am 23 Februar, also 105 Tage nachdem der Pottwal die Essex gerammt hatte, wurden sie vor der chilenischen Küste vom Walschiff Dauphin gesichtet. Als der Crew des Walfängers Pollard und Ramsdell sahen, mussten sie von dem Anblick entsetzt gewesen sein. Die von der Sonne verbrannte Haut der beiden war mit Geschwüren und Pusteln überzogen. Ihre halb toten Körper waren völlig ausgezehrt und sie waren völlig verwirrt. Selbst als man sie an Bord des Walfängers holte, wollten sie nicht aufhören, an den Knochen ihrer Kameraden zu nagen. Man brachte sie in die chilenische Hafenstadt Valparaíso. Dort trafen sie auf den Offizier Owen Chase, den Harpunier Benjamin Lawrence und dem kabinenjungen Thomas Nickerson, die von dem britischen Handelsschiff Indian gerettet wurden.
Von den einst 21 Besatzungsmitgliedern überlebten die größte Schiffskatastrophe, die von einem Wal verursacht wurde neun Mann. Von den anderen 13 Crewmitgliedern vielen sieben dem Kannibalismus zum Opfer, drei bekamen eine Seebestattung, zwei sind für immer verschollen und ein Matrose ist bei einem Landgang in Ecuador geflohen.“ „Was für eine schlimme Geschichte“, sage ich, als Flynn wieder schweigt.
„Weiß man, wie viel Kilometer sie in ihren kleinen Booten zurücklegten?“, frage ich Flynn, der anscheinend tatsächlich ein wandelndes Buch voller Erlebnisse ist. „Klar weiß man das. Nach Berechnungen ihrer Route waren es 6.483 Kilometer.“ „6.483 Kilometer und das in den kleinen Holzbooten auf dem Ozean! „Unglaublich.“ „Unglaublich.“ „Unglaublich, aber nicht einmalig.“ „Wie nicht einmalig? Sind noch mehr Schiffe von Walen angegriffen worden?“ „Ja. Im Jahr 1835 erwischte es die Pusie Hall, 1838 die Two Generals, 1850 die Pocahontas und 1851 sank die Ann Alexander, deren Mannschaft aber zwei Tage nach ihrem Untergang gerettet wurden. „Ist ja unfassbar“, sage ich. „Ja, Pottwale sind intelligent und der eine oder andere hat sich gewehrt.“ „Kann man bei der Abschlachterei der damaligen Zeit irgendwie verstehen? Meinst du nicht?“, werfe ich vorsichtig ein. „Aus heutiger Sicht ja, aber damals dachten die Menschen anders und der Wal war für die Weltindustrie von unverzichtbarem Wert“, sagt Fynn und fährt mit seiner Erzählung fort. „Es gab übrigens einen berühmten Wal, den die Walfänger Mocha Dick nannten. Es war ein männliches graues Tier, der eine weiße Narbe auf dem Kopf gehabt haben soll. Mocha wurde 1810 vor der chilenischen Küste gesichtet und im Jahre 1859 angeblich von einem schwedischen Walfänger erlegt. Vielleicht war es auch der Wal, der die Essex versenkte? Diese Bullen waren anscheinend kein Einzelfall. Die Namen von solchen Walbullen waren Spotted Tom, Shy Jack, Ugly Jim und Fighting Joe. Sie galten als die Terroristen der See, auf die man hohe Kopfgelder aussetzte.“