Ist Mut eine Form von Glück?
N 67°15'55.9" E 14°43'19.1"Datum:
15.11.2020
Tag: 105
Land:
Norwegen
Ort:
Saltfjorden
Tageskilometer:
184 km
Gesamtkilometer:
8034 km
Bodenbeschaffenheit:
Asphalt
Brückenüberquerungen:
22
Tunneldurchfahrten:
20
Sonnenaufgang:
08:58 Uhr
Sonnenuntergang:
14:32 Uhr
Temperatur Tag max:
9°
Temperatur Nacht min:
6°
Wind
20 km/h
Aufbruchszeit:
10:30 Uhr
Ankunftszeit:
15:45
(Fotos zum Tagebucheintrag finden Sie am Ende des Textes.)
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Um kurz vor 9:00 Uhr schimmern die ersten schwachen Sonnenstrahlen durch eine harmlos aussehende Wolkenwand und verdrängen ganz langsam die Nacht. Der breite Bach neben uns ergießt sich laut rauschend in den See, der an dieser Stelle sehr klein aussieht, laut Karte sich aber in eine gigantischen Fjordlandschaft weitet, die sich in ca. 30 Kilometer mit dem Nordmeer vereint. Wir packen unsere Sachen und verlassen in der Morgendämmerung den abgelegenen Ort, folgen dem Waldweg, durfahren die Unterführung, die jetzt bei Tageslicht nicht mehr beengend wirkt und landen wieder auf der E6. Auf dem heute vor uns liegenden 184 Kilometern überqueren wir 22 Brücken und durchfahren 20 Tunnels. Wegen unserer gestrigen negativen Erfahrung mit dem Lastwagen sind wir bei den ersten Tunnelfahrten angespannt. Zum Glück gibt es kaum Verkehr und keine bedrohliche Situation, sodass wir unser Vertrauen zurückgewinnen und die Fahrt durch diese nicht aufhörende wunderbare Landschaft in vollen Zügen genießen.
An einem kleinen Wasserfall, der zum Kraftwerk Kobbelv gehört und sich im Sorfjord ergießt, legen wir eine Rast ein, um uns die Beine zu vertreten und Ajaci etwas Auslauf zu gönnen. Das nahe Hotel hat wegen Corona geschlossen, weswegen wir auch hier alleine sind. „Irgendwie eigenartig an all den schönen Plätzen kaum auf Menschen zu treffen“, meint Tanja auf das klare, schäumende Wasser des Gebirgsbaches blickend, der sich um und über die Felsen windet. „Ja, schon seltsam. Das erinnert mich immer wieder daran, wie privilegiert wir sind während solch schlimmen Zeiten so frei reisen zu dürfen.“ „Privilegiert? Irgendwie hat das auch etwas mit Mut zu tun“, überlegt Tanja. „Mut?“, werfe ich jetzt fragend ein. „Ja, wir sind zu einer Zeit aufgebrochen, in der nicht klar war, wie lange die Norweger die Grenzen aufmachen. Das hat doch etwas mit Mut zu tun. Hätte ja sein können, dass sich ganz Skandinavien von der Außenwelt abriegelt, dann wären wir umsonst hierhergefahren.“ „Umsonst nicht, da wir alleine auf dem Weg zur Grenze schon einiges erlebten.“ „Da gebe ich dir uneingeschränkt recht. Vielleicht war es nicht Mut, sondern Glück? Vielleicht beides zusammen? Offenbar gibt es eine Verbindung zwischen Glück und Mut“, überlegt Tanja weiter. „Hm, ein interessanter Gedankengang. Mut, eine Form von Glück? Da könnte glatt etwas dran sein. Hätten wir nicht den Mut gehabt, ins Unbestimmte aufzubrechen, hätten wir die letzten von Glück, Liebe und Gastfreundschaft geprägten Monate nicht erlebt. Hätten wir vor 30 Jahren nicht den Mut gehabt, unsere Jobs an den Nagel zu hängen, hätten wir nicht dieses außerordentlich glückliche und interessante Leben gelebt. Zwischen Mut und Glück gibt es definitiv eine starke Verbindung. Ein mutiges Leben hat etwas mit Authentizität zu tun, und wer ein authentisches Leben lebt, ist dem Glück nahe“, setze ich meine Überlegungen fort. „Ich erinnere mich an unsere Australiendurchquerung mit Kamelen. Um das zu wagen, musste ich viel Mut aufbringen. Manchmal mehr als vorhanden war. Heute bin ich froh, ja glücklich darüber, meine Ängste überwunden zu haben, denn das waren sehr glückliche, unvergessliche Jahre“, sagt Tanja. „Schon verrückt, da stehen wir hier in Norwegen an einem rauschenden Gebirgsbach und denken über Mut und Glück nach. Dabei kommen wir vom Hundertsten ins Tausendste, von einer Geschichte zur anderen. Bemerkenswert wie alles zusammenhängt.“ „Selbst Mut und Glück“, lacht Tanja heiter.
15:00 Uhr. Es ist bereits dunkel. Unser Navi leitet uns über schmale Feldwege zu einem weiteren einsamen Stellplatz, den uns die App Park4night empfohlen hat. „Da gehts links ab“, macht mich Tanja auf eine kaum zu sehende Wegegabel aufmerksam. „Ob die Wiese unsere Terra trägt?“, frage ich mich. „Ich steige mal aus und prüfe den Untergrund, bevor wir uns hier versenken“, meint Tanja und klettert aus der Kabine. „Alles klar. Der Boden ist gefroren und bockelhart!“, ruft sie Augenblicke später. Bevor wir uns in die gemütliche Kabine zurückziehen, laufen wir durch kniehohes Gras bis zum Meer. Tief luftholend atmen wir die kalte Brise, die über das Wasser streift und unsere Lungen mit Energie füllt. Obwohl es finster ist, wölbt sich ein breiter roter Streifen über unsere Köpfe. „Seltsam. Ob das ein letzter Strahl ist, den die Sonne von der anderen Seite der Erde zu uns herüberschickt?“, wundert sich Tanja. „Wirklich seltsam. Habe so etwas noch nie gesehen. Eigentlich müsste der ganze Horizont aufleuchten und nicht nur ein Streifen, der sich vom Horizont in einem Rechtenwinkel wegbewegt und längs über den Himmel feuert. Schon irre, was die Natur auf Lager hat“, sage ich leise, als könnte eine zu laute Stimme das Licht verschrecken. Gebannt stehen wir noch eine ganze Weile da, betrachten den Himmel und die vielen Lichter der Stadt Bodø die auf der uns gegenüberliegenden Seite der Bucht den Küstenstreifen erhellen. „Von hier bis zum größten Gezeitenstrom der Welt sind es nur noch ein paar Kilometer. Wollen wir uns den morgen ansehen? Da die Messe ausgefallen ist, hätten wir die Zeit, dem einen Besuch abzustatten“, frage ich Tanja. „Gute Idee. Das sollten wir tun, aber jetzt lass uns reingehen. Es wird kalt hier draußen.“…