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Moldawien/Troitcoe

In den Bergen gefangen

N 46°31'14.9'' E 028°47'01.2''

Um 4:30 Uhr rappeln wir uns aus der verschwitzten Matratze und um 5:30 Uhr lassen wir bereits die Tretkurbeln kreisen. Schon die ersten Berge kaufen uns den Schneid ab, wir müssen unsere Böcke mehr schieben als dass wir sie treten. Wir rollen durch das noch verschlafene Straßendörfchen Milhalnyka. Ein rot gerosteter, völlig verbeulter Güterzug quält sich mit seiner schweren Last unter lautem Rattern, hundert Meter entfernt von uns, durch das von Hitze geplagte Moldawien. Die mit Asphaltstücken bespuckte Straße verlässt den Ort, um sich eine alptraumlange Steigung hoch zu ziehen. Am Rand dieser verlassenen Verkehrsader schneiden zwei ältere Frauen mit einer Handschere einer lautstark meckernden Ziege das Fell vom Leib. Sie lächeln mich verschüchtert an, als ich sie filme. Dann schwingen wir uns wieder in den Sattel und schnaufen die Erdfalte hoch. Ein lustiger Wanderer mit einem Eimer in der Hand schreitet vergnügt neben mir. Er muss seine Geschwindigkeit sogar etwas reduzieren, um mir nicht einfach davon zu laufen. “Woher kommst du? Was aus Deutschland? Gutes Land. Ich war dort stationiert. Bin Russe, weißt du”, quasselt er ohne Punkt und Komma. Um die 105 Kilo Gewicht den Berg hinaufzupressen, rasselt mein Atem. Meinen Begleiter stört das überhaupt nicht. Er feuert eine Frage nach der anderen ab und wird sogar etwas ärgerlich, wenn ich sein Russisch nicht verstehe. Bei der Armee! Armee! Verstehst du?”, dröhnt es in meinen pochenden Ohren. Um sicher zu gehen, dass ich begriffen habe, nimmt er eine imaginäre Maschinenpistole in die Hand. “Ta, ta, ta, ta”, rattert es aus seinem Mund, worauf ich natürlich weiß, was er meint. “Im Nordosten von Moldawien leben die Separatisten.” “Aha”, antworte ich, weil ich nicht weiß, was er damit sagen will. Dann wechselt er das Thema. “Was, die Russen sind nicht mehr in Deutschland? Glaube ich nicht”, führt er seine Unterhaltung fort. Ich blicke zurück und bemerke dass Tanja weit abgefallen ist und ihr Gefährt schiebt. Das gibt mir die Gelegenheit, meinem Peiniger los zu werden. “Ich muss auf meine Frau warten”, stammle ich röchelnd. Er lacht lauthals, wünscht mir eine gute Reise und spaziert mit strammen Schritten davon.

Durch die Höhenzüge, die sich jetzt im Abstand von zwei bis drei Kilometer vor uns aufwerfen, kommen wir nur knapp sieben Kilometer in der Stunde voran. Tanja hat einen hochroten Kopf. Uns beiden rinnt der Schweiß in Strömen den Körper hinab. Wieder klettert die Quecksilbersäule des Thermometers schon um acht Uhr auf über 30 Grad im Schatten. Die Anstrengungen überfordern uns nahezu. Kaum rollen wir einen dieser verdammten Hänge hinunter werden wir mit einer ähnlichen oder noch schlimmeren Steigung bestraft. Weil wir dringend Wasser benötigen, fragen wir in dem auf einen Hügelrücken gelegenen Dorf Troitcoe nach einem Magazin. “Dort die Straße runter”, hören wir. “Sollen wir da wirklich runter fahren?”, fragt Tanja. “Wenn wir Wasser haben wollen, dann sind wir wohl dazu gezwungen”, antworte ich, daran denkend, hier wieder rauf zu müssen, um unseren Weg fortzusetzen. Vor einem kleinen Holzschuppen halten wir an. Wir lehnen die Räder an einen Baum. “Ich sehe mal, was es gibt”, sage ich und betrete die einfache Hütte. Eine beleibte, resolute Frau öffnet ihre erstaunten Augen. Es dauert einige Sekunden, bis sie zu begreifen beginnt, welch fremdartig gekleidete Person ihren Laden betreten hat. Ich kann regelrecht sehen, wie es in ihren Gehirnwindungen rattert. “Gibt es Wasser?”, frage ich auf Russisch. “Klar, im Brunnen”, antwortet sie und deutet nach hinten in den Garten. Sofort begleitet sie mich, lässt einen Eimer in das eingefasste Loch nach unten verschwinden und holt ihn wieder rauf. “Ist das Trinkwasser?” versuche ich zu fragen. “Ja”, verstehe ich, und um alle Zweifel zu zerstreuen nimmt sie einen kräftigen Schluck aus dem Eimer. Dann füllen wir unsere Trinkrucksäcke und gehen zum Laden zurück.

“Wie weit ist es noch bis zur nächsten Stadt?”, fragt Tanja. “Mindestens 40 Kilometer.” “Das schaffen wir nie.” “Du hast Recht. Ist unmöglich. Wir müssen später irgendwo fragen, ob wir in einem Garten unser Zelt aufschlagen dürfen”, antworte ich. Während wir uns beratschlagen, was wir tun sollen, kommt die beleibte Frau aus ihrem Laden und drückt jeden von uns ein verpacktes Eis am Stil in die Hand. “Otschen haraschor”, (sehr gut) sagt sie. Da wir beide zu diesem Zeitpunkt nicht die geringste Lust auf Eis verspüren, lehnen wir ab. “Otschen haraschor”, sagt sie wieder keinen Widerspruch duldend. Notgedrungener Maßen bedanken wir uns, öffnen die Verpackung und lutschen das Eis. “Ich heiße Luda”, stellt die Magazinbesitzerin sich vor. Mittlerweile hält ein Polizist mit seinem Auto neben uns. Als er uns sieht, lacht er und versucht sich mit uns zu unterhalten. “Mein Name ist Pavel”, stellt er sich vor und reicht uns die Hand. Wir zeigen ihm den Tacho, wie weit wir bisher gekommen sind und versuchen mit Händen und Füßen zu erklären, was wir tun und wohin wir wollen. Ungläubig sieht er uns an. Mehr Leute aus dem Dorf kommen und bestaunen die Räder. Dann kaufen sie schnell etwas bei Luda ein, um sich danach in den kleinen Kreis der Fragesteller zu reihen. “Wie geht es dir?”, frage ich zwischendurch Tanja. “Scheiß Berge”, antwortet sie trocken. Ich überlege, ob es nicht Sinn macht, Luda zu fragen hier unser Lager aufschlagen zu dürfen. “Wir sollten die Strecke auf zwei Etappen aufteilen”, unterbricht Tanja meine Gedanken. “Meinst du, ich sollte fragen ob wir hier bleiben dürfen?” “Warum nicht?” “Ist erst 8:30 Uhr.” “Wir können auch im nächsten Dorf fragen, wenn du willst. Wie weit ist es noch bis dahin?”, möchte Tanja wissen. “Vielleicht zehn Kilometer”, antworte ich und fasse gleichzeitig den Entschluss, Luda zu fragen. “Aber natürlich. Gerne dürft ihr hier bleiben. Im Zelt? Aber gar kein Problem”, plaudert sie erfreut und zeigt mir den völlig vertrockneten Garten.

Wie eine verkappte BallerinaSo kommt es, dass wir schon zu früher Stunde unser Zelt auf einem staubigen Feld neben einem kleinen unscheinbaren Müllberg unweit vom Plumpsklo errichten. Um neun Uhr sitzen wir auf alten Plastikstühlen an einem einfachen Plastiktisch. Es ist bereits 35 Grad heiß. Ein halb verdursteter Kirschbaum, der aus reiner Verzweiflung seine verdorrten Früchte abwirft, spendet uns Schatten. Wir essen mit Reis und Schweinefleisch gefüllte Krautwickel, Fleischbällchen, Hühnchen, in der Sonne schwitzende Hartwurst, absolut gequältes Weißbrot und Tomaten. Tochter Katja, die gerade aufgestanden ist, setzt sich mit trüben Augen, wegen der Hitze offensichtlich leidend wie ein Hund, an den Tisch. Katja ist 20 Jahre alt, freundlich, spindeldürr und wirkt vom ersten Augenblick etwas verhaltensgestört auf uns. Sie studiert in irgendeiner Stadt und ist über die Sommerferien nach Hause gekommen. Unaufhörlich verdreht sie wegen der Hitze die Augen und sagt stöhnend; “Sharka” (“heiß” auf Russisch). Wenn sie läuft. verschränkt sie beide Arme vor der Brust. als würde sie sich selber würgen wollen oder hält eine Hand linkisch vom Körper weg, um wie eine verkappte Ballerina im perfekten Schneckentempo dahin zu stolzieren. Sie spricht mit schrecklich schriller Stimme unaufhörlich Russisch. obwohl wir ihr verzweifelt versuchen klar zu machen, dass wir nichts verstehen. Ihre Mutter hingegen wirkt intelligent, ist sehr freundlich und warmherzig. Der Vater ist vor vier Jahren an Krebs gestorben, weshalb Luda für sich und ihre Töchter selbst sorgen muss. Wir fragen uns, wie sie das zustande bringt, denn der kleine Laden kann unmöglich soviel abwerfen.

“Mögt ihr Rotwein?”, unterbricht Luda den Redeschwall ihrer Tochter. Da wir beschlossen haben, uns heute nicht mehr über weitere Hügel zu plagen, sagen wir zu. Bei mittlerweile 38 Grad steigt uns der süffige Rotwein zu Kopf. “Ist von meinem Neffen. Der baut selber Wein an”, verstehen wir. “Nastrowje!”, (Zum Wohlsein) sagt Luda, hebt das Glas und stößt mit uns kräftig an. Es dauert nicht lang und Tanja bekommt schrecklich Bauchschmerzen. “Gut, dsas wir nicht weiter gefahren sind”, meint sie. “Woher hast du denn plötzlich Bauchweh?”, wundere ich mich, merke aber, wie es auch in meinem Bauch zu rumpeln beginnt. “Wollt ihr sehen, wie meine große Tochter Nadja geheiratet hat?”, fragt Luda unvermittelt. Bevor wir antworten, führt sie uns in ihr Haus, schiebt eine Videokassette in den Fernseher und ab geht’s. Zur Feier des Tages ist der Laden geschlossen. Man bekommt nicht alle Tage Gäste aus Deutschland, die noch dazu mit dem Rad herstrampeln. Im Fernseher wird gelacht, gekreischt, laute Musik gespielt, viel gesprochen, getanzt und gegessen. Mir gehen die Augen über, kann mich kaum noch aufrecht im Sofa halten. “Willst du schlafen?”, fragt Luda plötzlich. Ich nicke verlegen mit dem Kopf. “Kein Problem. Komm leg dich in mein Bett”, bietet sie an und führt mich ins Schlafzimmer. Wieder verlegen sehe ich auf das Bett und deute auf meine Kleidung. “Leg dich einfach hin und ruh dich aus”, bestimmt sie worauf ich mich in voller Montur in ihr Bett sinken lasse und für Stunden in einen bewusstlos ähnlichen Schlaf falle. Am späten Nachmittag wache ich in Schweiß gebadet auf. In der Hütte hat es 31 Grad. Mit brummendem Schädel setze ich mich auf die Bettkante und betrachte erstmal das Schlafzimmer. In dem kleinen, gemütlichen Raum gibt es neben dem Bett einen einzigen geschlossenen Schrank. Die Wandtapete hinter mir zeigt zwei übergroße Tigerbabys, die auf einer saftigen grünen Wiese liegen und vor sich hin träumen. Federwolken schweben in einem tiefblauen Himmel und ein paar Sterne blitzen hell auf. Lächelnd betrachte ich mir die friedliche Abbildung. An der Stirnseite des Bettes hängt ein großer braun-beige gemusterter Teppich an der Wand. Der Boden ist mit einem rot-grün-braun-grau-scheckigen Blumenteppich ausgelegt. Das Fenster ist offensichtlich wegen der Hitze mit einem blau-grau-weiß-karierten Vorhang verdunkelt, und von der letzten noch vorhandenen Wand lächelt mich ein orthodoxer Heiliger gütig an. Mit schweren Knochen erhebe ich mich von der warmen Bettstatt und schreite durchs Wohnzimmer. Erst jetzt registriere ich die Einrichtung. Alle Wände sind mit einer ebenfalls braun gefleckten, auftragenden Tapete beklebt. Orthodoxe Heilige hängen auch hier herum. Der Teppich ist geblümt, bunt gemustert. Fast wie ein orientalischer Teppich. Die zwei gegenüberstehenden Sofas haben ähnliche schrille Muster und Farben. Der Fernseher thront auf einem Schränkchen in der Ecke. In den Regalen des Wohnzimmerschrankes entdecke ich Bücher, Kerzen, wieder orthodoxe Heilige, Stofftiere und einiges mehr. Von der bunten Vielfalt und der Hitze nach draußen getrieben atme ich erstmal durch. Es ist 17 Uhr. Das Thermometer zeigt 37 Grad im Schatten. Wir setzen uns wieder unter dem Kirschbaum. Ein leichter Luftzug lockert die würgende Hand der Bruthitze. Tanja geht es mittlerweile schlecht. Ihr Magen bäumt sich auf. Keine Ahnung, ob es das Eis war, das gequälte Brot oder irgendwelche anderen Bakterien, die bei diesem Klima zu Milliarden gedeihen. Immer wieder bekommt sie von der noch immer unaufhörlich über die Hitze jammernden Katja Schokolade, Bonbons, ein seltsam nach Kaffee und Schokolade schmeckendes und noch dazu warmes Colagebräu angeboten. Tapfer lächelnd lehnt Tanja beharrlich ab. Katja, die einfach nicht verstehen will, dass jemand in der Lage ist, all die Köstlichkeiten zu verweigern, gibt sich aber große Mühe, Tanja weiterhin das süße Zeug vor die Nase zu halten.

Zum Abendessen kredenzt Luda genau das Gleiche wie heute Morgen. Der Rotwein schmeckt lecker. Von dem Fleisch esse ich nur die wieder aufgewärmten Hackfleischbällchen und etwas von dem doppelt gequälten Weißbrot. Die Gaben sind von dem glühenden Hauch der Sonne schwer mitgenommen. Luda macht das nichts aus und isst die restlichen zwei dünnen Hühnerschlegel und einige Scheiben der super fetten und sich schon wölbenden Hartwurst. Tanja hingegen verzichtet auf die Leckereien. Als Vegetarierin hat sie mit der Fleischfülle sowieso nichts am Hut. Für sie bleibt oftmals nur der Tomatensalat, das Weißbrot, und der Reis, den sie sich heute Morgen aus den Schweinekrautwickeln gefischt hat. Um 21:30 Uhr ziehen wir uns bei noch immer verblüffenden 32 Grad in unser Zelt zurück. “Wie geht’s dir?”, frage ich. “Hörst du meinen Bauch rumoren?” “Ja, nicht zu überhören.” “Na, so geht’s mir.” “Können morgen nicht weiter oder?” “Glaube nicht.”

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