Herkunft und Flucht
N 51°33'336'' E 099°15'341''Tag: 168-172
Sonnenaufgang:
09:26/09:24
Sonnenuntergang:
17:31/17:37
Gesamtkilometer:
1281
Bodenbeschaffenheit:
Eis, Schnee
Temperatur – Tag (Maximum):
minus 21°C
Temperatur – Tag (Minimum):
minus 25°C
Temperatur – Nacht:
minus 34°C
Breitengrad:
51°33’336“
Längengrad:
099°15’341“
Maximale Höhe:
1981 m über dem Meer
Der heutige Morgen empfängt uns mit Schneegestöber. Da der Schnee schon seit gestern Abend vom Himmel fällt sieht die Landschaft um uns herum verzuckert aus. Alle Spuren des Alltags, wie der von den Rentieren aufgewühlte Boden, die entstandenen Pfade von unserer Jurte zu Blockhaus eins, zwei und zu den Tipis, liegen unter einer weißen, sauberen Decke. Jeder ist an diesem Morgen mit dem Kehren vor seinem Heim beschäftigt. Es dauert nicht lange und die Pfade ziehen sich erneut wie ein Geflecht über unsere Campgemeinschaft.
„Klopf! Klopf!“, kündigt sich Tsaya höflich an bevor sie und Ultsan am Abend in unsere Jurte treten. „Kommt herein!“, rufen wir. Ich klappe meinen Laptop zu und setze mich wie bald jeden Abend mit einer Tasse Tee auf unser Wandan während sich Ultsan auf einen der kleinen Klappstühle und Tsaya auf den Holzstuhl nieder lassen. „Heute haben wir was ganz Besonderes für euch“, sagt Tanja ein wenig geheimnisvoll. „Ja? Was denn?“, fragt Tsaya neugierig geworden. „Magst du Kakao?“, fragt Tanja. „Kakao. Oh mein Gott. Den habe ich das letzte Mal getrunken als ich in den Staaten gelebt habe. Ich würde sehr gerne eine Tasse davon versuchen. Und du mein Schatz? Magst du auch Kakao?“, fragt sie ihren Ultsan. „Tijmee”, (“Ja”) antwortet er in freudiger Erwartung. Tanja reicht unseren Gästen je eine große Tasse mit dampfender Schokolade. „Oh ist der guuuut“, schwärmt Tsaya zufrieden an ihrer Tasse schlürfend.
Der Schein einer Kerze erhellt unsere Jurte. Wir sitzen am wärmenden Ofen während draußen bei minus 34 °C kaum sichtbare Eiskristalle durch die Luft wirbeln.
„Es muss für deine Großeltern und Eltern hart gewesen sein als ihr damals aus Russland geflohen seid. Hat dir dein Vater von dieser Zeit berichtet?“, frage ich und hoffe darauf von Ultsan die Geschichte seines Volkes zu hören. „Ja, die Alten haben oft davon gesprochen. Aber um unsere Flucht aus Russland zu verstehen muss ich ein wenig in die Vergangenheit schweifen“, sagt Ultsan. „Gerne, wir sind sehr interessiert an der Geschichte deines Volkes“, antworte ich. „Nun dann solltet ihr wissen, dass die Region in dem mein Volk lebte vom 13. bis zum 18.Jahrhundert von den Mongolen beherrscht wurde. Das Zentrum unseres Landes lag ca. 400 Kilometer westlich von hier auf einem erhöhten Plateau welches von den Gebirgszügen Sajan und Tannu-Ola eingeschlossen ist. Die höchste Erhebung des Sajangebirge ist das im Südosten des heutigen Sibiriens liegende Massiv des Munku-Sardyk mit einer Höhe von 3.491 Metern. Es ist ein wunderbares Land in dem uns die Natur mit reichlicher Jagdbeute beschenkte.
Während der chinesischen Revolution im Jahre 1911 die Mandschu-Dynastie endgültig zusammenbrach, ergriffen die Mongolen die Chance sich von China unabhängig zu erklären. Daraufhin erhielt das Territorium Urjanchai, so wurde die Region in der wir lebten damals genannt, eine Unabhängigkeit. Schon 1914 wurde der 170 500 Quadratkilometer große Landesteil russisches Schutzgebiet und während des russischen Bürgerkrieges von 1918-1920 nutzten wir, das Volk der Tuwinen, die Schwäche der Russen um unsere Unabhängigkeit zu erklären.“ „Aber die Tuwinen bestehen doch nicht nur aus den Tsataan? Es sind doch verschiedene Volksgruppen die in diesem Landstrich leben und vor eurer Flucht dort gelebt haben?“ „Das stimmt. Bald die Hälfte der dort lebenden Menschen sind Russen.“ „Ich habe gelesen, dass die andere Hälfte der Tuwinen ein türkischsprachiges Volk mit einer tibetanisch-buddhistischen Religion ist. Ihr hingegen habt eure eigene Sprache und Religion?“ „Nein wir sprechen die gleiche Sprache haben nur einen anderen Dialekt.“ „Und eine andere Religion?“ „Ja, unsere Religion ist der Schamanismus“, erklärt der junge und intelligente Mann. „Wie geht es dann in der Geschichte des Landes weiter? Ich hoffe du weißt sie bis in die heutige Zeit?“ „Klar, ich habe über mein Volk gelesen und wie gesagt viel von meinem Vater gehört.
Nach unserer Unabhängigkeit 1920 wurde bereits 1921 die
Volksrepublik Tannu Tuva ausgerufen. Daraufhin geriet unser Land in den sowjetischen Einflussbereich. Katastrophal wurde es für uns erst 1944, als unsere Republik Tannu Tuva der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken als autonomes Verwaltungsgebiet zugeordnet wurde.“ „Warum? Was haben die Russen mit euch gemacht um die Flucht deines Volksstammes auszulösen?“, interessiert es mich. „Schon lange unternahmen die Russen große Anstrengungen um die nomadisierenden Volksstämme sesshaft zu machen. Sie mochten keine Menschen die unkontrolliert durch die Gegend zogen. Für uns hingegen war der Gedanke sesshaft zu sein völlig gegen unseren Lebensstil und Einstellung, weswegen wir uns mit unseren Rentieren immer weiter in die Wälder zurückzogen.
Als wir davon Wind bekamen, dass wir für die Russen in den zweiten Weltkrieg ziehen sollten und diese alle Wehrdiensttauglichen in Uniformen stecken wollten, entschloss sich etwa ein Drittel des Stammes in den Süden zu fliehen. Mit Krieg und Kampf wollten wir nichts zu tun haben. Die Flucht hatte nur Erfolg wenn wir so schnell wie möglich, ohne das jemand die Chance bekam es zu erfahren, unsere Tiere zusammentrieben und aufbrachen. Mein Großvater ließ sogar seine jüngere Schwester zurück die zum Zeitpunkt der Flucht gerade in der Schule war. So wurden die Familien getrennt. Eltern ließen ihre Kinder zurück, Brüder ihre Schwestern. Es war eine Tragödie. Viele unseres Volkes wollten auch nicht fliehen und blieben. So kam es, dass unser Volk bis heute getrennt lebt. Selbst 67 Jahre nach unserer Flucht hat sich daran nichts geändert. Mein Großvater zum Beispiel hat bis zu seinem Tod kein einziges Mal seine Schwester wiedergesehen.“ „Ist eine wirklich traurige Geschichte. Konntet ihr nach eurer Flucht nicht wieder zurückgehen? Ich meine Jahre später nachdem das Regime in Russland gewechselt hatte?“
„Soweit ich weiß wussten meine Vorfahren gar nicht dass sie die Grenze zur Mongolei überschritten hatten. Das ist mehr oder weniger aus Versehen passiert. Wenn ich heute mit meinen Rentieren durch die Berge reite entdecke ich an den eigenwilligsten Stellen Überreste von alten Camps. Meine Ahnen haben sich mit ihren Tipis hinter Felsvorsprüngen, in Schluchten, an Berghängen und in den dichten Wäldern der Taiga versteckt. Sie waren sich sicher noch auf russischen Boden zu sein. Erst als in den 50er Jahre die Grenzen zwischen der Mongolei und Russland neu vermessen wurden, wurde ihnen bewusst in der Mongolei zu sein. Somit war die Rückkehr in ihre Heimat unmöglich geworden. Sie hätten die Grenze erneut illegal überschreiten müssen. Ohne Pässe und Nachweise, die bewiesen aus Russland zu stammen, eine Unlösbarkeit.
Leider wollten uns die Mongolen auch nicht haben. Sie versuchten sogar uns abzuschieben. Plötzlich waren wir ein Volk ohne Land. Erst 1956 änderte sich die Politik in der Mongolei und meine Leute bekamen die für sie wichtige mongolische Staatsbürgerschaft.“ „Dann seid ihr jetzt also ein durch eine Grenze getrenntes Volk?“ „Das sind wir.“ „Wie ging es dann weiter? Ich meine nachdem ihr nun offiziell Mongolen wart?“ „Unter der damaligen kommunistischen Verwaltung wurde der Ort Tsagaan Nuur gegründet. Unsere Kinder wurden gezwungen dort in die Schule zu gehen. Was die Russen nicht geschafft hatten setzte die mongolische Regierung in die Tat um. Sie zwangen uns zur Sesshaftigkeit. Schon alleine dadurch weil unsere Kinder in die Schule mussten konnten die Eltern nicht mehr mit ihren Herden umherziehen. Nur noch Einzelne von uns lebten in der Taiga und kümmerten sich um unsere Rentiere. Somit war unsere mehrere tausend Jahre alte Kultur beendet.“ „Aber viele von euch sind später wieder in die Taiga zurückgekehrt und im Sommer lebt sogar nahezu jeder Tuwa wieder bei den Rentierherden. Wie kam das?“ „Das lag am Zusammenbruch der Sowjetunion. Damit gab es in der Mongolei keine Arbeit mehr. Alles ist kollabiert. Es gab nichts zu Essen. Wir mussten Hungern. Daraufhin sind viele von uns wieder in die Wälder gezogen. Im Winter leben, wie ihr selber seht, nur wenige von uns hier draußen. Die Meisten bleiben wegen ihren Kindern in Tsagaan Nuur. Im Sommer hingegen, wenn die Kinder ihre langen Ferien haben, leben wir wieder wie früher in einem großen Camp. Das ist ein schöner Anblick wenn mindestens 17 Tipis vereint sind und die Herdfeuer aus den spitzen Dächern qualmen“, erzählt Ultsan. „Puh, danke für die Geschichte. Ein langer Leidensweg den dein Volk gehen musste. Ich hoffe die Zukunft ist euch wohl gesonnen und ihr habt ab jetzt eine fantastische Zeit vor euch“, antworte ich. „Nun, die Zeiten sind leider nicht rosig. Wie ihr ja schon mitbekommen habt liegt vieles im Argen. Die meisten Gelder der Touristen fließen in andere Taschen. Kaum etwas davon kommt unserem Volk zu gute. Die Regierung verdient mit uns Geld und wirbt in touristischen Werbebroschüren mit dem Volk der Rentiermenschen, den Tsaatan. Sie machen uns Versprechungen und brechen sie immer wieder. Wir fühlen uns nicht selten ausgenutzt und missbraucht.“ „Ja, wir haben in den vergangenen Wochen so einiges mitbekommen“, meine ich nachdenklich.
„Aber, obwohl nicht alles so läuft wie wir es uns wünschen, ist die heutige Zeit entschieden besser als damals. Meine Vorfahren waren bettelarm. Während der Zeit der Flucht und der Jahre des Versteckens hatten sie nichts. Es gab keine Kleidung. Sie trugen Tierfelle und unsere Tipis waren mit Tierhäuten und Stoffresten bespannt. Außer Fleisch gab es nichts zu Essen. Kein Gemüse, keine Süßigkeiten, einfach nichts.
Selbst noch in den frühen 90er Jahren war es noch so.
Die ersten Ausländer besuchten uns mit einem Hubschrauber. Ich kann euch sagen, das verursachte ein Durcheinander. Erst rannten alle Rentiere in die Berge, gefolgt von den Hunden und Kindern. Wir hatten alle furchtbare Angst vor diesem lärmenden fliegenden Blechkasten. Es dauert lange bis die Kinder wieder zum Vorschein kamen. Dann trauten sich auch die Hunde langsam wieder ins Camp, nur die Rentiere hielten sich versteckt. Als die Ausländer den Kindern Süßigkeiten schenkten war der Bann gebrochen. Noch nie im Leben hatten wir so etwas gegessen. Es schmeckte fremd aber wunderbar. Als Jahre später der zweite Hubschrauber landete rannten wir wieder alle davon.“ „In der gleichen Reihenfolge?“, scherze ich. „In der gleichen Reihenfolge. Jedoch gaben uns die Fremden wieder Süßigkeiten. Zu dieser Zeit habe ich den ersten schwarzen Menschen gesehen. Dachte erst er hat sich sein Gesicht angemalt. Heute weiß ich, dass es Amerikaner waren die uns besuchten. Oh man, zu dieser Zeit lebten wir unweit der russischen Grenze. Das waren wirklich wilde Zeiten.
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