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AUFGELADEN zu den Polarlichtern im hohen Norden - 2020

Hauch der Vergangenheit – geknechtete Fischer

N 67°52’47.9’’ E 012°58’40.9’’
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    Datum:
    24.09.2020 bis 25.09.2020

    Tag: 053 – 054

    Land:
    Norwegen

    Ort:
    Å i Lofoten

    Gesamtkilometer:
    5003 km

    Sonnenaufgang:
    06:49 Uhr bis 06:53 Uhr

    Sonnenuntergang:
    19:11 Uhr bis 19:07 Uhr

    Temperatur Tag max:

    Temperatur Nacht min:

    Windböen
    100 km/h

 

(Fotos zum Tagebucheintrag finden Sie am Ende des Textes.)

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Nach einer unruhigen Nacht werden wir vom Schwanken unsere Terra und auf uns niederprasselnden Regen geweckt. „Der Wind ist noch immer da?“, sagt Tanja. „Laut Wetterbericht soll es übermorgen besser werden. Ich würde vorschlagen, solange hierzubleiben und an den Texten und Bildern zu arbeiten.“ „Gute Idee. So sitzen wir diese Schlechtwetterperiode aus und können dann bei besserem Wetter Lofoten erkunden“, antwortet sie.

Am Nachmittag möchte ich mit Ajaci in das Örtchen „Å i Lofoten“ kurz „Å“ besuchen, dass sich unterhalb des großen Parkplatzes ans Meer schmiegt und heute hauptsächlich ein Fischerdorfmuseum ist. Im Augenblick des Öffnens der Kabinentür faucht eine starke Windböe über den Platz, reißt an der Tür und schleudert mich fast aus der Kabine. „Oouuhh!“, rufe ich erschrocken mich im letzten Moment an einem Griff festklammernd. „Na, da habe ich Glück gehabt“, sage ich zu Ajaci, der hinter mir aus der Kabine springt, als wäre nichts gewesen. In „Å“ angekommen habe ich den Eindruck, der Weiler sei zu dieser Jahreszeit völlig ausgestorben. Laut meinen Recherchen jedoch sollen hier ca. 100 Einwohner leben. Doch wo sind sie? Die Bäckerei, in der wir letztes Jahr leckeres, frisches Brot kauften, ist verwaist. Es stehen keine Hinweisschilder an der Straße, die kleine Modellboote auf dem Rasen vor dem Supermarkt hat man anscheinend weggeräumt und das Restaurant hat geschlossen. Die Stimmung ist eigenartig, fast ein bisschen spuki. Als die Tür zu dem kleinen Supermarkt aufgeht, erschrecke ich tierisch. „Ich halte hier die Stellung. Die paar Menschen, die hier leben, brauchen doch was zum Essen. Langweilig? Nein, langweilig ist mir nicht. Ich liebe die Einsamkeit und die langen, dunklen Winternächte“, sagt der Mann, der hier als einer der wenigen die Stellung aufrechterhält. Ich schreite weiter durch das Örtchen mit seinen 23 Gebäuden, die 150 Jahre alt sind. Eine Windböe fährt in das Örtchen. Die betagten Bretter einer der greisen Hütten knarren, als würden die einst hier lebenden Fischermänner unter der harten Arbeit laut aufstöhnen. Mich schauderst ein wenig. Langsam laufe ich weiter, inspiziere weitere Fischerhütten und denke daran, dass die frühen Siedler auf Lofoten schon vor 6000 Jahren Fischfang betrieben. Funde beweisen heute, dass sie bereits damals Netzsenker und Angelhaken aus Knochen und Horn verwendeten. Ich denke daran, wie es hier vor ein paar Hundert Jahren ausgesehen haben muss. Wie mehre Fischer auf engsten Raum in so einer winzigen Hütte gepfercht wurden.

In Bezug auf reiche Fischgründe ist diese Region von der Natur gesegnet, denn von Januar bis April ziehen große Schwärme Kabeljau (norwegisch-arktische Dorsche) vom Norden hier vorbei, um zu laichen. Ein Grund dafür, dass bereits vor 1100 Jahren sich die erste mittelalterliche Stadt Nordnorwegens Vágar entwickelte. Der Fischreichtum sprach sich schnell herum, sodass während der Saison bis zu 30.000 Fischer in ihren einfachen Nordlandbooten (Ein traditioneller offener Bootstyp, der in den nordnorwegischen Provinzen Nordland, Troms und in der Finnmark bis Ende des 19. Jahrhunderts für den Fischfang gebaut wurde), aus ganz Nordnorwegen in diese Region segelten oder ruderten.

Ich blicke durch die Bretterritzen einer Scheune, erkenne ein paar der alten, kleinen norwegischen Nordlandboote. Ruder, Taue, Netze, alles, was das harte Leben der Fischer ausmachte, liegen herum oder hängen an den vom Zahn der Zeit gealterten Holzwänden. Das Leben eines Fischers war äußerst beschwerlich und trotz großer Fänge reichte es meist geradeso aus, um zu überleben. Gründe dafür waren, dass sie zu überhöhten Preisen kleine Hüttchen mieten mussten, die ihnen von den „Dorµerren“ zugeteilt wurden, die gleichzeitig auch als „Nessekonger“ (also „Großkaufleute“) bezeichnet wurden. Sie waren die Besitzer der Hütten und des Landes, auf dem sie errichtet waren und bauten ihren Reichtum auf den Rücken der Fischer auf. Bis vor zwei Generationen besaß der „Fischkönig“ den gesamten Ort Å. Sein Enkel kommt meist nur noch in den Sommermonaten nach Å. Die restliche Zeit Jahres verbringt er in Oslo. Heute gehört der größte Teil des Dorfes und der nahe Süßwassersee der Familie Johan B. Larsen und deren Nachkommen. Die einzelnen Fischer hatten demnach bis zum heutigen Tag keine Chance, ihr eigenes Land zu erwerben. Nur die Landbesitzer hatten das Recht, den Fisch von den geknechteten Fischern zu ihren eigenen Preisvorstellungen zu kaufen. Der Fisch wurde nach dem Fang ausgenommen, geköpft und luftgetrocknet. Den so entstandenen Stockfisch verkauften die „Nessekonger“ in das 1.500 km entfernte Bergen. Von dort wurde er nach ganz Europa weiterverkauft. Stockfisch war ein wichtiges Exportprodukt, mit dem Norwegen große Einnahmen erzielte, denn er diente zu jener Zeit der massenhaften Versorgung von Schiffsmannschaften und Soldatenheeren. Er spielte eine entscheidende Rolle in der westlichen Weltpolitik, denn ohne die ausreichende Ernährung der Schiffsmannschaft wäre die Entdeckung der Welt nicht möglich gewesen. Die Versorgung der Besatzung mit unverderblichen Lebensmitteln war von elementarer Wichtigkeit. Während der Zeit der Wiederentdeckung und Erkundung Amerikas ab 1492 besann man sich auf die schon seit langem bekannte Tradition der Konservierung mit Luft und Salz, um die Mannschaft auf monatelangen Seefahrten mit Trockenfisch und eingepökelten Fleisch zu ernähren. Um Skorbut der Haupt-Todesursache bei Seeleuten vorzubeugen, wurde der Mannschaft zusätzlich in Fässern konserviertes Sauerkraut, das Vitamin C enthält, verordnet. Der durch die Seefahrt bekannter gewordene Stockfisch fand im Mittelalter auch seine Wege aufs Festland, wo Fisch wenig verbreitet war, da man ihn vorher nicht transportieren konnte. So kam es, dass Stockfisch zur See oder auch am Land das meist verbreitete Lebensmittel der damaligen Zeit war und die kleinen Fischerörtchen auf Lofoten mit der weiten Welt dort draußen verband. Weil durch Überfischung in den letzten Jahrzehnten die Kabeljaubestände stark dezimiert wurden, ist der klassische Stockfisch heute relativ teuer geworden und hat somit seinen Ruf als „Arme-Leute-Essen“ weitgehend verloren.

Der Wind lässt mich bei gerade Mal 6 Grad frösteln. Ich sehe auf die Uhr und stelle fest, jetzt schon seit einer Stunde hier herumzustreifen. Ajaci, der artig neben mir läuft, sieht mich an. „Was möchtest du? Sollen wir wieder zu Tanja zurück?“ „Iiiuuhhii!“, antwortet er aufheulend. „Ist gut, lass uns noch ein paar der Häuschen und das größere Gebäude dort ansehen“, antworte ich. Mein Glück versuchend drücke ich den abgegriffenen Türgriff nach unten. „Da ist offen“, erschrecke ich überrascht. Vorsichtig treten wir in das dunkle Innere. Es riecht tatsächlich ein wenig nach Fisch, so als würde hier noch jemand leben. Auf einem niedrigen, aus einfachen Brettern gezimmerter Tisch liegen Wollhandschuhe, ein Emailteller, Tasse und Löffel. Faustgroße Glaskugeln, die in ein grobes Netz aus Hanfseilen eingenäht sind, liegen daneben. „Offensichtlich sind das Schwimmer, die Fischernetze an der Wasseroberfläche halten sollten“, geht es mir durch den Kopf. Ein betagter Bilderrahmen steht ebenfalls auf dem Tischchen. Er umrahmt eine alte Schwarz-Weiß-Aufnahme. Sie zeigt Männer beim Netzeflicken und eine Frau, die sich an dem kleinen Kanonenofen zu schaffen macht. „So haben sie hier früher gelebt“, sage ich andächtig. Als würde Ajaci mich verstehen, spitzt er die Ohren und sieht mich mit seinen großen Augen von der Seite an. Durch das einzige Fenster der Hütte dringt trübes Tageslicht und fällt auf eine Wäscheleine, an der gestrickte Wollhandschuhe und Socken hängen. In einem einfachen Holzfass war sicherlich Trockenfisch gelagert. Mein Blick fällt auf einen runden Waschzuber, Blecheimer und mit Blech beschlagene Holztruhen. Jeder dieser Truhen hat die gesamte Habe eines Mannes beinhaltet. Dann entdecke ich das, was höchstwahrscheinlich ein Bett sein soll. Es ist so kurz, dass man sich nicht ausstrecken kann. Ich habe gelesen, dass solche Bettstätten von zwei Fischermänner geteilt wurden, weswegen sie im Sitzen schlafen mussten. Viele der Fischermänner sind das ganze Jahr über hiergeblieben. Entweder hatten sie kein Geld für die Heimfahrt oder sie wollten sich nicht auf die lange beschwerliche Reise begeben. Wie auch immer, sie mussten die Miete für ihre einfache Bleibe bezahlen, die zu jener Zeit so knapp waren, dass sich bis zu zwölf Männer solch eine kleine Behausung teilen mussten die manchmal mit vier Etagenbetten ausgestattet waren. „Unfassbar“, denke ich und merke, wie sich mir die Haare zu Berge stellen. Im Vorraum hängen gelbes und rotes Ölzeug. Die wasserdichte Schutzkleidung zeigt, dass es noch nicht allzu lange her sein kann, als hier die letzten Fischer lebten. Die Tradition, sich während der Saison in solchen winzigen Fischerhütten einzumieten, ist mindestens 1000 Jahre alt, jedoch würde heute kein Mensch mehr unter solchen einfachen Bedingungen leben wollen. Die moderne Technik und Zivilisation gewähren heute jedem norwegischen Fischer ein warmes, gemütliches modernes Haus. Jedoch bin ich nicht sicher, ob sie bis heute von listigen und geschäftstüchtigen Kaufleuten ausgenommen werden. Auf dem Rückweg schaue ich noch bei der alten Poststelle und der heruntergekommenen Lebertranfabrik vorbei, aus der es noch immer fürchterlich nach altem Fischöl stinkt. Soweit ich weiß, wurde die Produktion erst vor wenigen Jahrzehnten eingestellt. Der seit 1854 hergestellte, bekannte Möller´s Omega-3-Lebertran wird aber noch heute in Norwegen hergestellt und in vielen Supermärkten angeboten.

„Sind wieder da“, sage ich nach meinem Ausflug wieder in die angenehme Wärme der Terra tretend. „Ihr wart aber lange weg?“, wundert sich Tanja. „Ich bin ein wenig durch den Ort gelaufen. Ist alles verlassen. Eine der Hütten war offen. Ajaci und ich sind reingegangen und ehrlich gesagt war es da drin ein wenig unheimlich. Ich hatte das Gefühl, die Wände sprechen zu mir und erzählen von dem Leid der Fischermänner, die dort nach ewig harter Arbeit ihr Leben ließen.“ „Ja ich weiß, dass es leer ist. Habe heute Morgen schon die Gassirunde mit Ajaci durchs Dorf gemacht“, antwortet Tanja. Beim Abendessen sprechen wir über unsere weitere Reise. „Meinst du, wir können auf Lofoten Polarlichter sehen?“, fragt Tanja. „Wir sind im Norden. Es müsste also möglich sein. Voraussetzung ist allerdings ein wolkenloser Himmel. Nachdem Wetterbericht sollte morgen gutes Wetter sein. Vielleicht haben wir morgen Glück. Wir sollten aber weiterfahren. Glaube nicht, dass der Platz hier gut für eine Polarlichtersichtung ist“, antworte ich. „Mir soll es recht sein, wenn wir weiterfahren. Ist zwar schön hier, aber es gibt bestimmt bessere Stellplätze.“…

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