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Rumänien/Bukarest

Fühle mich als wäre ich gerade einer Horde blutrünstiger Hyänen entkommen.

N 44°26'48.2'' E 026°03'41,6''

Geschehnisse vom 29.06.2006

Der Morgen ist nichts anderes als die Fortsetzung eines Alptraums aus dem es kein Erwachen gibt. Meine Persönlichkeitsstruktur hat sich von Heiterkeit, Tatendrang, Entdecker- und Lebenslust schlagartig in Angst, Lustlosigkeit, Trübsal und Hoffnungslosigkeit geändert. Die Intensität der Schmerzen ist mit Worten nicht mehr zu beschreiben. Mir ist es unverständlich, dass der menschliche Körper in der Lage ist seinen Geist mit solchen Qualen zu drangsalieren.

Um 08:00 Uhr steht Dr. Ratiu wieder an meinem Bett und köpft die Spitze der Schmerzen mit einer Spritze. Dann tragen mich vier Männer wieder die Treppen hinunter und durch das Hotel. Ich winke dem Herren an der Rezeption zu. “Wir sehen uns wieder! Das nächste Mal aber laufend!”, rufe ich und ringe mir ein Lachen ab. Keine Ahnung woher ich diese Zuversicht nehme. Für mich selbst bete ich aus diesem Abenteuer ohne Querschnitzlähmung herauszukommen. Tanja organisiert alles was es zu organisieren gibt. Sie spricht mit der Rezeption, dem Arzt, dem Sanitäter und trifft Entscheidungen. “Tatü! Tata! Tatü! Tata!”, schrillt das Martinshorn in meinen Ohren als sich unser Sanitätsfahrzeug eine Schneise durch die dichte Blechlawine einer Millionenstadt bahnt.

Endlich sind wir da. Sehnsüchtig warte ich darauf in ein richtiges Krankenhaus eingeliefert zu werden, ein Krankenhaus ohne Blutflecken an der Wand, mit guten Ärzten die mir diese verdammten Schmerzen nehmen und mir die Beweglichkeit meiner Beine zurückgeben. “Es tut mir leid. Die Betten sind alle belegt. Ihr Mann müsste zwei bis drei Stunden warten bis ein Zimmer frei wird”, höre ich mit Entsetzen die Stimme von Dr. Ratiu. “Darf mein Mann sich während der Wartezeit in ein Bett auf dem Gang legen?” “Nein, es gibt keine Ersatzbetten. Es gibt nur eine Couch in die er sich setzen kann.” “Eine Couch?”, aber sie sehen doch, er kann nur liegen und das ist schon zu viel.” “Ja ich weiß. Nur was soll ich tun? Das Haus ist voll”, vernehme ich die Stimme in der tatsächliches Bedauern durchklinkt. Tanja setzt sich in den Krankenwagen neben meine Bare und schildert mir die Situation. “Unmöglich, nur der Gedanke daran meinen Oberkörper aufzurichten bringt mich um”, sage ich kleinlaut.

“Es gibt noch eine weitere Privatklinik in Bukarest. Die Beste in ganz Rumänien. Sie ist aber sehr, sehr teuer. Wenn sie möchten fahren wir sie dort hin”, schlägt Dr. Ratiu vor. “Was kostet dort die Nacht?”, möchte Tanja wissen. “Ich weiß nicht genau. Irgendetwas um die 100 Euro zuzüglich Arzt und Behandlung.”

Bei einem Durchschnittseinkommen von 50 Cent bis einem Euro in der Stunde müsste ein Rumäne dafür zwischen 100 und zweihundert Stunden arbeiten. Wenn man noch 50 Euro Medikamente und Arztrechnungen dazuzählt wären es zwischen 150 und 300 Arbeitsstunden. Bei einer 40-Std.-Woche müsste ein Durchschnittsverdiener zwischen 7 1/2 und 3 3/4 Wochen arbeiten, um nur einen Tag in der Privatklinik behandelt zu werden. Wohlgemerkt, ohne operative Eingriffe.

Tanja und ich sehen uns an. “Keine Frage, fahren sie uns bitte gleich hin”, entscheidet Tanja. Eine weitere viertel Stunde später werde ich aus dem Krankenwagen gehoben. Ein paar grüne Kittel rollen mich in die Aufnahme der Euroclinic von Bukarest. Plötzlich geht alles sehr schnell. Ohne die geringste Wartezeit wird meine rollende Trage in einen Aufzug geschoben. Dann öffnet sich die Tür zu einem kleinen aber blitzsauberen, nagelneuem Zimmer. Man hebt mich von der harten Bahre auf das wunderbare Bett. Erleichtert atme ich aus und fühle mich als wäre ich gerade einer Horde blutrünstiger Hyänen entkommen. Womit ich natürlich die Gesamtsituation meine und nicht die vielen Menschen die uns bisher geholfen haben.

Plötzlich fühle ich mich geborgen. Die Menschen sind außerordentlich nett zu mir. “Ich bin Dr. Cristina Vladulescu”, stellt sich die junge Stationsärztin in gutem Englisch vor. Sie lächelt mich an, fragt nach dem Unfallhergang. Als erste Ärztin beginnt sie mich zu untersuchen. Ich habe sofort Vertrauen zu ihr. “Wir werden morgen eine Kernspintomographie durchführen. Ich gehe davon aus, dass sie sich einen Bandscheibenvorfall zugezogen haben. Mit den Aufnahmen stellen wir den Schweregrad fest. Es kann sein, dass wir sie operieren müssen”, diagnostiziert sie. “Operieren? Um Gottes Willen. Ich möchte auf keinen Fall operiert werden. Können sie mich nicht mit Medikamenten soweit hinbringen das ich Transportfähig bin?”, frage ich entsetzt, denn das Letzte was ich möchte mich in Rumänien einer Bandscheibenoperation zu unterziehen. “Vielleicht werden die Medikamente die Entzündung soweit zurückdrängen das sie nach Hause fliegen können. Warten wir bis morgen und machen sie sich bitte nicht soviel Gedanken. Das wird schon wieder”, trösten mich ihre Worte ein wenig.

Nur Minuten nach dem Aufnahmegespräch und der Untersuchung hängt ein riesiger Tropfer an meinem Arm. Die Wirkung ist fantastisch, denn der Großteil des Schmerzes flattert wie eine gerupfte Krähe davon. Obwohl ich mich in einem Einbettzimmer befinde darf Tanja bleiben. “Dr. Vladulescu macht eine Ausnahme. Sie wollten mir ein Bett bringen. Ich habe abgelehnt. Wollte ihnen keine Mühe machen. Als ich der Ärztin anbot auf der Isomatte zu nächtigen wollte sie es unter keinen Umständen zu lassen”, erzählt mir Tanja. “Und? Wo willst du schlafen wenn sie dir kein Bett bringen sollen?” “Auf der Isomatte. Ich konnte mich durchsetzen.” “Hm, ein Bett wäre besser. Ist doch viel bequemer”, meine ich. “Wir haben Jahre auf der Isomatte geschlafen. Die paar Tage machen mir mit Sicherheit nichts aus.” “Wie du willst. Hauptsache du darfst hier bleiben. Aber wenn du möchtest kannst du in der Zwischenzeit in ein Hotel ziehen. Könnte ich gut verstehen. So ein Krankenhaus ist doch nicht angenehm”, schlage ich vor. “Mir wäre es noch viel unangenehmer nicht bei dir sein zu dürfen. Ich würde mich schrecklich fühlen. Ich lasse doch mein Häselchen nicht im Stich, nicht einmal für eine Stunde.” “Danke”, sage ich und spüre wieder Tränen auf meinen Wangen hinab rinnen.

Nach einem köstlichen Mittagessen besucht uns ein weiterer Arzt. Dr. Baltisanu ist Neurochirurg und unter anderem der Spezialist für Bandscheibenoperationen. “Nach ihrem Zustand zu urteilen müssen sie ihre Reise auf jeden Fall für einen Monat unterbrechen. Mehr weiß ich aber erst nach der Kernspintomografie”, erklärt er, worauf wieder Hoffnung erwacht unsere Trans-Ost-Expedition doch noch fortsetzen zu können. “Mal sehen. Selbst wenn wir sie operieren müssen ist ihr Reiseleben nicht gefährdet. Solche Operationen sind heute keine große Sache mehr”, meint er und verabschiedet sich von uns.

Noch am gleichen Tag spreche ich mit meinen Eltern. Sie sind tief erschrocken und bangen um meine Gesundheit. Nach vier Knieoperationen und anderen Zwischenfällen kann ich sie gut verstehen. “Ja, ich bin hier in guten Händen”, erkläre ich meiner Mutter und kann mein Zittern in der Stimme nicht verbergen. Plötzlich die vertraute liebe Stimme zu hören lässt mein Leid hervorsprudeln. Ich spüre wie sich meine Mutter beherrscht nicht selbst weinen zu müssen. Den eigenen Sohn mit einer schweren Rückenverletzung in einem rumänischen Krankenhaus zu wissen trifft das stärkste Gemüt. “Morgen wissen wir mehr. Vielleicht ist es ja nicht so schlimm. Es besteht in jedem Fall die Chance, dass sie mich auch mit Medikamenten hinbekommen. Dann kann ich ja Heimfliegen.” “Hoffen wir das Beste. Es wird bestimmt gut gehen. Viel Glück und bis morgen”, tröstet mich dann die ebenfalls vor Sorgen vibrierende Stimme meines Vaters.

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