Skip to content
Abbrechen
image description
/Grenz-Camp Link zum Tagebch: TRANS-OST-EXPEDITION - Etappe 3

Feuerholz für den Winter, egal mit welchen Konsequenzen?

N 53°16'06.9'' E 077°44'03.6''
image description

    Tag: 101

    Sonnenaufgang:
    05:55 Uhr

    Sonnenuntergang:
    19:43 Uhr

    Luftlinie:
    62.88 Km

    Tageskilometer:
    72.28 Km

    Gesamtkilometer:
    9903,97 Km

    Bodenbeschaffenheit:
    Asphalt

    Temperatur – Tag (Maximum):
    32 °C

    Temperatur – Tag (Minimum):
    11 °C

    Breitengrad:
    53°16’06.9“

    Längengrad:
    077°44’03.6“

    Maximale Höhe:
    126 m über dem Meer

    Maximale Tiefe:
    66 m über dem Meer

    Aufbruchzeit:
    09.30 Uhr

    Ankunftszeit:
    17.12 Uhr

    Durchschnittsgeschwindigkeit:
    13.21 Km/h

Nach einer angenehmen Nacht ruft der Hahn uns um sechs Uhr. “Lass ihn krähen”, murmle ich und drehe mich hundemüde auf die andere Seite. Im Turnus von 10 Minuten versucht uns das Krächzen vergeblich aus den Schlafsäcken zu schrecken, doch wir bleiben bis sieben Uhr standhaft. Dann raffen wir uns auf. “Könnte den ganzen Tag ruhen”, brumme ich. “Ich auch”; höre ich es leise. Wie in Zeitlupe ziehen wir unsere feuchten Radshirts und Radhosen an, stopfen die Schlafsäcke in die Ortliebkompressionssäcke, rollen die Isomatten zusammen und legen alles in die Apside. “Wie geht es meiner Geburtstagskönigin?”, frage ich liebevoll. “Ist ja leider wieder vorbei.” “Nicht ganz. Einen Tag danach bist du noch immer eine Geburtstagskönigin”, sage ich, denn schon seit Jahren halten wir es auf diese Weise, das angenehme Gefühl des Ehrentags zu verlängern. Tanja Schmunzelt und öffnet den Reißverschluss des Zeltes. “Oh schau wie schön es draußen ist!”, ruft sie. Jungfräuliche Sonnenstrahlen stehlen sich durch die Pappeln, die den Sichtschutz zwischen uns und der Fahrbahn bilden. Da wir uns hier an der Grenzstraße nach Sibirien befinden gibt es kaum Autoverkehr. Nur selten stört ein ratternder Motor die Idylle der Natur.

Wegen Tanjas Nachgeburtstagstag, lassen wir es weiterhin langsam angehen. Für einen leckeren Sonnentortee, von dem wir reichlich dabei haben, setzt Tanja Wasser auf den kleinen Kocher. In den angenehm wärmenden Strahlen der Morgensonne machen wir es uns vor dem Zelt gemütlich und genießen unser Müsli und ein paar Kekse.

Erst um 9:00 Uhr beladen wir unsere Lastesel. “Oh, du hast dein Rücklicht verloren!”, bemerke ich. Da Tanja ihr Sumobike liebt und es ihr auf den vielen tausend Kilometern unserer Reise ein zuverlässiger Gefährde geworden ist, möchte sie unter keinen Umständen das daran irgend etwas fehlt. Auch wenn es komisch klingen mag, hat sie zu ihrem Intercontinental so etwas wie eine persönliche Beziehung aufgebaut. “Ich gehe das Rücklicht suchen”, sagt sie entschlossen. “Aber wie willst du es finden? Wir haben unsere Räder gestern hunderte von Metern durch dickes Gestrüpp und Gras geschoben, um diesen versteckten Ort zu entdecken”, entgegne ich. “Genau, eigentlich kann ich es nur in dem hohen Gras oder auf dem Acker verloren haben. Ich finde es”, antwortet sie überzeugt, stellt sich einen Augenblick in die Richtung aus der wir gekommen sind, konzentriert sich und läuft los. Während Tanja ihr Rücklicht sucht baue ich weiter unser Lager ab. Obwohl es bald aussichtslos ist so ein kleines Teil in der Pampa wieder zu finden, bin ich von ihrem Erfolg überzeugt. Ich erinnere mich, dass Tanja während unserer Taklamakan-Durchquerung (Wüste des Todes in Westchina), in einer der versunkenen uralten Städte, ein Schmuckstück finden wollte. Ich hatte sie damals etwas belächelt, doch siehe da, sie hatte einen bronzenen Ring aus dem Sand gezogen. Ein paar Jahre später, als wir während der Vorbereitung unseres 7.000 Kilometer langen Marsches durch Australien, mit einem Detektor nach Gold suchten, wurde sie in nur drei Schritten fündig. Unsere damaligen professionellen Goldgräberfreunde und ich lachten lauthals als Tanja rief: “Seht mal! Ich glaube da ist was!” In der Tat hatte sie zu unserer großen Überraschung einen 7.000 Dollar wertvollen Nugget aufgespürt. Seitdem weiß ich, dass Tanja eine Nase dafür hat die unmöglichsten Dinge zu entdecken. In der Tat kommt sie 10 Minuten später freudestrahlend zurück. “Hier”, sagt sie und reicht mir das kleine Rücklicht. Sofort baue ich es wieder an ihr Rad.

20 Kilometer später, in dem Grenzörtchen Uspenka, füllen wir an einem Dorfbrunnen unsere Wasserreserven auf. Plötzlich kommen eine junge Frau und ein etwa 50 Jahre alter Mann auf uns zu. Sie sprechen uns in perfektem Deutsch an. “Wir sind hier um unsere Familie zu besuchen”, erfahren wir. Erfreut nach längerer Zeit wieder in unserer Muttersprache kommunizieren zu können, nutzen wir die Gelegenheit für ein nettes Gespräch. “Meine Schwester würde sie gerne zum Tee einladen”, meint der Mann der sich mit dem Namen Ivan vorstellt. “Haben wir die Zeit?”, frage ich Tanja ansehend, da die Grenze noch über 70 Kilometer von hier entfernt ist und wir so nahe wie möglich an sie heran wollen, um sie morgen in Richtung Sibirien zu überschreiten. “Klar”, antwortet Tanja, weshalb wir unsere Räder in den nahen Hof von Ivans Schwester, die hier mit ihrem 80 Jahre alten Vater lebt, schieben.

“Kommt doch in unsere Sommerküche”, lädt uns Ivans hübsche Tochter Irina ein. “Eine Sommerküche?”, fragen wir. “Ja, die Menschen hier in Kasachstan haben oftmals einen Raum in dem sie im Sommer kochen und sich aufhalten. Es ist ein luftiger Raum außerhalb des Hauses. Wegen den unzähligen Fliegen können die Menschen nicht draußen essen, also besitzen sie so eine Sommerküche”, erklärt sie. Die 22 jährige Irina, die schon als vierjähriges Mädchen mit ihrem Vater und ihrer Mutter nach Deutschland ausgewandert ist, spricht akzentfreies Deutsch. Sie ist mit ihrem Vater schon seit knapp drei Wochen hier, um Großvater und Tante zu besuchen und um ihnen beim Renovieren des alten Hauses zu helfen.

“Es ist nicht leicht für mich”, meint Ivan. “Seit vier Jahren komme ich jetzt schon jeden Sommer hierher, um meine Ferien zu verbringen. Eigentlich müsste ich auch mal Urlaub machen, aber ich bin natürlich verpflichtet meiner Schwester unter die Arme zu greifen und meinen alten Vater zu besuchen. Es sind reine Arbeitsaufenthalte. Im Augenblick fliese ich das Bad. Leider bekommt man im Dorf kaum Materialien dafür. Es gibt nicht den richtigen Kleber, die passenden Schrauben, Nägel, Fliesen oder was auch immer. Man muss alles aus der 100 Kilometer entfernten Stadt Pawlodar besorgen. Für die Meisten hier ist es aber nicht leicht die große Stadt zu erreichen. Sie besitzen kein Auto und mit dem Bus ist es eine halbe Weltreise. In den Dörfern machen die Menschen alles selber. Strom und Rohre verlegen, mauern, Fenster einbauen, Dach decken, Autos reparieren. Wenn die Dörfler einen Fachmann aus der Stadt kommen lassen ist er kaum zu bezahlen und außerdem pfuschen die so genannten Spezialisten geradezu unglaublich”, erklärt er. “Was verdient man hier im Dorf im Monat?”, interessiert es mich. “Mein Vater bekommt eine Rente von 22.000,- Tenge (120,- Euro) im Monat. Davon kann er nicht überleben. Meine Schwester ist nach dem Tod meiner Mutter hierher gezogen, um ihn zu unterstützen. Sie arbeitet in einer 24 Stundeschicht an einer Tankstelle und verdient 19.000,- Tenge (103,- Euro) im Monat. Das reicht ebenfalls nicht aus. Ihr seht ja was das Leben in Kasachstan kostet. “Was bedeutet 24 Stundenschichten?” “24 Stunden am Stück arbeiten und danach zwei Tage frei.” “Und das für 104,- Euro im Monat?” “Ja. Manche verdienen aber nur 9.000,- Tenge (50,- Euro) im Monat. Das Überleben klappt dann nur wenn die Familie zusammen hilft und man durch das Einlegen von Tomaten, Gurken, das Zuberreiten von Marmelade, Saft usw. Vorräte anlegt die vor allem nicht gekauft werden müssen. Viele Menschen greifen dann aus Frust zur Flasche. Das Resultat seht ihr ja häufig auf der Straße. Vor allem im Winter, wenn es hier minus 35 Grad kalt wird, ist das Leben hart. Ihr habt euch doch bestimmt gefragt warum die Waldstreifen, die zum Schutz gegen Schneeverwehungen an den Rändern der Straße gepflanzt wurden, oftmals abgebrannt oder lückenhaft sind.” “Haben wir.” “Nun, die Menschen dürfen diese Bäume natürlich nicht abschlagen, um sie in ihren Öfen zu verfeuern. Das ist verboten. Aber wenn sie abgebrannt sind kann ja keiner etwas dagegen haben wertloses, angebranntes Holz einzusammeln. Um im Winter nicht zu erfrieren werden also die paar Bäume angezündet. Das was übrig bleibt wird danach eingesammelt und landet in den Öfen. Reine Überlebenstaktik.” “Was ist wenn die Bäume weg sind?” “Darüber denkt keiner nach. Erstmal ist es wichtig Winter für Winter zu überleben. Auch die von Schneeverwehungen ungeschützten Straßen interessieren die Menschen kaum. Durch den fehlenden natürlichen Schutzwall werden die Straßen meterhoch unterm Schnee begraben. Die Meisten haben ja sowieso kein Auto. Da ist es ihnen egal ob die Straßen im Winter nicht mehr passierbar sind.” “Und wie sieht es dann mit Nachschub aus? Ich meine so ein Dorf muss doch gerade im Winter mit Nahrungsmittel und allen möglichen überlebensnotwendigen Material versorgt werden? Wenn die Straßen dicht sind kann doch kein Lastwagen mehr kommen und Güter bringen?” “Darüber denkt man anscheinend nicht nach. Es ist einfach eine Katastrophe.” “Gibt es kein Feuerholz zu kaufen?” “In Kasachstan? Das Land besteht doch zum Großteil nur aus Steppe und Weizenfelder, zumindest im Norden. Aber Feuerholz gibt es jede Menge zu kaufen. Es wird aus Sibirien hierher gebracht. Die Russen verlangen für einen Kubikmeter 7.000,- Tenge (38,- Euro). Das kann sich kaum einer leisten.” “7.000,- Tenge?”, frage ich erschrocken. “Das ist ja Wucher.” “Ist es. Aber Holz ist wie gesagt Mangelware und deshalb werden eben die paar Wälder abgebrannt.” “Hm, verstehe.”

Wir könnten uns noch lange mit Ivan und seiner Tochter Irina unterhalten müssen aber weiter, um heut noch ein paar Kilometer auf den Asphalt zu spulen. Zum Abschied packt uns Irina noch ein paar frische und leckere Tomaten ein. Dann schütteln wir die Hände und bedanken uns für den guten Tee und Käsebrote. Kaum haben wir unsere Intercontinental auf die Straße gerollt werden wir von einer Gruppe Jugendlicher umringt. “Hier bitte nehmt”, sagt einer von ihnen und reicht mir ein Buch. Ich bin sprachlos und versuche gerade zu erklären dafür keinen Platz im Anhänger zu besitzen als er es öffnet und mir etwa 300,- Tenge (1,62- Euro) in Münzen entgegenpurzeln. Der etwa 15 Jahre alte Junge sieht mich mit strahlenden Augen an und wartet auf meine Reaktion die sein großzügiges Geschenk bei mir auslöst. “Vielen Dank aber ich habe wirklich keinen Platz”, versuche ich seine gut gemeinte Gabe abzulehnen, worauf er verschwindet und mit einer edlen, hier wertvollen Plastiktüte ankommt. “Er hat mich falsch verstanden”, sage ich etwas verzweifelt zu Tanja und winke Ivan her der unsere Abfahrt von seinem Garten aus beobachtet. Ivan erklärt dem jungen Mann unsere Situation, worauf er sein Buch und das darin befindliche Ersparte zurücknimmt. Um seine Enttäuschung zu mindern schenke ich ihm ein frisch gewaschenes Frottearmband. Die Augen des Jungen hellen sich wieder auf. Lachend gesellt er sich zu seinen Freunden. Kurz bevor wir wieder in die Pedale treten schenkt mir ein anderer Heranwachsender eine neue, hübsche kasachische Moslemkappe. “Dafür hast du Platz”, meint er. “Habe ich”, antworte ich mich bedankend und stecke sie in meine Lenkertasche.

Wir freuen uns über Kommentare!

This site is registered on wpml.org as a development site.