Fast unheimlich wie sich Gedanken und Wünsche manifestieren
N 68°41’49.3’’ E 015°26’49.7’’Datum:
05.10.2020
Tag: 064
Land:
Norwegen
Ort:
Sortland
Tageskilometer:
100 km
Gesamtkilometer:
5607 km
Bodenbeschaffenheit:
Asphalt / Unbefestigt
Brückenüberquerungen:
5
Sonnenaufgang:
07:19
Sonnenuntergang:
18:14
Temperatur Tag max:
14°
Temperatur Nacht min:
9°
Aufbruch:
12:00 Uhr
Ankunft:
16:00 Uhr
(Fotos zum Tagebucheintrag finden Sie am Ende des Textes.)
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Es ist 21.30 Uhr. Wir liegen in unserer wohligen Koje. Während Tanja sich einen Film über Netflix ansieht, lese ich ein Buch der Uhtred-Saga des Schriftstellers Bernard Cornwell. Mir die müden Augen reibend lege ich meinen E-Book-Reader auf meine Brust und denke an die Frau, die zu Beginn unserer Reise mitten in Hannover 400 ihrer Bücher auf einem Mäuerchen neben dem Gehweg auslegte, um sie zu verschenken. Um Gewicht einzusparen, hatten wir kurz vorher ein 20 Kilogramm schweres Paket mit Büchern und anderen Dingen, die wir nicht unbedingt benötigten, nach Hause gesendet. Trotzdem ließ ich mich von der Frau überzeugen, eines ihrer Bücher mitzunehmen. „Es gibt keine Zufälle“, blitz ein Gedanke durch mein Gehirn, denn mittlerweile lese ich den sechsten Band, der vom Leben und Kriegszügen der Wikinger handelt. Gespannt darauf, wie die Geschichte weitergeht, nehme ich den E-Book-Reader wieder hoch. Dabei fällt mein Blick aus dem Fenster. Ein grünlicher Schimmer lässt mich hochfahren. „Was ist los?“, fragt Tanja erschrocken. Ich glaube da draußen wölben sich Nordlichter über die Stadt.“ „Echt!“ „Ja“, antworte ich, springe von unserem Bett, schlüpfe in die Hose, streife mir einen Pullover über, schnüre meine Schuhe zu und schnappe mir die Kamera.
„Der Hammer! Komm schnell raus!“, rufe ich. Sprachlos stehen wir auf der halb verfallenen Anlegestelle und bestaunen die Nordlichter, die über der von zahllosen bunten Lichtern beleuchteten Stadt Sortland tanzen. „Ich glaube es nicht. Die sind ja noch schöner als auf Lofoten!“, schwärme ich die kräftigen grünen Streifen bewundernd. Auf der glatten Wasserfläche des Fjords spiegeln sich die Lichter der beleuchteten Stadt und vermischen sich mit der Reflexion der limettengrünen Aurora. „Hast du gesehen, welcher Zauber über der Brücke stattfindet?“, durchdringt Tanjas Stimme meine Gedankenwelt, worauf ich meinen Blick nach Norden richte. „Nicht zu fassen! Das wird ja immer besser!“, rufe ich ein Bild vor Augen zu haben, welches nicht von dieser Welt zu sein scheint. Wie ein gleißendes schmales Band wölbt sich einen Kilometer vor uns die knapp 1.000 Meter lange, von Kunstlicht beleuchtete Brücke über den Fjord. Die zwei Hauptstützpfeiler in der Mitte der Brücke sind von Scheinwerfern angestrahlt und lassen sie in einem kräftigen Magenta erstrahlen. Die purpurfarbenen Reflexionen auf der Wasseroberfläche sind so intensiv, dass sie bis zu unseren Füßen reichen und erst am Anlegesteg enden. Auf der linken Seite der Brücke funkelt die Stadt Sortland in einem gleißenden Lichtermeer. Auf der rechten Seite der Brücke wir das Fjordufer von Straßenlaternen beleuchtet, dessen weißes Glänzen sich ebenfalls auf dem Meerwasser spiegelt. Ein Luftzug haucht über das Tal, lässt die Spiegelungen erzittern, sodass man meinen könnte, die Lichter der Straßenlaternen seien die überdimensional langen Finger eines Geistes, die nach den bunten Reflexionen der gegenüberliegenden Seite greifen. Über dem außergewöhnlichen Schauspiel wölbt sich nun auch noch die limettengrüne Aurora. Die langen, unnatürlich wirkenden Farbstreifen winden sich wie die anmutigen Bewegungen einer Riesenschlange, über den mit Millionen von Sternen durchsetzen Nachthimmel. Unsere Köpfe im Nacken gelegt stehen wir bewegungslos da und erleben erneut ein kosmisches Naturschauspiel, das seines Gleichen sucht. „Wow“, flüstere ich ehrfürchtig. „Jetzt wissen wir, warum uns die geschlossene LPG-Tankstelle hierhergeführt hat“, raunt Tanja. „Ja, da hatten wir noch gescherzt und jetzt ist das Außergewöhnliche tatsächlich eingetreten. Ist fast ein bisschen unheimlich.“ „Stimmt, da sieht man wieder einmal, wie sich Gedanken manifestieren können“, sinniert Tanja. „Wenn wir in Zukunft irgendwo zu spät dran sind, werde ganz bestimmt nicht mehr fluchen“, antworte ich kleinlaut und tief berührt. „Bis dahin wirst du es wieder vergessen haben.“ „Vielleicht, aber ich arbeite daran, das Unabänderliche zu akzeptieren. Damit lebt es sich einfach besser“, sage ich und stelle die Kamera auf Zeitraffer ein, um das Wandern der Polarlichter festzuhalten…