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Russland/Angarsk Link zum Tagebuch TRANS-OST-EXPEDITION - Etappe 4

Ein Tag wie eine Woche

N 52°29'25.2'' E 103°49'09.9''
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    Tag: 45

    Sonnenaufgang:
    06:20 Uhr

    Sonnenuntergang:
    22:02 Uhr

    Luftlinie:
    32.18 Km

    Tageskilometer:
    42.78 Km

    Gesamtkilometer:
    11944.89 Km

    Bodenbeschaffenheit:
    Asphalt

    Temperatur – Tag (Maximum):
    25 °C

    Temperatur – Tag (Minimum):
    20 °C

    Temperatur – Nacht:
    15 °C

    Breitengrad:
    52°29’25.2“

    Längengrad:
    103°49’09.9“

    Maximale Höhe:
    536 m über dem Meer

    Maximale Tiefe:
    480 m über dem Meer

    Aufbruchzeit:
    12.10 Uhr

    Ankunftszeit:
    17.30 Uhr

    Durchschnittsgeschwindigkeit:
    15,79 Km/h

Um unsere Erlebnisse in den Satellitenhimmel zu schicken, damit sie nur Sekunden später in unserer Webseite erscheinen, suche ich von unserer Gastiniza aus das passende Fenster. Nur wenn die Antenne nach Südwesten zeigt habe ich Empfang. Im Zimmer gegenüber steht die Tür offen. Die Putzfrau ist dabei es zu reinigen. Da sie gerade nicht da ist nutze ich die Gelegenheit, schlüpfe in den Raum und checke mit dem Kompass die Himmelsrichtung. Perfekt. Ich stelle das Telefon ans Fensterbrett und schließe meinen Itronix Laptop an. Die Übertragung klappt. “Sehr gut”, freue ich mich und blicke während dessen in den Hof unter mir. In den Mülltonnen wühlt ein Bettler nach Essbaren. Eine Hotelangestellte findet ebenfalls einige Tüten mit frischem Brot. Gleich nebenan befindet sich eine Großbäckerei. Brot, das anscheinend angebrannt ist, wird fein säuberlich in Plastiktüten gepackt und in den Müll geworfen. Es ist offensichtlich unverkäuflich aber einer der Arbeiter dort verteilt es auf diese Weise unter die bedürftigen Menschen.

Auf unserem Weg durch die Stadt Usolje-Sibirskoje begegnen wir vielen Betrunkenen. “Diese Stadt ist der reinste Sündepfuhl. Ihr müsst dort sehr auf euch aufpassen. Es wimmelt von Drogensüchtigen. Viele spritzen sich Heroin und die Kriminalität ist hoch”, hat uns Nikolai gewarnt. In der Tat besitzt diese Stadt eine unangenehme Ausstrahlung. Ob wir durch Nikolais Warnung voreingenommen sind? Wer weiß. Auf jeden Fall sind wir froh diese hässliche Siedlung hinter uns zu lassen.

Das Verkehrsaufkommen hat sich weiter gesteigert. Die Autos und Lastwägen hupen was das Zeug hält. Manchmal wissen wir nicht mehr ob sie uns damit begrüßen oder warnen. Es gibt keinen Seitenstreifen um auszuweichen. Als wäre das hier eine deutsche Autobahn, jagen die Fahrzeuge in irrer Geschwindigkeit an uns vorbei. Wahrscheinlich veranlasst durch den relativ guten Asphaltbelag. Plötzlich wird die Strecke vierspurig. Der Freischein für unbegrenzte Geschwindigkeit. Schweißtropfen laufen mir übers Gesicht und Körper. Nicht wegen der Anstrengung, sondern der aufkommenden Angst. Obwohl wir auf den letzten 12.000 Kilometern immer wieder einmal auf schwer befahrenen Bundesstraßen und sogar Autobahnen unterwegs waren, kann ich mich einfach nicht an den rasenden Wahnsinn gewöhnen. Zweifelsohne sind das die negativen Momente eines Langstreckenradlers. Da hilft nur beten, hoffen und bangen. Vor allem darf man die Zuversicht nicht verlieren. Aufkommende Panik verschlimmert die Situation um ein Vielfaches. Ja, ich würde sogar behaupten, dass Panik und dadurch hochkommende negative Gedanken, potentielle Gefahren und Unfälle erst kreieren. Bleibt man gelassen, schnurrt man mit seinem Rad unbeirrt geradlinig dahin. Beginnt man zu Hyperventilieren überträgt sich das auf den Lenker. Das Rad beginnt zu schwanken. Wenn so manches Auto dicht an uns vorbeischießt ist Schwanken und Unsicherheit keine gute Idee.

An einer schönen Raststätte steht eine Schaschlikbude. Der Rauch von frisch Gegrilltem zieht über die verkehrsreiche Straße. “Lass uns eine kurze Pause einlegen!”, rufe ich. Wir lehnen unsere Sumobikes gegen eine Mauer. “Kommen sie, kommen sie. Das Schaschlik schmeckt vorzüglich!”, ruft der Mann hinterm Grill. Ich kaufe einen Spies und setze mich mit Tanja an einem der in der Sonne stehenden Tische auf denen Ketchupflaschen stehen. In einem großen Beutel gibt es Brotstücke, von denen man sich so viele nehmen kann wie es der Hunger erfordert. Auch von einem Teller mit Zwiebeln dürfen sich die Gäste bedienen. Wir genießen die angenehme Atmosphäre bis ein groß gewachsener Mann in Uniform direkt auf uns zukommt. Von weitem spüre ich schon seine negative Ausstrahlung und sehe bewusst in eine andere Richtung. “Ihr kommt aus Deutschland?”, fragt er. “Ja”, antworten wir. “Hast du so einen Ring?”, möchte er wissen und drückt mir das Schmuckstück in die Hände. Ich erkenne, dass es ein Ring der SS ist und blicke ihn verständnislos an. An seinem Gürtel trägt der Mann ein Messer und Pfeffergas. Im Schulterhalfter steckt eine massive Pistole. “Nein”, sage ich und versuche trotz des Angst einflössenden Eindrucks, den der Russe vermittelt, zu lächeln. “Hm”, sagt er ernst, nimmt sich den Ring wieder aus meinen Händen, kehrt uns den Rücken und setzt sich zu seinem Freund neben uns an einen der Tische. “Der Mann macht mir echt Angst. Lass uns weiterfahren”, fordert Tanja auf. Wir schwingen uns auf die Räder. Als wir an dem Bewaffneten vorbeiradeln streckt dieser den Arm zum Hitlergruß aus und lacht. “Seltsam das es auch in Russland Neonazis gibt”, meint Tanja. “Ja, anscheinend fällt es dem Menschen schwer aus der Vergangenheit zu lernen. Viele haben die Tragödie des Dritten Reiches vergessen oder nie begriffen”, sage ich nachdenklich und bin froh diesen schrägen Vogel hinter uns zu lassen.

Auf dem weiteren Weg durchqueren wir hübsch aussehende Dörfer die uns wieder auf andere Gedanken bringen. Vor den Häusern sind oftmals kleine Stände aufgebaut in denen Kartoffeln, Blumenkohl, verschieden Rübenarten, Milch, Eier, Blumen, selbst gebastelte Besen und gehäkelte Teppiche angeboten werden. “Kommen sie mit. Ich zeigen ihnen meinen Garten”, fordert mich eine alte Sibirierin auf, nachdem ich sie mit ihrem Verkaufsstand fotografiert habe. “Da sehen sie. Ist das nicht schön?”, fragt sie. “Otschin Krasiwie”, (“Sehr schön”) lobe ich ihren wunderbaren Gemüse- und Blumengarten. “Da ßwidanja”, (“Auf wieder sehen”) verabschiede ich mich dann wieder von der netten Frau. Da wir heute keine weite Strecke vor uns haben lassen wir uns treiben. Wir besichtigen eine ehrwürdige orthodoxe Kirche, fotografieren und filmen das Leben in den Dörfern.

Kurz vor der Stadt Angarsk stoppen wir wieder in einem Straßenrestaurant. Der Inhaber ist ein Armenier, der uns freundlich bedient und ein leckeres Essen serviert. “Der Tee geht auf unsere Kosten”, sagt die Tochter des Armeniers uns nach der Mahlzeit zwei dampfende Tassen auf den Tisch stellend. Im Laufe des folgenden Gespräches bietet sie uns an nach der Arbeit die Stadt zu zeigen. Da wir heute aber mit Vater Andrej verabredet sind lehnen wir dankend ab. Wieder serviert die Tochter des Armeniers namens Christina Tee und schenkt Tanja eine kleine Stoffmaus zur Erinnerung. Plötzlich klingelt das Mobiltelefon. “Tanja? Denis? Ich bin es. Andrej. Wo seid ihr denn gerade?”, fragt der Priester, den wir vor wenigen Tagen im Ort Kutulik kennen lernten. “Wir sitzen in einem Cafe am Ortseingang von Angarsk”, erklärt Tanja. “Bleibt wo ihr seid. Ich komme euch holen”, sagt er und legt auf. Nur Zehn Minuten später stoppt ein weißes Auto vor uns. Ein bärtiger junger Mann, mit geflochtenem Zopf, steigt aus und kommt lachend auf uns zu. Weil wir Vater Andrej in seinem schwarzen Ornat erwarteten, erkennen wir den Mann, der in blauen Jeanshemd und dunkler Hose gekleidet ist, kaum. “Schön euch zu sehen”, begrüßt er uns und bestaunt für einige Augenblicke unsere schwer beladenen Räder. “Also ich fahre voraus. Ihr folgt mir. Ich bringe euch in ein Hotel. Danach zeige ich euch die Stadt und unsere Kirche”, sagt er. Bevor wir antworten können sitzt er schon wieder in seinem Wagen und wartet darauf, dass wir unsere Böcke besteigen. Nur Augenblicke später folgen wir dem Priester. Vor uns gabelt sich die Hauptstraße. Andrej biegt ab womit er die Stadt links liegen lässt. Wir wundern uns nicht und strampeln weiter. Es beginnt zu nieseln. Wir sind trotz der kurzen Strecke müde. “Wo wohl dieses Hotel liegt?”, frage ich mich. “Warum lässt er uns nicht bei sich Zuhause wohnen?”, geht es mir weiter durch den Kopf. Nach 18 Kilometern folgen wir der Straße wieder in Richtung Angarsk. “Was soll denn das? Jetzt fahren wir von hinten wieder in die Stadt?” frage ich mich erneut und beginne mich über den vermeintlichen Umweg ein wenig zu ärgern. Wir sind erleichtert als Vater Andrej vor einem großen, neu gebauten Hotel anhält. “Das ist eure Bleibe für die Nacht”, sagt er und geht in das Haus. “Sieht teuer aus”, meine ich und folge dem Priester. “Was kostet die Nacht?”, frage ich die Frau an der Rezeption. “Nichts. Ich lade euch ein”, verblüfft mich die Antwort von Andrej. “Was? Nichts? Das geht unter keinen Umständen. Wir können uns von dir doch nicht in solch ein teures Hotel einladen lassen”, antworte ich freundlich aber bestimmt. Der Priester sieht mich aus gutmütigen Augen an und sagt: “Denis, der Besitzer ist ein Freund von mir. Er hat mir eine Nacht für euch geschenkt. Also alles kein Problem”, erklärt er. “Unglaublich, diese Menschen in Russland”, geht es mir wieder durch den Kopf. Der Pater hilft uns die Räder in der Tiefgarage zu verstauen und trägt mit uns die Ausrüstung in ein wunderschönes, großzügig und topmodern eingerichtetes Zimmer. “Der Raum eines Königs”, sagt er über den Parkettboden schreitend. “In der Tat”, antworte ich sichtlich erfreut, denn bisher hatten wir noch nicht das Vergnügen so luxuriös unterzukommen.

Ich habe nicht all zuviel Zeit. Wie lange braucht ihr um euch zu duschen?”, fragt er. “In 20 Minuten sind wir fertig”, antworte ich. “Lasst euch Zeit. Ich habe nur gescherzt. Ich warte im Cafe auf euch”, antwortet er lächelnd und verlässt den Raum. Tanja und ich genießen die heiße Dusche. Dann, 20 Minuten später, sind wir wieder bei Pater Andrej. “Ah, pünktlich wie die Deutschen”, lacht er und fordert uns auf in sein Auto zu steigen. Wenig später parken wir vor den typischen heruntergekommenen und hässlichen Wohnbunkern, die in der einstigen kommunistischen Sowjetunion alle ähnlich aussehen. “Ich hole schnell meine Familie ab dann zeige ich euch Angarsk”, schlägt er vor und verlässt das Auto. Minuten darauf begrüßen wir seine Frau, die ihre neun Monate junge Tochter im Arm hält und ihren vier Jahre alten Sohn an der Hand führt. “Schön euch kennen lernen zu dürfen”, begrüßt uns Swetlana in gutem Englisch. Kaum sitzen wir alle im Auto fährt uns Andrej in die Innenstadt. “Die Hauptstraße ist nach dem Vorbild von Sankt Petersburg gebaut worden”, erklärt Andrej als wir in eine großzügig angelegte Straße mit Grünstreifen abbiegen. Links und rechts der Prachtstraße reihen sich die Häuserblocks deren Fassaden zum Teil erhaben wirken. “Angarsk ist im Verwaltungsgebiet Irkutsk mit ca. 270.000 Einwohner die zweitgrößte Stadt und wurde erst 1949 als Station der Transsibirischen Eisenbahn gegründet. Sie ist somit eine der jüngsten Städte Sibiriens”, erklärt uns der Pater als wir durch einen Park schlendern. “Gibt es hier Industrie? Von irgendetwas müssen die Menschen hier doch leben?”, interessiert es mich. “Aber klar haben wir Industrie. Der bedeutendste Wirtschaftszweig ist die Erdölindustrie.” “Erdölindustrie?”, wundere ich mich. “Ja. Das Erdöl der westsibirischen Ölfelder wird durch Pipelines direkt in die Raffinerien von Angarsk befördert. Auch haben wir hier eine chemische Industrie und die Produktion von Kunststoffen”, erklärt der gebildete Geistliche.

Auswegslose Lage

“Aber unser Land hat ein großes Problem”, fährt er seine Ausführungen fort. “Der Alkohol und andere Drogen lassen die Gesellschaft regelrecht verfallen. Nur wenige wollen heutzutage wirklich arbeiten und leben am Existenzminimum. Es ist ein Fass ohne Boden. Bereits unsere Kinder beginnen sich zu betrinken. Und, ist das ein Wunder? Nein. Schaut euch hier im Park um. Dort drüben. Seht ihr die jungen Mütter? Dort wo die Kinderwägen stehen?”, fragt er und deutet kopfschüttelnd auf zwei modisch gekleidete Frauen, die rauchen und ihr Bier trinken. “Die Mütter machen es ihren Kindern vor. Das ist eine Katastrophe. Ist klar, dass auch ihre Zöglinge später Alkohol trinken und rauchen wenn die Eltern es ihnen täglich zeigen wie es geht. Gegen den Zusammenbruch unserer Gesellschaft zu kämpfen ist für mich als Priester eine bald auswegslose Situation. Noch schlimmer aber ist es in den Dörfern. Die Menschen dort besitzen meist keine Alternative und sind nahezu alle Alkoholiker. In Kutulik, dem Dorf in dem ich versuche die Kirche wieder aufzubauen, ist es richtig schlimm. Ihr könnt euch das Ausmaß gar nicht vorstellen. Selbst der Dorflehrer ist dem Wodka verfallen. Er säuft sogar während der Unterrichtstunden. Die Kinder sehen wie ihr Lehrer trinkt und machen es ihm nach. Einfach hoffnungslos. Den Gottesdienst besuchen im Augenblick gerade mal fünf bis zehn Menschen. Obwohl Gott den Menschen Hoffnung, Zuversicht, Perspektiven und einen Ausweg aus ihrer Situation geben kann, wollen nicht mehr Bewohner die Messe aufsuchen. Mit Spendengeldern, die ich von den Reichen gesammelt habe, konnten wir jetzt eine Kirchenschule aufbauen. Jetzt sagen die Dorbewohner ich bin ein reicher Mann. Viele sind neidisch. Welch ein Irrsinn. Sie erkennen nicht, dass auch ich wenig Geld verdiene und alles nur für sie mache. Sie verweigern meine Hilfe und verharren lieber in ihrer auswegslosen Lage. Ach, ich sage euch. Es ist nicht leicht und ich frage mich ob ich die Kraft habe durchzuhalten.” “Hm, du hast dir eine schwere Aufgabe für dein Leben herausgesucht”, antworte ich nachdenklich und verbalisiere meine Gedanken weiter; “Ich weiß aber, dass es einen Sinn ergibt durchzuhalten. Es ist alles eine Frage der Zeit. Vielleicht ist in zehn Jahren deine neu aufgebaute Kirche voller Menschen? Wer weiß. Unabhängig davon ist es doch gar nicht so wichtig wie viel Menschen deinen Gottesdienst besuchen. Durch deine Arbeit hilfst du wahrscheinlich mehr Menschen als du selber glaubst. Die Geschichte von Jesus ist ein wunderbares Beispiel. Als einzelner Mensch hat er dazu beigetragen die Welt zu verändern. Also ist es nicht immer die Masse. Am Ende reicht es manchmal aus einer einzigen Person weiterzuhelfen. Wer weiß was diese dann vollbringt”, sage ich. “Ja, ja, da hast du Recht. Möchtet ihr einen Kaffee?”, wechselt er abrupt das Thema. “Gerne”, antworten wir. Ein Freund von mir besitzt ein Küchenstudio. Dort gibt es echten Kaffee”, sagt er. Tatsächlich befinden wir uns kurz darauf völlig unverhofft in einem noblen Geschäft in dem Einbauküchen angeboten werden. Im krassen Gegensatz zu den Durchschnittseinkommen der Sibirier von 5.000 bis 7.000 Rubel (113,- bis 159,- Euro) sind die luxuriösen Küchen für den Normalbürger absolut unerreichbar. Ich schlendere ein wenig durch das Studio. Erschrocken bleibt mein Blick an einer Preistafel hängen. “404.000 Rubel”, (9.181,- Euro) lese ich laut und kann die Zahl kaum begreifen. “Das ist ein Laden für reiche Russen”, erklärt Andrej und fordert uns auf an einem Tisch, in einer der Ausstellungsküchen, Platz zu nehmen. Tatjana, die nette Verkäuferin des Edelladens, serviert uns tatsächlich echten Kaffee, stellt einen Teller mit Obst und einen Teller mit Wurst und Käse auf den Tisch. Ich habe meine Tasse noch nicht mal zur Hälfte ausgetrunken, fordert uns Andrej schon wieder auf das Geschäft zu verlassen. “Ich möchte euch noch unsere Kathedrale zeigen”, schlägt er vor.

“Und du sagst die Kirche wurde erst vor drei Jahren gebaut?”, frage ich die Treppe zu dem großen orthodoxen Gotteshaus hochsteigend, von dem überall der Putz und die Farbe abblättern. “Ja. Das ist Russland. Heute wird nicht mehr für die Ewigkeit gebaut. Alles muss schnell gehen. Es gibt kaum gute Handwerker und man spart hinten und vorne”, erklärt er. In der Kirche stellen sich Swetlana und Vater Andrej vor eine der heiligen Ikonen und beginnen zu singen. Ihr wunderschöner Gesang wird von den hohen Wänden der Kathedrale wiedergegeben. Sanftmut, Demut, Ergebenheit, Liebe und Herzenswärme schwingen darin, so das Tanja und ich ehrfürchtig lauschen. Kaum ist das wohlklingende Lied verstummt, geht es zum nächsten Programmpunkt des Abends und wir dürfen den Glockenturm besteigen. “Nicht zu fassen was sich Andrej alles für uns einfallen hat lassen”, sagt Tanja, durch die vielen Erlebnisse des langen Tages, erschöpft.

Nachdem Swetlana und Andrej für das Abendessen in einem Supermarkt eingekauft haben glauben wir das der Tag für uns zu ende geht. Doch weit gefehlt. “Wir suchen schon lange eine Katze für unser Zuhause. Eine Freundin von uns züchtet Katzen. Wir hätten jetzt die Gelegenheit eine anzusehen. Habt ihr Lust uns zu begleiten?”, fragt Vater Andrej. “Aber gerne”, antworten wir trotz unserer Müdigkeit, denn wir sind gespannt wo wir gleich landen werden. Vor einem großen Haus parkt Andrej sein Auto. “Bistro, bistro”, (“Schnell, schnell”) fordert er uns auf eine große Villa zu betreten. Da es Andrej immer etwas eilig hat wundern wir uns nicht mehr über seine Anweisung und betreten das Haus. Sofort schlägt uns der strenge Geruch von Katzenurin entgegen. Die 35 Jahre junge und hübsche Katzenzüchterin, ebenfalls Swetlana genannt, fordert uns auf einzutreten. Sie ist nur mit einem edlen Morgenmantel im Dalmatinermuster begleitet. Im 50 Quadratmeter großen Wohnraum verschlägt es uns glatt die Sprache. “So sieht es also bei reichen Russen Zuhause aus”, denke ich und während die Frau von Andrej, der kleine Sohn Nikolai und Tanja die Katzenbabys liebkosen, erforsche ich den Raum mit meinen Augen.

Im Haus der Oberschicht Sibiriens

Links und rechts neben dem großen Flachbettbildschirm türmen sich je drei Doppellautsprecher, die ein pures Kinoerlebnis garantieren. Um es beim genießen der Filme wirklich bequem zu haben liegt vor der Leinwand eine Doppelluftmatratze. Ein ca.1 ½ Meter großer Stoffhund lümmelt daneben und lässt sich gerade von der Werbung berieseln. Auf dem Boden befinden sich Gameboys und anderer technischer Firlefanz. Auf dem Wohnzimmertisch liegt ein Bündel mit Tausendrubelscheinen. Über einer kostbaren Kommode hängen Fotos der Familie. Alle in goldenen Rahmen. Auf einem der Bilder erkenne ich eine gut aussehende, teuer gekleidete Frau mit stolzem Gesichtausdruck. Sie umarmt Swetlana. Die Ähnlichkeit der beiden Frauen spricht davon, dass die Ältere Swetlanas Mutter ist. Ein Mann sitzt in aristokratischer Haltung in einem Stuhl und raucht eine Pfeife, während er sich vom Kaminfeuer wärmen lässt. Offensichtlich der Vater. Andere Bilder zeigen Swetlana. Sie hat eine filigrane, mit Edelsteinen besetzte, Krone auf dem Haar und lächelt in die Kamera. In der Glasvitrine, gleich daneben, reihen sich eine große Zahl goldener und silberner Pokale, die davon zeugen, wie erfolgreich ihre Katzenzucht ist. Die edlen Möbel im britischen Kolonialstil unterstreichen den Reichtum der hier lebenden Familie. Über dem offenen Kamin ist eine Madonnenfigur in die Wand eingearbeitet. Ein Nikolaus hängt am Kamingitter. “Schau dir ihn genau an. Er ist zu dick und kommt deswegen den Schornstein nicht mehr hoch”, scherzt Vater Andrej. “Wahrscheinlich gefällt ihm der Luxus hier und er kann gleich bis zum kommenden Weihnachten bleiben”, antworte ich lachend. “Darf ich ein Foto machen?”, frage ich den Ehemann der Züchterin. “Da, da”, (“Ja, ja”) sagt er, mich kaum wahrnehmend. Er sitzt an einem Tisch und bearbeitet in seinem Laptop irgendwelche Listen. Laut Aussage von Andrej betreibt die Familie das Kino der Stadt, ein Restaurant, besitzen ein Hotel am Baikal im teuren Touristenort Listwjanka und vieles mehr. “Ach ist die schön. Ja, so eine möchte ich haben”, höre ich Swetlana, die Frau von Andrej, schwärmen. Meine Aufmerksamkeit lenkt sich nun auf die blauäugigen kleinen Katzenbabys. Selbstbewusst und mit freundlichem Lachen präsentiert uns die Züchterin nun den Katzenpapa. Sie hat ihn extra vom ersten Stock zu uns herunter getragen. “Was willst du armer Schlucker in unserem Haus?”, scheinen seine Augen zu sprechen als mich sein hochmütiger Blick streift. “Wie lange züchtest du schon Katzen?”, frage ich den Katzenpapa ignorierend. “Ach erst seit zwei Jahren”, antwortet sie bescheiden. “Dwa Goda?” (“Zwei Jahre?”) “Da.” (“Ja.”) antwortet sie. Ich bin verblüfft über ihren offensichtlichen schnellen Erfolg. Auch hier sieht man wieder, wie Menschen die bereits viel Geld besitzen und erfolgreiche Geschäfte betreiben, offensichtlich keine Schwierigkeiten haben weitere Geschäftsideen zu entwickeln, während Menschen in den nahe liegenden Dörfern keine Perspektiven besitzen. “Was kostet denn so ein Katzenbaby?”, interessiert es mich. “20.000 Rubel (454,- Euro). “20.000- Rubel!”, wiederhole ich, um mich des astronomischen Preises zu versichern. “Ja.”, antwortet sie und lacht herzhaft. “Verkaufst du denn alle deine Sprösslinge?” “Aber ja. Meist sind sie schon vorbestellt”, höre ich verblüfft. Als wir uns von Swetlana und ihrem Mann verabschieden erzählt Vater Andrej kurz von unserer Reise. Erst jetzt interessiert sich der Ehemann für uns und beginnt ein Gespräch. “Ihr fahrt mit dem Fahrrad und habt die besten Autos der Welt? Welches Auto besitzt ihr denn Zuhause? Einen BMW? Mercedes? Oder einen Audi? Ach, Swetlana wünscht sich einen Audi Coupe. Muss ich ihr anscheinend kaufen. Aber das hat noch Zeit”, plaudert er und zwinkert mir wissend mit dem Auge zu. “Wollt ihr nicht noch ein wenig hier bleiben? Ihr könnt gerne unsere Banja benutzen. Sie ist wunderbar”, lädt uns Swetlana jetzt ein. “Oh vielen Dank für das Angebot. Wir würden gerne noch etwas bleiben aber wir sind schon von Pater Andrej und seiner Frau zum Abendessen eingeladen worden”, sagen wir und verlassen das Haus der Oberschicht dieser Stadt.

Sagt, dass ihr Freunde von mir seid, dann werdet ihr nicht erschossen!“Also wenn wir jetzt zu uns kommen, dann bitte nicht erschrecken. Wir haben nur ein bescheidenes Heim”, entschuldigt sich Andrej. “Aber du hast einen großen Reichtum im Herzen. Das ist oftmals mehr wert als alles andere”, entgegnet Tanja. “Wie wollt ihr euch denn so eine Katze leisten?”, frage ich Andrej. “Ha, ha, ha. Du bist gut. Die könnten wir uns nie leisten. Ich sagte doch, wir bekommen sie von Swetlana geschenkt.”

In der kleinen Wohnung des Priesters ist es blitzblank geputzt. Wir sitzen auf dem Sofa und warten darauf bis Swetlana das Essen in der Küche zubereitet hat. Der Sohn Nikolai springt ausgelassen herum und fotografiert uns unentwegt mit seiner Spielzeugkamera. In der vielleicht fünf Quadratmeter kleinen Küche steht ein winziger Esstisch. Sohn Nikolai, Tanja und ich dürfen uns auf die drei vorhandenen Stühle setzen, während Andrej und Swetlana neben uns stehen. Es gibt in Ei gebackenes Toast mit Marmelade, dazu einen Teller mit Schokolade und Tee mit Milch. Würden wir unseren Radlerhunger freien Lauf lassen wäre der Teller mit den Toasts in wenigen Minuten kahl gefressen. Auch der kleine Nikolai hat offensichtlich einen Bärenhunger und schlichtet sich in ungeheurer Geschwindigkeit das Essen und ein Schokoladenstück nach dem anderen in den kleinen Mund. Als er bemerkt das die Toasts weniger werden, greift er schnell zu und schlichtet sich die letzten Zwei neben seinen Teller.

“Er isst viel zu viel Süßigkeiten. Wir müssen alles vor ihm verstecken”, erklärt Mutter Swetlana die vor der Geburt ihrer Kindern für 6.000 Rubel (136,- Euro) im Monat als Englischlehrerin gearbeitet hat. Andrej berichtet davon, dass es in Russland kaum eine Mittelschicht gibt. “Arm oder Reich”, dazwischen ist luftleerer Raum. “Mit unserem Geld kommen wir kaum über die Runden. Es ist mir unmöglich meine Kinder auf eine ordentliche Schule zu schicken. Die Lehrer verdienen nichts mehr und taugen deswegen oftmals auch nichts. Auch für uns gibt es wenig Perspektiven in diesem Land.” Bevor wir gehen überreichen wir Swetlana und Andrej eine Schachtel mit Biotee von Sonnentor und eine DVD unserer letzten Multivisionsshow. Viel können wir nicht geben, da wir auf den Rädern nur begrenzt Platz haben. Trotzdem sind wir immer wieder überrascht wie die Menschen sich über solche Kleinigkeiten freuen können.

“Ich bringe euch jetzt zum Hotel zurück”, meint Andrej wie immer aus heiterem Himmel. “Gerne”, antworten wir und verabschieden uns von Swetlana. Bevor wir aber zu unserer Unterkunft fahren möchte Andrej mit uns in der Innenstadt einen Spaziergang machen. “Wisst ihr warum es zu dieser Stunde in den Straßen so leer ist?”, fragt er. “Keine Ahnung. Die Menschen haben kein Geld um auszugehen?”, vermute ich. “Nein, das ist es nicht unbedingt. Hier ist es so leer weil es jetzt gefährlich ist herumzulaufen.” “Gefährlich?” “Aber ja. Die Menschen wollen nicht umgebracht werden.” “Wie meinst du das?” “Um diese Uhrzeit treibt sich ungeheuer viel Gesindel herum. Viele trinken. Viele sind bewaffnet. Einen Bekannten von mir haben sie einfach so erschossen. Ohne zu fragen, einfach erschossen. Angarsk ist eine schlimme Stadt. Eine gefährliche Stadt. In Irkutsk ist das besser. Aber hier ist es abends riskant spazieren zu gehen”, sagt er, parkt seinen Wagen in einem Hinterhof und fordert uns auf auszusteigen. Mit eigenartigen Gefühlen schlendern wir jetzt auf einer Nebenstraße durch die Häuserschluchten und fragen uns warum uns Andrej um ca. 22:00 Uhr, also zur gefährlichen Zeit, hierher bringt? “Wisst ihr, wenn man eine Stadt verstehen möchte, muss man durch die Seitenstraßen laufen. Nur dann spürt man die Seele einer Stadt. Nur dann begreift man ihren Charakter. Seht, hier ist es sauber. Kein Müll liegt herum. Das liegt daran, dass in diesem Viertel viele alte Leute wohnen. Menschen, die noch wissen wie wichtig Sauberkeit ist”, erklärt er. Nach dem eigenartigen Ausflug in die dämmrigen Seitengassen von Angarsk sitzen wir wieder im Auto des Priesters. “Oh, ich habe meine Papiere vergessen. Entschuldigt. Ich muss schnell noch mal Zuhause vorbeifahren, um sie zu holen. Ansonsten hält mich noch die Polizei auf. Sie würden sagen; Vater Andrej, was machen sie hier ohne Papiere?” Vor seinem Haus stellt Andrej wieder sein Auto ab. “Wartet hier bitte auf mich. Wenn jemand vorbeikommt und euch erschießen möchte, sagt das ihr Freunde von mir seid!”, ruft er noch und ist weg. Tanja und ich sehen uns verdutzt an. “Will er uns nun fertig machen oder was?”, fragt Tanja. “Keine Ahnung. Ist schon eigenartig. Aber ich glaube er meinte die letzte Aussage mehr als Scherz.” “Eigenwilliger Scherz. Kannst du die Fenster zumachen?” “Kann ich nicht. Er hat den Zündschlüssel mitgenommen und die Fenster lassen sich nur elektrisch schließen. Aber ich denke wir brauchen keine Angst zu haben. Schau doch. Hier laufen Jugendliche herum. Dort vorne zum Beispiel. Die jungen Mädchen. Die haben doch auch keine Angst. Also wenn es so schlimm wäre wie Andrej gesagt hat würde hier doch niemand mehr herumlaufen”, beruhige ich uns.

Zehn Minuten später fahren wir in Richtung unseres Hotels. “Bevor ihr morgen eure Reise fortsetzt müsst ihr den Fluss sehen. Kommt ich bringe euch zum Badestrand”, schlägt er plötzlich vor. “Um diese Zeit? Ergibt das einen Sinn?”, frage ich. “Aber ja. Es ist wunderschön dort”, meint er und steuert sein Auto auf einer Lehmpiste in den Wald. Durch die vielen Horrorgeschichten von Mord und Todschlag in dieser Gegend wird uns wieder mulmig zumute. “Was ist wenn dort am Ufer gerade jetzt zwielichtige Gestalten feiern? Wenn sie ein Saufgelage abhalten und wir genau dazu kommen? Man, dieser Priester hat Nerven”, geht es durch meine Gehirnwindungen als wir wie so oft an diesem ewig langen Abend parken. Diesmal unter dem Dach finsterer Bäume, um eine weitere Sehenswürdigkeit zu betrachten. Im letzten Licht des Tages laufen wir über eine glitschig nassen Weg zum Ufer des breiten Flusses. “Ist das nicht schön hier?”, meint der Pater und breitet, wie in einer seiner Predigten, die Arme aus. “Ihr könnt gerne Baden wenn ihr wollt”, bietet er an. “Nein danke. Dafür ist es uns ein wenig zu spät. Außerdem wimmelt es hier von Stechmücken”, lehnen wir um uns schlagend ab. “Das Wasser ist wunderbar. Ihr könnt es trinken”, sagt er und schöpft eine Handvoll Nass aus dem, im aufgehenden Mond glänzenden, dunklen und kluckernden, Band. “Ich habe keinen Durst Andrej”, lehne ich auch dieses Angebot dankend ab. “Lasst uns zurückgehen”, schlägt er vor nachdem uns der Gesprächsstoff ausgeht. Wieder wandern wir zum Wagen zurück. Aber Andrej steigt nicht ein. Dort hinten wohnen Freunde von mir. Wollen wir die besuchen?” “Warum nicht”, antworten wir, weshalb wir am Auto vorbeilaufen und ein paar hundert Meter dahinter an eine Holztür klopfen, um Einlass zu bekommen. “Ach du bist es Andrej! Schön dich zu sehen. Komm herein. Wen hast du denn da mitgebracht?”, fragt die Frau, die sich mit dem Namen Larissa vorstellt. “Endlich ein neuer Namen”, flüstere ich Tanja zu. Larissa stellt uns ihren Mann vor. Und wie soll es anders sein? Sein Name ist Alexander. “Ich glaube in Russland heißt die Hälfte der männlichen Bevölkerung Alexej, Alexander oder Sergej”, flüstert Tanja. Larissa tischt sofort Honigkuchen, Käse, Brot und Tee auf. Wir erfahren, dass Alexander und Larissa hervorragende Laborärzte sind und im örtlichen Krankenhaus arbeiten. Wegen den beißwütigen Stechmücken zündet Larissa eine Moskitospirale an. “Wenn ihr Simone auf der Insel Olchon besucht, richtet bitte liebe Grüße von uns aus. Sie ist eine gute Freundin von uns. Seit langer Zeit machen wir dort jedes Jahr mindestens zwei Wochen Urlaub im Jahr. Wir wohnen dann direkt neben Simone”, erklären die beiden gastfreundlichen Menschen.

Es ist 23:00 Uhr als wir uns auch von diesen Menschen verabschieden. Diesmal darauf hoffend das Andrej uns nicht weiteren Freunden vorstellen möchte. Gott sei Dank bringt er uns nun tatsächlich zum Hotel. Während Tanja halb bewusstlos vor Müdigkeit sich in das tolle Zimmer zurückzieht, überspiele ich für Andrej noch unsere Fotos, die wir in Kutulik und heute gemacht haben, in seinen Laptop.

“Ihr solltet von hier aus zum Baikal fahren. Ihr braucht nicht nach Irkutsk. Ihr verfrachtet eure Räder einfach in einen Bus. Der bringt euch bis zur Insel Olchon. Ich werde morgen mal für euch nachfragen. Abgesehen davon ist es ratsam ihr ladet in Irkutsk eure Räder in den Zug und bringt sie zur Grenze von der Mongolei. Das ist viel besser für euch. Unsere Berge killen euch garantiert. Das ist nur etwas für ganz junge Menschen die kein Gepäck an den Rädern haben”, will er mich zur späten Stunde überzeugen. “Das geht nicht”, versuche ich mich zu wehren. “Warum denn nicht?” “Weil wir auf einen Fahrradtrip sind. Wir wollen mit dem Rad fahren und nicht mit dem Zug. Verstehst du?”, frage ich und bemerke in den Augen des Paters sein Unverständnis.

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