Ehemaliger Glanz! Gefährliches Fotografieren!
N 44°26'48.2'' E 026°03'41,6''Geschehnisse vom 22.06.2006
“Ahh, war das eine angenehme Nacht”, rekle und strecke ich mich und beobachte Tanja wie sie lächelnd ihre Augen aufschlägt. “Hm, habe auch sehr gut geschlafen und hatte noch dazu einen tollen Traum”, raunt sie. “Was hast du denn geträumt?”, möchte ich wissen. “Hab es schon wieder vergessen”, kichert sie leise. “Ich kann es immer noch nicht richtig glauben, dass wir endlich wieder unterwegs sind”, meine ich nachdenklich. “Wurde auch Zeit. Ich freue mich meinen Körper jeden Tag bewegen zu dürfen.” “Und ich erst. War wieder einmal eine geradezu unglaubliche Anstrengung alles vorzubereiten. Manchmal glaubte ich am Ende meiner Kräfte zu sein. Aber, das liegt jetzt hinter uns. Die Freiheit ruft und unsere Sättel freuen sich wieder richtig geritten zu werden”, lache ich und schwinge mich tatenfroh aus dem Bett.
Gut gelaunt begeben wir uns zum Frühstücken in den fünften Stock des Hotels. Die freundliche und hübsche Bedienung namens Carmen und der Kaffeebesitzer Mundar servieren uns Weißbrot, Jogurt, ein paar abgepackte Aufstriche, einen ebenfalls abgepackten Kuchen und Milchkaffee. Nachdem wir morgens gerne frisches Obst, Müsli und Jogurt genießen, ist das nicht gerade unsere Wahl aber trotzdem lassen wir uns das Gebrachte munden. Die morgendliche Sonne wirft ihre jungen Strahlen in den noch neu riechenden, großzügig eingerichteten Raum. Die Klimaanlage sorgt für wohltuende Temperaturen und der freie Blick über die sommerliche Stadt Bukarest ist regelrecht fantastisch. “Hast uns ein tolles Hotel gesucht”, lobt Tanja. “Ehrlich gesagt kann ich nichts dafür. Wir sind von unbestimmter Hand hierher geführt worden.” “Na ja, du hättest dich auch für die billige Unterkunft in Bahnhofnähe entscheiden können.” “Gott bewahre”, blase ich und schlürfe den Gedanken an das Loch mit einem heißen Schluck Capuccino hinunter.
“Was hältst du davon den heutigen Tag zu nutzen, um den Ceausescu-Palast einen Besuch abzustatten”, frage ich voller Energie. “Gute Idee.” Wir verabschieden uns von Carmen und Mundar und machen uns auf dem Weg zur U-Bahn. Obwohl wir uns nun schon seit 1991 auf der großen Reise befinden und mittlerweile schon so einiges an Erfahrung mit öffentlichen Verkehrsmitteln in fremden Ländern sammeln durften ist es für uns immer wieder spannend mit der U-Bahn unterwegs zu sein. Erst auf der letzten Etappe der Trans-Ost-Expedition hat man uns des Schwarzfahrens beschuldigt obwohl wir gültige Tickets besaßen. Die unfreundlichen und gnadenlosen Kontrolleure in Budapest knöpften uns eine hohe Geldstrafe ab weil wir unsere Tickets nicht entwerten ließen. Wegen der Verständigungsschwierigkeiten und aus Unwissenheit übersahen wir die Stempelautomaten. Diesmal wird uns das Missgeschick nicht noch einmal widerfahren. Wir achten darauf wie es die Einheimischen machen und tun es ihnen nach. “Da ist es. Hier müssen wir raus!”, ruft Tanja. Schnell verlassen wir die gut besuchte U-Bahn, laufen etwas orientierungslos durch die vielen unterirdischen Gänge, bis wir den richtigen Treppenaufgang ans Licht finden. Geschäftiges Treiben empfängt uns. Viele Menschen wimmeln wie die Ameisen durcheinander. Wir fragen nach dem Palast des ehemaligen Staatspräsidenten Nicolae Ceausescu. Keiner versteht uns bis wir eine freundliche, englisch sprechende Studentin treffen die uns den Weg erklärt. An einem Kaffee legen wir einen Halt ein, um ein frühes Mittagessen zu genießen. Wieder sind wir von den hohen Preisen überrascht. Das Niveau befindet sich hier in der Innenstadt nicht viel unter dem Deutschen. Man hat uns erzählt, dass das Durchschnittseinkommen unter 100,- Euro liegt im Monat.. “Wenn man bedenkt, dass die Benzinpreise fast genauso hoch sind wie bei uns Zuhause und der Stundenlohn im Schnitt weniger als 1 Euro beträgt, frage ich mich wie die Menschen es sich leisten können überhaupt Essen gehen zu können”, sage ich nachdenklich und setze mich an einen Tisch vor dem Schnellrestaurant. Ich stelle meinen wertvollen Rucksack, indem sich unsere Leicakamera befindet, neben mich auf den Boden und bemerke einen jungen Mann der sich hinter meinem Stuhl an die Wand des Restaurants lehnt. Er tut so als stünde er ganz relaxt in der Menschenschlange, um sich ein Sandwich bestellen zu können. Noch ehe ich reagieren kann fährt eine Hand nach vorne und hält den Rucksack. Tanja sieht dem Jugendlichen direkt in die Augen und zieht den Rucksack zu sich. Es dauert nur wenige Augenblicke und dem Jungen vergeht anscheinend der Appetit. Ohne uns einen Blick zu schenken trollt er sich von dannen. “Glaubst du er hatte vor ihn zu klauen?”, frage ich verblüfft. “Glaube ich.” “Kaum zu fassen, hätte ich nicht gedacht”, entgegne ich erleichtert über Tanjas Reaktion. Wir lassen uns aber nicht den Hunger verderben und genießen es im Zentrum von Bukarest zu sitzen und die vorbeiströmenden Menschen zu beobachten. Am Tisch gegenüber haben es sich fünf Männer bequem gemacht. Sie unterhalten sich lautstark. Einer spielt mit seinem Handy. Ein anderer hat seinen Hals mit einer dicken Goldkette behängt. Zwei von ihnen tragen Turnhosen. Ihre Füße stecken in abgelatschten Markenjoggingschuhen. Der Älteste der Gruppe ist mit einem abgetragenen Anzug bekleidet. Wenn er seine tiefe Stimme erhebt verstummen seine Tischkollegen. Ein Junge, den seine heruntergekommene Kleidung sofort als Bettler identifiziert schlurft in seinen kaputten Schuhen herbei. Er deutet im Abstand von 2 Metern auf einige Plastikbecher die auf dem Tisch der Männer stehen. In einigen befinden sich noch ein paar Schlucke Cola. Der Mann mit dem Handy winkt den Jungen herbei. “Räum den Tisch auf, dann kannst du das Cola trinken”, scheint er zu sagen, denn der Junge lacht, räumt den Tisch auf, schüttet die Reste zusammen und stürzt sich das warme Zeug in den Rachen. Dann wirft er die leeren Becher in den nahe stehenden Mülleimer und hatscht lächelnd davon.
Vieles was hier geschieht ist neu für uns, kommen wir doch gerade erst aus einer völlig anderen Welt. Wir bleiben noch eine halbe Stunde sitzen bis wir langsam weiterschlendern. Es geht vorbei an Kaffees, der U-Bahnstation, einer Blumenverkäuferin und anderen Läden. Die Stadt hat während der kommunistischen Ära viel von ihrem ehemaligen Glanz verloren und es ist heute kaum noch vorstellbar, dass sie vor dem zweiten Weltkrieg einmal schön und elegant gewesen ist. Paris des Balkans war ihr Beiname, doch leider ist heute von dem einstigen Flair kaum noch etwas zu spüren.
Wir biegen um ein paar Straßenecken und erreichen den Revolutionsplatz, das eigentliche Zentrum der Stadt. “Wow, sieht ja beeindruckend aus!”, rufe ich. Zwei prächtige Alleen säumen die stark befahrene Hauptstraße. An ihrem Ende thront eines der kolossalsten Gebäude welches wir je gesehen haben. Springbrunnen trennen die linke und rechte Fahrspur. Gebannt verharren wir und blicken auf den Palast. Die Sonne bricht sich im auffliegenden Wasser der vielen Springbrunnen. Kleine Regenbogen schimmern in der Luft und scheinen das mächtige, graue Gebäude mit Farbe anzustreichen. Eine leichte Briese, angereichert mit der Feuchtigkeit des glitzernden Nass, trägt einen erfrischenden Wassernebel heran und kühlt die heiße Sommerluft. Gemütlich schlendern wir im Schatten der Bäume den Boulevard entlang. Umso näher wir dem Regierungspalast kommen desto gigantischer türmt er sich vor uns auf. Das Haus der Republik, so wird das Regierungsgebäude auch genannt, umfasst etwa 1500 Räume, besitzt elf Stockwerke, einen eigenen unterirdischen U-Bahn-Anschluss und einen Luftschutzkeller. Es war das ehrgeizige Bauprojekt von Rumäniens kommunistischem Staatspräsidenten Nicolae Ceau?escu welches bis heute nicht komplett fertig gestellt ist. Nach dem Pentagon in den USA ist es das zweitgrößte Verwaltungsgebäude der Erde. Während der letzten zehn Jahre seiner Amtszeit ließ Ceau?escu historische Kirchen, Tempel, Parks und aus dem 19. Jahrhundert stammende Wohnhäuser für den Bau des Palastes abbrechen. Bis zu seinem Todestag (er wurde 1989 zusammen mit seiner Frau von einem Gericht verurteilt und hingerichtet) waren 27 000 Arbeiter, unter ihnen viele Soldaten, auf der Baustelle beschäftigt.
Beeindruckt laufen wir um den Palast, finden den Eingang und wollen uns einer Besichtigungstour anschließen. Weil es nur wenige Räume gibt die man sich ansehen kann und weil die Preise dafür recht hoch sind verzichten wir darauf und machen uns auf dem Rückweg. Eine vom harten Leben gezeichnete alte Frau hinkt durch den stehenden Verkehr vor einer roten Ampel. Sie bittet die in der heißen Sommersonne schwitzenden Autofahrer um eine Gabe. Da wir schon gestern immer wieder Bettler angetroffen haben hat Tanja die Reste unseres Frühstücks und Mittagessens für solche Fälle aufgehoben. Sie reicht der erstaunten, buckligen Frau ein paar abgepackte Pasteten und andere Leckereien die wir nicht gegessen haben. Überrascht streckt sie ihre Hand aus.
Nur wenige Minuten später wird Tanja von einer Sinti angesprochen. Es dauert nicht lange und die beiden unterhalten sich in einem heiteren Kauderwelsch aus verschiedenen Sprachen. Vorsichtig hebe ich meine Leica, um die Szene zu fotografieren. Der Sohn der Frau wird auf mich aufmerksam und zupft mir am Arm. “Wir müssen weiter”, sage ich zu Tanja. Ich habe Angst dass sich der Besitzt einer solchen Kamera schnell herumspricht und möchte so schnell als möglich den Ort verlassen. Es dauert nur Sekunden bis ein zweiter Sintijunge mir am anderen Arm zupft und nach Geld fragt. “Lasst mich in Ruhe”, sage ich mit fester Stimme. Mir ist bewusst, dass sich die Situation schnell zuspitzen kann und wir wären nicht die ersten Touristen die man am helllichten Tag ausrauben würde. Unzählige Passanten nutzen die Gelegenheit der grünen Fußgängerampel, um die Hauptstraße zu überqueren. Schnell folgen wir dem Menschenstrom. “Money, Money!”, rufen die Jungs vermeintlich freundlich, tatschen mich an und bedrängen mich zusehend. “Lasst mich in Ruhe!”, rufe ich mit aufkommender Panik meine Leica in der Kameratasche verschwinden lassend. Auf der anderen Straßenseite angekommen fingert der Junge zu meiner Linken an meiner Hemdtasche herum. Seine Hände scheinen überall zu sein. Ich brülle ihn an, schlage ihn auf die Hand und bin bereit für seine Gegenwehr. Anscheinend sind die Beiden über meinen Ausbruch erschrocken und lassen von mir ab. Erleichtert eilen wir weiter. Auf den nächsten hundert Metern drehen wir uns ständig um. “Folgen sie uns?”, fragt Tanja. “Glaube nicht”, antworte ich durch unsere Hast etwas außer Atem. “Ist nicht ungefährlich hier zu fotografieren”, stelle ich fest. “Kaum zu fassen dass die Kinder sich nicht einmal von den vielen Passanten stören lassen”; entgegnet Tanja. “Würde mich nicht wundern wenn sie gerade die Menschen als ihre Deckung nutzen”, sage ich mich durch kurze Blicke über meine Schulter vergewissernd die Sintijungs nicht mehr am Hals zu haben.