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Russland/Krasnojarsk Link zum Tagebch: TRANS-OST-EXPEDITION - Etappe 3

Die Entscheidung wird uns abgenommen!

N 56°00'52.3'' E 092°53'08.0''
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    Tag: 120

    Sonnenaufgang:
    07:26 Uhr

    Sonnenuntergang:
    19:58 Uhr

    Luftlinie:
    20 Km

    Tageskilometer:
    20.31 Km

    Gesamtkilometer:
    10845.80 Km

    Bodenbeschaffenheit:
    Schotter

    Temperatur – Tag (Maximum):
    6 °C

    Temperatur – Tag (Minimum):
    2 °C

    Temperatur – Nacht:
    -1 °C

    Breitengrad:
    56°00’52.3“

    Längengrad:
    092°53’08.0“

    Aufbruchzeit:
    09.30 Uhr

    Ankunftszeit:
    21.30 Uhr

    Durchschnittsgeschwindigkeit:
    13.22 Km/h

Um 6:00 klopft es ans Fenster. “Wer ist das?”, fragt Tanja aus dem Tiefschlaf gerissen. “Ich denke das Personal kommt zurück”, antworte ich und eile zur Haustür, um sie zu öffnen. Es ist stock dunkel draußen und mit einer Hand voll Menschen weht ein kalter Wind ins Haus. “Dobre utra”, (guten Morgen) begrüße ich die vier Frauen und zwei Männer. “Dobre utra”, antworten sie. Da es um 7:30 Uhr erst hell wird nutze ich die Zeit, um mich noch ein wenig aufs Ohr zu legen. Es dauert jedoch nicht lange und das Treiben im Haus wird hektisch und laut. Wir packen alles zusammen. Die Kleidung und das Zelt sind trocken. Dann Frühstücken wir Suppe mit Reise, ein paar Kekse und Tee. “Du möchtest wohl nicht raus?”, fragt Tanja weil ich mir beim Essen unendlich viel Zeit lasse. “Stimmt, außerdem ist Mariinsk nur knapp 80 Kilometer von hier. Laut Karte gibt es auf dieser Strecke wenig Berge. Das sollten wir locker schaffen. Also ist keine Eile angesagt”, antworte ich genüsslich an meiner Tasse Tee schlürfend.

Erst um 9:30 Uhr schieben wir unsere Räder vom Hof der Raststätte. Bei etwa zwei Grad über Null und leichten Regen winken wir den gastfreundlichen Menschen zu, die am Fenster hängen und unseren Aufbruch mitverfolgen. Zwei Mechaniker, die gerade versuchen mit dem Feuer eines Bunsenbrenners einen Generatormotor in Gang zu bringen, heben ebenfalls ihre Hände in den grauen nassen Himmel. Wir schwingen unsere Beine über den Sattel und treten in die endlos scheinende konturlose Wolkenwand. Es dauert nur Augenblicke und das Haus hinter uns ist verschwunden. Die Straße wird zusehend schlechter. Es geht vorbei an einem armseligen Dorf. Ein Mann steuert seinen Pferdekarren, auf dessen Ladefläche sich Heu türmt, vorbei. Langsam erwidert er unseren Gruß. Plötzlich hört der Asphalt auf und wird von Wasser gefüllten Schlaglöchern, Matsch und Dreck ersetzt. Die Autos und Lastwägen sind oft gezwungen in Schrittgeschwindigkeit zu fahren. “Ha, ha, ha. Wo wollt ihr denn hin?”, fragt der Fahrer eines Kleinbusses sich köstlich amüsierend. “Nach Burma!”, rufen wir. “Soll ich euch bis nach Mariinsk mitnehmen? Ich habe viel Platz auf der Ladefläche.” “Nein danke. Wir wollen die gesamte Strecke aus eigener Kraft schaffen”, antworte ich worauf der Mann Gas gibt und aus unserem Sichtfeld verschwindet.

Wir lenken unsere Drahtesel in Serpentinen und Zickzack an den gröbsten Schlammlöchern vorbei. Wieder haben wir eine unvorhergesehene Herausforderung vor uns. Ganz plötzlich beginnt sich meine Gedankenspirale erneut zu drehen. “Ob wir die bis zu 900 Meter hohen Berge, die sich auf der gesamten Strecke von Krasnojarsk bis nach Irkutsk ineinander verzahnen sollen, bewältigen? Ob die Zeit ausreicht? Oder erwischt uns dort der Winter?” Kaum sind mir diese Fragen durch den Kopf geschossen als ich mich auch schon über mich selbst ärgere heute Morgen so getrödelt zu haben. Wenn der Weg so schlecht bleibt schaffen wir es heute niemals bis nach Mariinsk. Das bedeutet wieder eine Nacht im nassen Zelt. “Zumindest sind wir nicht alleine”; sage ich. “Wie meinst du das?” schnauft Tanja dicht hinter mir. “Na wir dürfen unser Nachtlager mit einer endlosen Zahl von Schnecken teilen.” “Ha, ha, sehr witzig”, höre ich es. Als sich danach meine Gedanken weiterhin selbstständig machen bitte ich um Ruhe in meinem Kopf. “Bitte liebe Mutter Erde, bitte Alles Was Ist, helft mir meine Gedanken zu stoppen. Helft mir die richtige Entscheidung zu treffen wo und wann wir diese Etappe beenden sollen. Bitte sendet mir ein klares Zeichen wann und wo wir aufhören sollen. Aber bitte ohne Schmerz und vor allem unspektakulär. Es soll ein unmissverständliches Zeichen sein und ein Ende welches uns in keiner Weise schadet”, bete ich und siehe da plötzlich spüre ich eine gewisse Ruhe in meinem aktiven Hirn einkehren

Ich halte dort vorne an. Ich muss mir meine Winterhandschuhe anziehen. Abgesehen davon probiere ich mal diese nasse Welt hier fotografisch festzuhalten”, sage ich und ziehe meine Magura. Während ich meine Handschuhe aus der Satteltasche krame fährt Tanja langsam weiter, um nicht kalt zu werden. Schnell schwinge ich mich in den Sattel und trete ihr hinterher als meine Bremse urplötzlich zu schaben beginnt. “Was ist denn das?”, fluche ich leise, stoppe und versuche die Fehlerursache zu finden. Weil mir nichts auffällt drehe ich an der Stellschraube des Bremsgriffes, um somit den Abstand zwischen Bremsbacken und Felge etwas zu vergrößern. Dass hilft. Wieder schwinge ich mich in den Sattel, um Tanja hinterherzufahren als es urplötzlich ganz unspektakulär knackt und ich mich fühle als hätte mich etwas geschupst. Verwundert blicke ich hinter mich und sehe meinen Anhänger ganz vereinsamt auf der Straße stehen. “Oh nein! Das kann nichts Gutes bedeuten!”, rufe ich, bremse und wende. Ich stelle mein Sumobike neben den Anhänger. Als mein Blick auf das gebrochene Kupplungsstück fällt verharre ich im ersten Moment wie versteinert. “Nicht schon wieder”, geht es mir durch den Kopf. Ich stelle mein Rad auf den Ständer und winke Tanja zu. Sie versteht und kommt zurück. “Was ist los?”, fragt sie als sie mich erreicht hat. “Die Verbindung zwischen Hänger und Rad ist gebrochen”, sage ich wie unter Schock. “Was?” “Die Verbindung zwischen Hänger und Rad ist gebrochen”, wiederhole ich. “Nicht schon wieder.” “Ich bin baff die Straßen hier scheinen doch alles kaputt zu kriegen. Wie auch immer, das war’s.” “Wie das war’s?”, fragt Tanja etwas unsicher. “Na hier ist unsere Reiseetappe zu ende. Wir kommen keinen Meter weiter. So wie aussieht brauchen wir jetzt eine Transportmöglichkeit bis Mariinsk. Von dort müssen wir sehen wie wir nach Krasnojarsk kommen. Dort ist ein Flughafen den wir für unseren Heimflug nutzen können”, erkläre ich und bin verblüfft wie gelassen ich mich fühle.

“Du meinst wir können diesen Schaden tatsächlich nicht reparieren?” “Könnten wir schon. Wir müssten uns wieder ein Ersatzteil von Deutschland schicken lassen. Aber das dauert mindestens 10 Tage. Kennen wir ja.” “Wird zeitlich eng?” “Ja. Dann haben wir bereits Ende September. Die Zeit reicht uns nie aus um Irkutsk zu erreichen. Ersten wird es zu kalt und zweitens läuft dann unser Visum aus”, sinnier ich und höre meine eigene Stimme als würde ich außerhalb meines Körpers stehen. “Na gut. So soll es sein. Auch wenn ich mich darauf eingestellt hatte noch weitere sechs Wochen durch diese Nebelsuppe zu fahren akzeptiere ich dieses Ende. Irgendwie habe ich das Gefühl der Bruch ist nicht zufällig geschehen”, meint Tanja worauf ich sie intensiv anblicke. “Was ist? Warum siehst du mich so an?” “Ach ich weiß nicht. Habe seit Tagen ein Motivationsproblem und hadere mit der Nässe und Kälte. Hatte sogar mal wieder mit Mutter Erde kommuniziert. Ich wollte es dir aber nicht mitteilen weil es dabei wieder um das alte Thema fließen lassen, den Augenblick leben und Vertrauen ging. Dachte eigentlich ich hätte es begriffen. Immer noch die alte Geschichte. Na ja und vor etwa einer halben Stunde bat ich Mutter Erde um ein unspektakuläres Zeichen. Ein Zeichen welches mir verrät wann und wo wir diese Etappe beenden sollen. Und? Nur wenig später dieses hier. Verblüffender Zufall oder?” “Zufall?”, fragt sich Tanja laut. “Na das ist die Frage. Auf jeden Fall ist es genau so wie ich es mir gewünscht hatte. Eindeutig, unspektakulär und unschmerzhaft für uns und alle Beteiligten.” “Ja, das ist es in der Tat. Na dann bleiben wir mal locker und versuchen ein Auto anzuhalten. Ist ja nicht das Ende unserer Reise sondern nur das Ende dieser Reiseetappe. Wir machen ja nächstes Jahr weiter. Der einzige Unterschied ist dann das die Radetappe etwas länger wird. Gefällt mir sowieso besser. Dann können wir Sibirien besser genießen”, meint Tanja ebenfalls verblüffend cool für solch ein abruptes Ende.

Ich lade mein Stativ vom Gepäckträger, errichte es auf der anderen Straßenseite, verriegele die Kamera darauf und gehe zu Tanja und den Rädern zurück. “Jetzt!”, rufe ich und löse mit der funkgesteuerten Fernbedienung den Kameraverschluss aus. Es fällt uns trotz der Erkenntnis, hier eher einer göttlichen Fügung als einem Zufall zu unterliegen, schwer in die Kamera zu lachen. Zum Abschluss gebe ich noch ein Interview in die Filmkamera. Dann packen wir alles wieder zusammen und überlegen wie wir hier wegkommen sollen. “PKWS bringen uns nichts”, meint Tanja. “Stimmt. Wir brauchen einen Kleintransporter. Ich denke es macht keinen Sinn die großen Roadtrains anzuhalten. Die sind bestimmt immer voll”, sage ich. “Schade dass wir nicht das Angebot des Kleinlasters angenommen hatten”, überlegt Tanja. “Sehr schade”, äußere ich mich auf- und ablaufend, um nicht noch mehr auszukühlen. Auch Tanja springt von einem auf den anderen Fuß, um sich warm zu halten. Die Straße ist hier nur wenig befahren. Alle Kleinbusse und Laster die sich durch den Löcherstreifen schlängeln sind entweder voll oder haben eine offene Ladefläche. Wir stehen nun seit 40 Minuten in der verregneten sibirischen Pampa und kühlen trotz der Bewegung mehr und mehr aus. “Ob wir hier ein Zelt aufschlagen müssen?”, frage ich mich. “Noch ist genügend Zeit eine passende Mitfahrgelegenheit zu bekommen”, antwortet Tanja.

Sergei der Engel auf Rädern!Plötzlich kommt ein Konvoi. Vier gewaltige Straßenzüge mit Hänger donnern heran. Tanja und ich heben die Hand zum Gruß. Die Fahrer winken freundlich zurück und hupen als ihre schweren Maschinen an uns vorbeiwalzen. Der Vierte von ihnen hält unerwartet an. “Der bleibt wegen uns stehen!”, sage ich etwas ungläubig. “Ja. Schau der Fahrer winkt. Ich glaube du sollst zu ihm kommen”, sagt Tanja. Sofort eile ich los. Das Beifahrerfenster der großen Fahrerkabine geht elektrisch nach unten. “Braucht ihr Hilfe?”, fragt der Mann. “Ja. Wir haben eine Panne und kommen keinen Meter mehr weiter”, antworte ich. Der Fahrer klettert aus seiner Kabine und begutachtet den Schaden. “Bolschoi Problem”, (großes Problem) gibt er mir Recht. Können sie uns nach Mariinsk mitnehmen”, frage ich vorsichtig. “Aber ja! Bes Problem!”, (Kein Problem) sagt er regelrecht erfreut. Nun geht alles in Windeseile. Obwohl Sergei sehr schlank ist hat er Bärenkräfte. Als hätte mein 50 Kilogramm schwerer Anhänger Flügel heben wir das Ding auf die gewaltige Ladefläche. Nur Minuten später ist unser gesamtes Hab und Gut im Bauch des Straßenzuges verstaut mit dem man locker fünf Häuser auf einmal umziehen könnte. Über eine Treppe klettern wir in die hohe Fahrerkanzel des Lastzuges. Kaum sitzen wir gibt Sergei Gas. Im Rückspiegel wird der Ort an dem wir gerade noch gestanden und gefroren haben kleiner, bis er verschwindet. Tanja und ich können unser Glück kaum fassen. Sergei scheint ein sehr netter Mann zu sein. Er plaudert und erzählt unaufhörlich. “Wir sprechen nicht so gut Russisch. Du musst langsam reden”, sagen wir, jedoch lässt er sich dadurch in seinen Erzählfluss nicht bremsen. “Ihr wollt also nach Mariinsk?”, fragt er dann. “Ja schon. Wohin fährst du denn?”, frage ich. Ich komme aus Novosibirsk. Habe dort eine gesamte Ladung Küken abgeliefert und fahre jetzt nach Krasnojarsk zurück”, erklärt er. “Krasnojarsk? Heute?” “Ja.” Du fährst noch heute nach Krasnojarsk?” “Ja nach Krasnojarsk.” Tanja und ich werfen uns einen hoffnungsvollen Blick zu. “Äh, ist es möglich mit dir dorthin zu fahren?”, frage ich vorsichtig. “Aber natürlich. Es ist mir eine Freude euch nach Krasnojarsk zu bringen!”, ruft er, weshalb es Tanja und mich nicht mehr in den Sitzen hält. “Ja! Ja! Ja! Fantastisch! Hurraaaaa!”, rufen wir und hüpfen auf und ab. “Ha! Ha! Ha! Ha!”, lacht auch unser Engel auf Rädern Sergei. “Euch war ganz schön kalt da draußen oder?” “Ja wurde langsam unangenehm”, meint Tanja. “Ich habe schon von weitem gesehen das es dir kalt war. Dachte mir die arme Frau steht da in den Pfützen und friert. Ich musste einfach anhalten und fragen was ihr bei diesem Sauwetter mitten in der Wildnis am Straßenrand macht”, erklärt er.

Wegen der nassen Kleidung beschlagen sämtliche Scheiben der Kabine. Sergei schaltet die Lüftung ein und immer wenn wir ein Kleidungsstück ausziehen, weil uns zu warm wird, lacht er herzhaft und freut sich. Nachdem wir knapp 11.000 Radkilometer durch viele Länder des Ostens hinter uns gebracht haben und uns der Anblick der großen Könige der Straße sehr vertraut geworden ist, können wir es noch immer nicht ganz fassen jetzt selber mal in so einer Fahrerkanzel zu sitzen. “Eine fantastische Sicht von hier oben”, lacht Tanja befreit. “Ja man sieht viel und weit”, bestätigt Sergei mit einer Hand lenkend und mit der anderen eine Softdrinkflasche öffnend. Plötzlich fällt der Verschluss von der Flasche zwischen Sergeis Füße. Als er sich während der Fahrt bückt und danach sucht wird uns kurzfristig mulmig zumute. “Seit wann bist du schon Lastwagenfahrer?”, frage ich. “Ach schon seit 30 Jahren”, antwortet er die Flasche wieder verschließend. Sergei ist ohne Frage Multitastkingfähig. Während er seine große Maschine über die schlechte Straße lenkt und sich mit uns unterhält, telefoniert er mit seinem Handy, sucht Zettel aus einer Ablage, schreibt uns seine Telefonnummer darauf, warnt seine Kollegen über CB-Funk vor Radarkontrollen und Polizeiposten. Anfänglich schwitze ich ein wenig. Denke daran jetzt soweit gekommen zu sein nur um in so einer Monstermaschine zu verunglücken. Aber Sergei beweist, dass er alles im Griff hat. Sein linker Fuß liegt auf dem Armaturenbrett während der andere Gas gibt und kuppelt. Alles ganz entspannt und das drei Meter über der Straße.

Plötzlich ertönt der unangenehme Laut einer Sirene. Ein Polizeiauto überholt uns und fordert uns zum Halten auf. “Was soll denn das?”, fragt sich Sergei laut. “Ach! Man oh man! Das ist ein Kumpel von mir!”, ruft er und lässt das gewaltige Horn seines Roadtrains ertönen. Der kleine Polizeiwagen antwortet mit einem weiteren Sirenengeheul und verschwindet. Da es bis nach Krasnojarsk gut 440 Kilometer sind haben wir viel Zeit zum Reden. Sergei berichtet von Bären die tatsächlich auch in dieser Gegend Zuhause sind. “Sie sind im Regelfall nicht gefährlich. Nur in den Dörfern kommt ab und zu ein Unfall vor”, erklärt er. “Was für ein Unfall?” “Na die Menschen werfen ihren Müll weg. Der Bär wird zu faul, um auf die Jagd zu gehen und stöbert im Müll der Menschen herum. Er hat keinen Respekt mehr vor dem Menschen. Manchmal führt das soweit das ein Bär nicht ausreißt wenn er einem Menschen begegnet und ihn tötet und frisst. Ihr braucht aber keine Angst vor ihnen zu haben. Bären mögen die Straße nicht. Dort ist es ihnen zu laut”, erklärt er.

“Ob wir im Kloster von Krasnojarsk unterkommen?”, frage ich Tanja nachdenklich. “Wenn wir dort ankommen ist es bereits spät. Könnte schwierig werden”, meint sie. “Ich denken wir sollten unseren Freund Michael in Samara anrufen und ihm die Situation erklären. Vielleicht kann er die Nonne Katja vom Kloster in Samara anrufen. Die sollen dann das Kloster von Krasnojarsk antelefonieren und fragen ob wir willkommen sind”, überlege ich. “Gute Idee”, bestätigt Tanja meinen Plan. Tatsächlich erreichen wir Michael übers Handy. “Ich rufe euch zurück sobald ich von Katja höre”, verspricht er. Bereits eine Stunde später ist unser Aufenthalt im Kloster von Krasnojarsk gebongt. “Zeigt der Oberin des Klosters das Schreiben welches euch die Oberin von Samara mitgegeben hat, dann werden sie euch ein Zimmer geben”, sagt Michael.

Auch wenn unsere Reiseetappe so unvorbereitet beendet wurde fühlen wir uns in diesen Augenblicken glücklich. Alles scheint wie am Schnürchen zu klappen. Alles fügt sich zusammen. Es ist schon bald unheimlich. Als hätte jemand diese gesamte Aktion bis ins Detail geplant. Am späten Nachmittag halten wir an Sergeis Lieblingsstraßenraststätte. Wir stillen unseren Hunger und setzten unsere Fahrt fort. Als wir die Grenze zur Region Krasnojarsk überschreiten freut sich Sergei und lässt sein Horn dreimal ertönen. “Wieder Zuhause!”, ruft der zweifache Vater glücklich.

Um 21:00 Uhr erreichen wir die Großstadt mit ihren 1 ½ Millionen Einwohnern. Wir sind froh diesmal solch einen Moloch nicht mit unseren kleinen Rädern erobern zu müssen, denn der Verkehr ist gewaltig, die Beleuchtung schlecht und die Straßen ersaufen im Regenwasser. “Ich darf mit meiner Zugmaschine nicht in das Stadtzentrum. Ich besorge euch einen Kleinbus der euch zum Kloster bringen wird”, erklärt Sergei seinen Lastwagen am Straßenrand parkend.

Während wir in der angenehm beheizten Fahrerkabine sitzen springt Sergei auf der regenassen Straße herum, um einen Minibus für uns zu arrangieren, jedoch scheint es zu dieser späten Abendstunde kaum welche zu geben. Sergei entdeckt einen russischen Kleinbus an der Tankstelle auf der anderen Straßenseite. Wie ein junger Hase sprintet der Fünfzigjährige hinüber. Tatsächlich überzeugt er den jungen Fahrer des Kleinbusses. “Ich heiße Jenya”, stellt sich der junge Mann freundlich vor als er seinen Bus neben dem Lastzug geparkt hat. Wieder dauert es nicht lange bis wir die Räder, die Anhänger und alle Satteltaschen vom Lastzug in den Kleinbus getragen haben. “Hier nimm”, sagt Sergei und gibt Jenya 300 Rubel. “Nein, nehme ich nicht”, lehnt dieser das Geld ab. “Aber, aber du kannst doch nicht auch noch für uns die Taxifahrt bezahlen wollen”, mische ich mich im gleichen Atemzug ein. Sergei antwortet nur mit einem netten Lachen und reicht mir mit beiden Händen ein großes, schönes Jagdmesser. “Hier bitte zur Erinnerung”, sagt er noch immer lachend. “Segei! Du hast doch schon genug für uns getan. Du bist unser Engel auf Rädern. Du hast uns aus der sibirischen Pampa gerettet und bis hierher gebracht. Das ist doch mehr als wir uns wünschen konnten”, versuche ich abzulehnen. “Nimm es”, sagt er mit einem Tonfall der keine Widerrede duldet. “Danke”, sage ich ihn aus ganzem Herzen umarmend. “Ich habe zu danken”, entgegnet er. Wir steigen in Jenyas heruntergekommenen Kleinbus. Eh wir uns versehen ist auch Sergei in der Nacht verschwunden. Ein kurzer Schmerz durchzuckt mich. Wieder haben wir einen wunderbaren Menschen kennen gelernt der uns uneigennützig geholfen hat und wieder verschwindet er schneller als wir es wollen aus unserem Leben.

Unterkunft anders als erwartet!

Auch Jenya begegnet uns mit harmonischen Gesichtszügen. Seine Anwesenheit strahlt Gutmütigkeit aus. Später erfahren wir von ihm, dass er nur zufälliger Weise an dieser Tankstelle stand. “Eigentlich wollte ich mit meiner Freundin in die 50 Kilometer von hier entfernte Banja (Sauna) meines Vaters gehen. Jedoch gab es Missverständnisse und mein Vater hat sie an jenen Abend schon Freunden von ihm versprochen. Dann wollten meine Freundin Katya und ich den Abend nutzen, um das Kino zu besuchen. Ich war plötzlich knapp an Sprit. Deshalb bin ich schnell noch zum Tanken gefahren als plötzlich ein Mann mit zerzausten Haaren vor meinem Bus stand und mit seinen Händen wild herumgefuchtelt hat. Ich dachte erst das ist ein irrer Bettler. Als er dann fragte ob ich etwas Geld verdienen will wollte ich schon weiterfahren. “Ich habe da ein paar Radfahrer aus Deutschland aufgegabelt. Sie hatten eine Panne. Sie sitzen da drüben in meinem Roadtrain”, erklärte er. Ich wurde aufmerksam und sah euch tatsächlich in dem großen Lastzug sitzen. Sofort war ich interessiert und wollte euch helfen. Ich rief meine Freundin an, um ihr zu erklären das ich später kommen würde.”

Der junge Mann fährt uns mit seinen Bus durch das nächtliche Krasnojarsk und findet das Kloster nicht. Wir landen in einem Innenhof. “Das stimmt nicht. Wir suchen das Kloster”, erkläre ich. “Ruf doch Michael an. Er kann dem Fahrer erklären wohin wir müssen”, schlägt Tanja vor. “Michael?” “Ja”, antwortet es. “Oh sehr gut das du noch wach bist”, sage ich und erkläre das wir das Kloster nicht finden. “Gib mir den Fahrer. Ich erkläre ihm wo ihr hin müsst”, sagt er, worauf ich das Handy Jenya reiche. “Wo ist denn diese Straße?”, fragt er. “Woher soll ich denn das wissen? Ich lebe in Samara und war noch nie in Krasnojarsk”, antwortet Michael. “Was? Samara?” “Ja.” “Das ist doch 3.500 Kilometer weg von hier”, hören wir Jenya, der vor Überraschung nahezu das Handy fallen lässt. Gott sei Dank kann Michael zumindest erklären wie das Kloster heißt und wo es ungefähr sein muss. Wenig später findet Jenya das Kloster.

Wir stehen vor einer verschlossenen Tür und klopfen. Der Pförtner öffnet und betrachtet uns im ersten Augenblick etwas skeptisch. “Warten sie. Ich muss mit Matuschka (Oberin) sprechen. Es dauert nur Minuten bis wir eingelassen werden. Eine alte Nonne kommt über den dunklen unbeleuchteten regennassen Hof geschlichen. Sie begrüßt uns förmlich. Wie es die Regeln vorschreiben halten wir unsere Hände nach oben geöffnet und bekommen ihren Segen. Ich reiche ihr das Empfehlungsschreiben welches wir vom Kloster in Samara erhalten haben. Um es vor dem Regen zu schützen steckt sie es unter ihre schwarze Tracht.

Der Pförtner zeigt uns die Unterkunft. Es ist ein fensterloser Kellerraum direkt unter den öffentlichen Toiletten des Klosters. Laut der Klosterchefin dürfen wir eine Woche bleiben, um alles für unsere Heimreise zu erledigen. Vor allem bekommen wir die Erlaubnis unsere Anhänger und wichtigen Ausrüstungsgegenstände bis zu unserem Wiederkommen im kommenden Jahr hier zu lagern. Obwohl der Anblick der schmutzigen, heruntergekommenen Kellerräume eher schockierend ist, freuen wir uns hier aufgenommen worden zu sein. Jenya hilft uns noch die mit Lehm und Dreck verschmutzte Ausrüstung und Anhänger nach unten zu schleppen, während der Pförtner Valleri sein Heim für uns räumt. “Aber wir wollen sie nicht verdrängen”, sagt Tanja zu Valleri. “Sie verdrängen mich nicht. Ich habe auch an der Pforte einen Raum in dem ich sehr gut schlafen kann”, antwortet er.

“Was bekommst du für die Fahrt hierher?”, frage ich Jenya nachdem wir alles in dem Keller verstaut haben. “Wie bitte?” “Was bekommst du für die Fahrt?” “Ich verstehe nicht?” “Das war doch eine Taxifahrt. Du bekommst doch Geld dafür”, erkläre ich. “Das war keine Taxifahrt und ich bekomme kein Geld. Das habe ich sehr gerne gemacht. Hat mir Freude bereitet euch helfen zu dürfen. Wer trifft in Sibirien schon Radfahrer aus Deutschland”, verstehen wir. “Meine Freundin wird euch morgen anrufen und fragen ob ihr unsere Hilfe benötigt. Sie ist Dolmetscherin und spricht perfekt Englisch und Deutsch. Vielleicht dürfen wir euch unsere Stadt zeigen”, sagt er und verabschiedet sich mit einem milden Lächeln um die Lippen. “Bis morgen und vielen Dank für alles!”, rufen wir ihm hinterher. “Bis morgen und nichts zu danken”, antwortet er und steuert seinen uralten Bus aus dem Klosterhof.

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