Die eiserne Schlange
Tag: 12
Sonnenaufgang:
06:59
Sonnenuntergang:
17:20
Luftlinie:
23
Tageskilometer:
27
Northam-Camp — 23.05.2000
Als Tanja und ich an diesem Morgen aufwachen wollen wir unsere warmen Schlafsäcke nicht verlassen. Es ist unangenehm kalt. Trotzdem versuchen wir unseren Zeitplan einzuhalten, ziehen uns warme Unterwäsche an, schlüpfen in unsere Kleidung und krabbeln aus dem Zelt. Das Thermometer zeigt das erste mal in diesem Jahr minus ein Grad an. Die frühen Sonnenstrahlen tauchen das Buschland in ein tiefes Gold. Der Himmel ist hellblau und unser Barometer verspricht wieder einen schönen Tag. Bereits um 10 Uhr 40 verlassen wir das Camp und marschieren in Richtung der Stadt Northam. Früher als geplant erreichen wir unseren vorgesehenen Übernachtungsplatz einige Kilometer vor der Stadt. Nach einer kurzen Rast entscheiden wir uns noch heute Northam zu durchqueren.
Ab jetzt müssen wir unsere Karawane einer befahrenen Eisenbahnlinie entlangführen. Jo, Tanja und ich wissen was das bedeutet. Keines unserer Kamele hat bis heute die Bekanntschaft mit der großen eisernen Schlange gemacht und wir sind auf alles gefasst. Während Jo die Tiere führt bilden Tanja und ich das Frühwarnsystem. Ich laufe mit unserem Hund Rufus voraus, um den Weg neben den Schienen auf Scherben und sonstigen Unrat zu prüfen der den Kamelen gefährlich werden könnte. Tanja folgt uns um Jo vor dem eisernen Monster zu warnen.
Durch den Gang der Tiere schwanken die Packtaschen ständig hin und her und geben die unterschiedlichsten Geräusche von sich. Es schabt und quietscht unaufhörlich so laut, dass die Person die die Karawane führt kaum Laute von außen wahrnehmen kann. Ein Auto, Roadtrain oder sogar Zug würde Jo und natürlich die Lasttiere total überraschen. Unsere Wüstentiere sind mittlerweile zwar viel ruhiger geworden, jedoch erschrecken sie immer noch vor dem kleinsten unbekannten Laut. Es ist schon mehr als einmal geschehen, dass die gesamte Karawane durchging als der Schlussmann sie aus irgend einen Grund überholen wollte. Jo hat uns in diesem Fall beigebracht immer mit den Tieren zu sprechen. Also zum Beispiel: “Hallo Kamele ich bin es! Nicht erschrecken! Ich komme jetzt! Werde euch überholen!” Natürlich kommt es dabei nicht darauf an was man den Tieren sagt, sondern das sie die vertraute Stimme hören und nicht erschrecken. Zur Erklärung muss ich erwähnen, dass jedes Tier mit der Nasenleine am Sattel des vorderen Kameles angebunden ist und nicht die Möglichkeit besitzt, sich umzudrehen, um zu sehen was da kommt. Sollte plötzlich ein Zug von hinten auftauchen wird Jo von Tanja gewarnt und kann die gesamte Karawane in einen Bogen führen, so das alle Tiere dann in Richtung des Zuges stehen und sehen können was auf sie zukommt. Laut Jo’s Aussage liegt in dieser Aktion eine Chance die Tiere vor dem Durchgehen zu bewahren. Im Laufe der nächsten Wochen werden sie diese Scheu verlieren, doch bis zu diesem Zeitpunkt sind sie immer noch im Trainingsstadium.
Plötzlich entdecke ich auf dem Weg eine ganze Anzahl alter, wirr verknoteter Telefonkabel. “Stop Jo!” rufe ich und gebe ihr mit Handzeichen zu verstehen, dass ich den Weg säubern muss. Solche Kabel sind äußerst gefährlich, leicht kann sich ein Kamel mit einem Bein in einer aufstehenden Schlinge verfangen und dann, wenn es vor Angst durchgeht, all die anderen ebenfalls in Panik versetzen. Ich säubere den Boden und wir können weiter laufen, doch wenig später stolpere ich wieder über unzählige dieser ewig langen Drähte. Erst jetzt bemerke ich, dass über unseren Köpfen die Bäume und Sträucher ebenfalls mit den alten Zeug verhangen sind. Anscheinend hat die Telefongesellschaft all die Kabel von den Masten geschnitten und sie einfach liegen lassen. Um so weiter wir gehen desto schlimmer wird es. Zwischenzeitlich muss ich mit meinem Leatherman unzählige der Drähte zerschneiden. Wir entscheiden uns auf der anderen Seite der Schienen weiterzugehen und überqueren sie. Gott sei Dank gibt es hier links und rechts der Schienen einen unbefestigten aber relativ gut gepflegten Weg den die Eisenbahngesellschaft eingerichtet hat um das Schienensystem warten zu können.
Um 15 Uhr erreichen wir den Randbezirk von Northam. Ohne von dem gefürchteten eisernen Monster überrascht worden zu sein verlassen wir die Gleise und folgen einigen wenig befahrenen Nebenstraßen um die Stadt herum. Ständig werden wir nun von der freundlichen Bevölkerung angesprochen und in kurze Gespräche verwickelt. Viele der hier lebenden Bewohner haben einen Artikel in der Western Australian gelesen oder in irgend einen Fernsehsender einen Filmbeitrag über die Red Earth Expedition gesehen. Wir sind angenehm überrascht über ihr positives entgegenkommen. Manche laden uns sogar zum Tee oder Kaffe ein was wir aus Zeitgründen leider ablehnen müssen.
Der Ranger von Northam und einige Polizisten denen wir begegnen wünschen uns viel Glück. Auch unzählige Schulkinder stehen am Wegrand und winken uns mit großen staunenden Augen zu.
Am Ende der nicht enden wollenden Throssel Street begleitet uns eine sympathische Sportlehrerin um uns einen sicheren Weg über einige Hauptstraßen zu zeigen. Dann überqueren wir die stark befahrene Eisenbahnlinie die West und Ostaustralien verbindet und folgen ihr. Es ist 16 Uhr 30. Wir sind hundemüde und Jo macht einen Witz über den Zug der gleich kommen wird. Ich lache über ihre Ironie, denn hier ist im Ernstfall kaum genügend Platz die Karawane zu drehen. Ca. 5 Meter links neben uns stehen einige Gebäude die von einem Maschendrahtzaun begrenzt sind und nur wenige Meter rechts neben uns führen die Schienen vorbei. Doch noch während des Lachens fährt mir plötzlich Tanjas Warnruf “Train! Train! Train!” durch die Glieder. “Was hat sie gerufen?” fragt mich Jo. “Ein Zug kommt, schnell drehe die Karawane!” antworte ich ihr und ehe wir uns versehen taucht der riesige Güterzug auf. Jo bringt es in letzter Sekunde irgendwie fertig die Tiere zu drehen und dann donnert er schon vorbei. Tanja und ich beobachten unter enormer Anspannung wie unsere Tiere reagieren werden. Jo hält Sebastians Kopf direkt vor ihrem Gesicht und spricht beruhigend auf ihn ein als ein Waggon nach dem anderen über die nahen Schienen rattert. Alle Kamele haben große Augen und sehen entsetzt auf das riesige nicht enden wollende eiserne Ungetüm doch sie bleiben ruhig. Ich kann es nicht fassen und beginne einen ausgelassenen Freudentanz noch während ein Waggon nach dem anderen unter lautem Getöse vorbei braust. Plötzlich hört der Spuk auf und der Zug verschwindet hinter einer langgezogenen Biegung.
Jo, Tanja und ich sind trotz der Anstrengungen des Tages ausgelassen und glücklich. Seitdem wir neben den Schienen laufen sind wir angespannt und auf alles gefasst und jetzt das. Nur wenig später finden wir an einem kleinen Fluss ein wunderbares Camp. Heute haben wir uns selbst das erste Mal bewiesen, dass wir trotz unserer anfänglichen Probleme in der Lage sind, eine größere Strecke zurückzulegen. Nach meinen Berechnungen haben wir heute 27 Kilometer geschafft.