Der Wikingerhäuptling von Borg
N 68°14’38.0’’ E 014°36’29.8’Datum:
30.09.2020
Tag: 059
Land:
Norwegen
Ort:
Super Straßenstellplatz
Tageskilometer:
72 km
Gesamtkilometer:
5212 km
Bodenbeschaffenheit:
Asphalt
Fähre
0
Brückenüberquerungen:
4
Tunneldurchfahrten:
3
Sonnenaufgang:
07:04
Sonnenuntergang:
18:39
Temperatur Tag max:
14°
Temperatur Nacht min:
9°
Aufbruch:
09:30
Ankunftszeit:
18:00
(Fotos zum Tagebucheintrag finden Sie am Ende des Textes.)
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Wir befinden uns nur ein paar Kilometer entfernt von Borg, dem bekannten Wikingermuseum auf Lofoten. Da wir auf unserer Erkundungsfahrt letztes Jahr dem Museum schon einen Besuch abstatteten, wissen wir, dass es dort freies WLAN gibt, das wir dringend für ein paar größere Updates benötigen. Ein Grund für uns, heute Morgen den steinigen Stellplatz bei Eggum zu verlassen. „Das Museum öffnet in der Nachsaison nur noch am Mittwoch und Samstag“, sagt Tanja. „Weißt du um wie viel Uhr?“, frage ich. „Bin mir nicht sicher, aber ich glaube von 12:00 Uhr bis 16:00 Uhr.“ „Okay, dann lass uns rechtzeitig dort sein“, antworte ich und klappe meinen Laptop zu.
Nach einer kurzen Strecke von vielleicht 10 Kilometer erreichen wir die einstige Wikingersiedlung Borg. Sie war eine von geschätzten 10 oder 15 Häuptlingssitze in Nordnorwegen, die es schon vor 1.900 Jahren hier gab. Borg bestand aus mehr als 115 Höfen, in denen nach heutigen Schätzungen die beachtliche Anzahl von 1.800 Menschen lebten. Wir parken unterhalb der imponierenden Rekonstruktion des größten Langhauses der gesamten Wikingerzeit. „Beeindruckend“, sage ich auf das auf einem Hügel errichtete, 83 Meter lange Holzhaus zulaufend, in dem einst ein mächtiger und reicher Häuptling mit seiner Frau, Familie und Dienern herrschte. Nach Angaben der Archäologen wurde dieses Langhaus zwischen dem 5. und 6. Jahrhundert erbaut und mindestens 400 Jahre genutzt. Als wir letztes Jahr hier waren, wimmelt es nur so von Besuchern, jetzt sehen wir im Souvenir- und Restaurantbereich gerade mal vier Gäste. „Das sieht für die Betreiber nicht gut aus. Hoffe, die stehen das finanziell durch“, meine ich. „Sie werden dieses Jahr draufzahlen“, ist sich Tanja sicher. „Traurig, was Corona anrichtet“, entgegne ich das imposante, große, fensterlose Innere des Langhauses betretend. Sofort empfängt uns warmes, düsteres Licht und wir fühlen uns, als hätte uns eine Zeitmaschine in das Jahr 600 nach Christi geschleudert. Der getrocknete Stockfisch hängt von der Decke, über der großen Feuerstelle hängen Töpfe, über den Bänken liegen Rentier- und Rotwildfelle. „Denke, zu Zeiten der Wikinger lagen da auch die Felle von Wölfen, Luchsen, Polarfüchsen, Lemmingen, Braunbären und Moschusochsen“, sage ich, da die Wikinger auch von der Jagd gelebt hatten und diese Tiere sicherlich viel zahlreicher vorkamen als heute. In einem Abschnitt des Langhauses sehen wir historische Gewänder, Streitäxte, Schilde, Schwerter, Rüstungen und Helme mit Nasenschutz. Auf einer Infotafel wird darauf hingewiesen, dass man sich für ein Foto mit Schild und Schwert bewaffnen darf. „Möchtest du?“, fragt Tanja. „Klar, warum nicht“, antworte ich mir den Eisenhelm aufsetzend, den Speer und das Schild nehmend, um dann wie ein blutrünstiger, angreifender Wikinger fürchterlich in die Kamera zu brüllen. „Hört sich wahrlich echt an“, lacht Tanja. „Gut, dass keine Besucher da sind“, antworte ich ebenfalls lachend. Bei der weiteren Erkundung des wunderbar wieder errichteten Langhauses werden uns Nägel, Eisenmesser, Webstuhlgewichte, Klebersteingefäße und Spinnräder präsentiert. Auch Scherben, die einstmals wertvolle, aus England importierte Glasbecher waren, fand man hier.
Wir setzen uns auf eine der Bänke und lassen die fremdartige Atmosphäre auf uns wirken. „Weißt du, wie diese Siedlung entdeckt wurde?“, fragt Tanja. „Im Internet steht, dass es der Bauer Frik Harald Bjerkli war, der beim Pflügen seiner Felder im Jahre 1981 alte Tonscherben fand. Dabei stieß er rein zufällig auf die nördlichste und größte Wikingersiedlung Norwegens.“ „Ach deswegen haben sie den alten Traktor im Vorraum aufgestellt?“ „Denke, das ist der Originaltraktor von Frik Harald Bjerkli“, antworte ich. „Abgefahren, was wir in Norwegen alles erleben. Manchmal habe ich das Gefühl, wir sind die Hauptdarsteller eines alten Spielfilms“, sagt Tanja ihre Blicke durch das gemütlich wirkende Innere des Langhauses gleiten lassend. „Ob es wirklich so ausgesehen hat?“, bricht Tanja wenige Minuten später unser Schweigen. „Sie haben sicherlich versucht, das Langhaus so originalgetreu wie möglich aufzubauen. Jedoch war das Haus Jahrhunderte lang bewohnt. Es hatte sicherlich keinen Museumscharakter, wirkte demnach viel echter, war überall abgegriffener und schmutziger.“ „Schmutziger?“ „Der hintere Teil des Hauses wurde als Viehstallung genutzt. Da schützten sie ihre Tiere vor dem extremen Winter. Der Vorteil Nutztiere im Haus zuhaben war unter anderem die Körperwärme, die vom Vieh in den Raum strahlte. Der Nachteil war der Gestank des Dungs, also roch es anders als jetzt gerade.“ „Kann ich mir gut vorstellen. Nachdem wir in den vergangenen 30 Reisejahren oft genug in Tierstallungen genächtigt und teils für einige Zeit gewohnt haben, weiß ich ganz genau, was du meinst.“ „Ja schon irre, was wir in unserem Leben alles erfahren und erleben durften“, antworte ich daran denkend, wie wir das Tiefland von Nepal mit unserer Elefantenkuh Bawan Kumari (Jungfrau der Lüfte) durchquerten und öfter in einfachen Ziegen und Schafställen nächtigten. „Kann mir auch gut vorstellen, wie die Frauen der Wikinger auf den Feuerstellen für ihre Männer kochten“, holt mich Tanja Minuten später aus meinen Erinnerungen in das Langhaus zurück. „Ja kann ich mir auch vorstellen, aber die Feuerstellen haben anders ausgesehen als die hier. Es gab lang gestreckte Feuergräben, indem sich Feuergruben befanden, die besonders tief am Ende der Halle waren. Man glaubt heute, dass die tiefen Feuergruben für größere Festlichkeiten und religiösen Zeremonien genutzt wurden. Auch hat man in den Gruben am Ende der Halle keine Asche gefunden. Wahrscheinlich wurden sie mit aufgeheizten Steinen ausgelegt, auf die man Fleisch legte, das dann abgedeckt wurde, um es zu garen. Das erklärt der Torf, den die Archäologen um die Feuergruben herum entdeckten. „Für mich ist es immer wieder faszinierend, wie die moderne Archäologie Vergangenes rekonstruieren kann. Was ich mich aber frage, ist, woher die Archäologen wussten, dass diese Menschen hier reich waren? Die müssen doch wertvolle Gegenstände gefunden haben und wenn dem so ist, frage ich mich, warum die Menschen solche Gegenstände nicht einfach mitnahmen, nachdem sie das Langhaus verließen?“ „Ich glaube, dass die Wikinger oftmals ihre Reichtümer im Boden ihres Hauses versteckten. Vielleicht ist derjenige, der es versteckt hat, auf einen Kriegszug gestorben und seine Angehörigen wussten nichts von dem Schatz, bis dann tausend Jahre später Archäologen solch einen Platz feinsäuberlich untersuchen. Ich weiß aber auch, dass man Götterfiguren bewusst unter Stützpfeilern vergrub, um für sich und sein Heim Schutz zu erbitten. Auf jeden Fall fanden sie Perlen und einen Ring aus Gagat, dem man magische unheilverkündende Kräfte zuschrieb. Im inneren des Hausgrundrisses stießen die Forscher auf einen kleinen, aber spektakulären Goldschatz. Besonders erwähnenswert sind drei Goldamulette, auf denen sich zwei Menschen umarmen. Man geht davon aus, dass es sich dabei um die Fruchtbarkeitsgöttin Freya handelt. Sie war eine Lehrerin und Zauberin und die Göttin des Frühlings, des Glücks und der Liebe. Sicherlich war das ein außergewöhnlicher, wertvoller Fund, und sicherlich haben die damaligen Herren des Hauses die Göttin nicht einfach auf ein Regal gelegt oder an die Holzwand gehängt, sondern sie gut versteckt und vielleicht nur für spezielle Zeremonien herausgeholt. Sie fanden auch ein Amulett von Gerd. Nach der nordischen Mythologie war sie die Tochter des Riesen Gymir und für ihre Schönheit berühmt. Wie auch immer zeugen solche Ausgrabungsgegenstände von beträchtlichem Reichtum, und wenn jemand so etwas besaß, muss er auch weitreichende Handelsbeziehungen unterhalten haben“, rekapituliere ich.
Wir verlassen das Langhaus und laufen über den Höhenrücken runter zum Ufer des nahen Meerbusens. „Muss tatsächlich ein bedeutender Häuptling gewesen sein, der einst hier lebte“, sage ich vor dem Nachbau eines Bootshauses stehend. „Weil er ein Bootshaus hatte?“, fragt Tanja. „Man hat hier die Umrisse von drei Bootshäusern entdeckt. Vielleicht waren es aber mehr. Der größte Naus, so heißen die Bootshäuser, in denen man im Winter die Langboote lagerte und wartete, war 30 Meter lang. Das bedeutet, dass ein großes Kriegsschiff darin unterkam, auf dem 70 Krieger mit ihren Waffen und Schildern Platz fanden. Und das war nur eines von vielleicht drei Schiffen. Wer so viele Krieger um sich vereinen konnte, muss für damalige Verhältnisse ein mächtiger Häuptling mit politischem Einfluss gewesen sein“, überlege ich. Wir blicken auf den Meeresbusen und sehen einen Nachbau eines Wikingerschiffes am Ufer, in den sanften Wellen schaukeln. In meiner Fantasie sehe ich wilde Krieger in ihrer vollen Rüstung darauf Hin und Her laufen. Sie machen sich gerade für einen Kriegs- oder Raubzug fertig. Ich höre ihr raues Gelächter, ihre Lust darauf, sich in ein großes, gefährliches Abenteuer zu begeben. Vielleicht die Gier an den Küsten von Schottland, Irland oder England reiche Beute zu machen, Frauen zu missbrauchen, junge Männer, Frauen und Kinder gefangen zu nehmen, um sie auf den Sklavenmärkten zu verkaufen? Ich sehe, wie einige Männer ihren Familien zuwinken. Dann legt das Kriegsschiff ab. Laute Befehle werden gerufen. Die Ruder tauchen in die See. Das Wasser schäumt vor dem Bug des Langschiffes auf. Der erfahrene Kapitän ruft seinem Mann am Ruder Befehle zu. Wer weiß, ob er den Isländer Leif Eriksson kannte, der um das Jahr 1000 Grönland entdeckte und damit der Erste war, der Nordamerika betrat? Langsam entfernt sich das Boot aus dem Sichtbereich der am Ufer Stehenden. Es steuert durch die einzige schmale, flussähnliche Wasserverbindung in den nächsten Meeresbusen, bis es das Nordmeer erreicht. Nur wer sich in diesem Gewässer sehr gut auskannte, fand den Seezugang zur Siedlung von Borg. „Sicherlich war es eine taktische Entscheidung des damaligen Häuptlings, sein Langhaus auf einem Hügel zu errichten, an dessen Fuße sich ein kaum zugänglicher Meeresbusen befand“, meine ich bewundern.
Bevor das Museum seine Türen schließt, lass uns ein paar Updates senden“, sagt Tanja, weswegen wir das geschichtsträchtige Ufer der Nordmänner verlassen und den Hügel wieder hochsteigen. Wir betreten den nahezu menschenleeren Empfangs- und Restaurantbereich des Museums und setzen uns an einem der 20 freien Tische. „Seid ihr Tanja und Denis?“, fragt uns eine junge Frau auf Deutsch kaum, dass wir uns ins WLAN eingeloggt haben. Erstaunt schauen wir auf. „Ja. Woher kennst du uns?“, frage ich verwundert. Wir haben eure Terra Love in den letzten Wochen schon ein paarmal gesehen. Macht es euch etwas aus, wenn wir uns mit euch ein wenig unterhalten?“ „Nein, nein“, sagt Tanja. „Ich heiße Laura, und das ist mein Freund Mark“, stellt sich die in Deutschland aufgewachsene Italienerin vor. Obwohl wir wegen dem bald schließenden Museum kaum Zeit haben, unterhalten wir uns angeregt mit dem sympathischen Pärchen. Sie sind seit einigen Monaten mit ihrem gemieteten Wohnmobil unterwegs und würden auch wahnsinnige gerne länger reisen und die Welt für sich entdecken. Im Laufe unseres Gespräches versuchen wir ein paar Anregungen und Tipps zu geben. Wir tauschen so mancherlei Informationen nach dem, woher und wohin aus. „Wart ihr schon auf den Vesterålen?“, fragen sie unteranderem. „Vesterålen?“, fragt Tanja. „Die Vesterålen ist eine Region und Teil einer Inselgruppe, etwa 300 km nördlich des Polarkreises. Am nördlichen Ende der Inselgruppe liegt der Ort Andenes. Von dort hat man eine der besten Möglichkeiten, Pottwale zu sehen.“ „Pottwale?“, frage ich interessiert. „Ja Pottwale“, antwortet Laura begeistert. „Wie weit sind die Inseln von hier?“, frage ich jetzt höchst aufmerksam. „Von hier vielleicht 250 oder 300 Kilometer“, schätzt Mark. „Nicht weit also. Na, vielleicht bauen wir das auf unseren Weg zum Nordkap mit ein“, überlege ich auf die Uhr blickend. Da die Pforten des Museums bald schließen und wir deshalb eventuell wieder kein Update senden können, entschuldigen wir uns bei den beiden. „Wir wollten euch nicht aufhalten“, sagt Mark. „Ihr habt uns nicht aufgehalten.“ „War super mit euch ein paar Worte auszutauschen. Vielleicht bis zur Pottwalsafari?“, verabschieden sie sich freundlich…