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Russland/Pallasowka

Bis in die Finsternis

N 50°02'58.0'' E 046°52'57.7''

Es ist kalt. Wir ziehen uns die langen Handschuhe über und fragen sicherheitshalber nach der Straße. Tatsächlich gibt es nur einen Ortsein- und Ausgang. Ein netter mongolisch aussehender Mann fährt uns mit seinem Lada voraus und zeigt uns den Weg. Am Ortsausgang studiere ich neben einer Tankstelle wiederholt die Landkarte. Nur etwa 45 Kilometer von hier frisst sich der Wolgograder Stausee tief in die Ebene und unterbricht die Uferstraße. Es ist zwar eine Fähre eingezeichnet aber mein Gefühl warnt mich unmissverständlich. Als wir gestern einen Einheimischen fragten ob die Fähre auch in Betrieb ist war er sich nicht sicher. Im ungünstigen Fall wären das 45 Kilometer hin und zurück nur um dann doch den Umweg um den Stausee einschlagen zu müssen. “Das würde einen Tag Verlust bedeuten und schwer an unserer Moral knabbern”, meine ich nachdenklich. “Lieber den Umweg”, schlägt Tanja vor. “Ich frage noch mal an der Tankstelle”, entgegne ich. Der Tankwart zuckt mit den Schultern. Er erkundigt sich bei zwei Polizisten die gerade ihren Dienstwagen betanken lassen. Einer von ihnen greift zum Handy und ruft bei der Fährstation an. “Nein, das Fährboot ist zur Zeit außer Betrieb”, verstehen wir. Der Polizist zeigt mir auf unserer Karte auf welcher Straße wir den Seitenarm des Sees umgehen können. “Wie weit ist es von hier noch bis nach Samara?”, möchte ich wissen. Er tippt 630 in sein Handy. “630 Kilometer?”, freue ich mich über die, trotz des großen Umweges annehmbare, Distanz. “Da, da”, antwortet er absolut sicher.

Mit zwei Liter extra Wasser lassen wir die Tankstelle hinter uns. Wir sehen ein Schild. 780 Km bis Samara. Ein Schock. Hat der Polizist doch Mist erzählt? Nach 15 Kilometer erreichen wir die Kreuzung. Ab hier müssen wir 102 Kilometer nach Südosten, also in Richtung Kasachstan bis zur Stadt Pallasowka radeln, um dann wieder nach Norden abzubiegen. “Ich kann nur hoffen, dass der Polizist mit seiner Kilometerangabe richtig liegt. Irgendwo dort muss es eine direkte Verbindung nach Samara geben die nicht in der Karte eingezeichnet ist. Wenn diese Straße nicht existiert befinden wir uns auf einen 150 Kilometer langen Umweg”, stöhne ich. Kaum sind wir abgebogen bläst uns der gestrige Rückenwind mächtig ins Gesicht. “Das darf doch nicht wahr sein! Dieser dämliche Wind!”, fluche ich lauthals all meine guten Vorsätze vergessend. Angestrengt strampelnd sinniere ich über das Für und Wieder dieser Entscheidung nach. Auf der anderen Seite der Wolga gibt es eine direkte Verbindung nach Saratow. Allerdings über Berge die genau am westlichen Wolgaufer auslaufen. Berge sind keine Alternative. Dann lieber den Umweg, glaube ich mich richtig entschieden zu haben. Doch der Wind macht uns einen Strich durch die Rechnung. Mittlerweile spüre ich wie laut mein Körper nach einer längeren Rast ruft. Alle Muskeln, vor allem die Oberschenkel befinden sich in einem ständigen Schmerzzustand. Aber vielleicht ist es nur die Psyche die mir hier einen Streich spielt? Wer fährt schon gerne Umwege? Und die auch noch gegen den Wind?

Wegen des bald kommenden Winters und dem noch immer fernem Ziel nehmen wir uns trotz des Windes vor noch heute Pallasowka zu erreichen. Mit etwa 15 anstrengenden Stundenkilometer legen wir uns in den Wind. An einer Tankstelle bleiben wir kurz stehen. Wollen Wasser kaufen. Aber das Ladengeschäft gibt es nicht mehr. Einige Männer möchten uns eine riesige Wassermelone schenken. Mindesten 10 Kilo schwer. Wir müssen ablehnen. Dafür machen wir aber zur allgemeinen Freude ein Gruppenfoto. Dann geht’s gleich weiter. Der Wind wird stärker und bremst uns wieder auf 10 bis 12 Kilometer pro Stunde herunter.

Ist Energie trennbar?

Ich versuche mich auf das Treten zu konzentrieren. Versuche keine Energie zu vergeuden indem ich gegen den Wind hadere. Doch die Anstrengung, der Kraftverbrauch, das langsame Vorankommen entfachen ungute Gedanken die ich kaum kontrollieren kann. Das Auf und Ab des Lebens ist wieder Thema. Höhen und Tiefen. Im Augenblick fühle ich mich nicht gerade auf einer Höhe und doch weiß ich, dass das vermeintliche Tief nur durch meine eigenen negativen Gedanken konstruiert wird. Wie schwer es doch ist sich immer selbst zu motivieren. Vor allem dann wenn das im Moment Erlebte nicht in die Pläne passt. Noch vorgestern hatte mir Mutter Erde einen kleinen Vortrag dazu gehalten und jetzt beginne ich nicht zum ersten Mal wieder von vorne. Nicht aufgeben. Immer wieder anfangen. Treten, treten, treten. Eine Sehne oder Muskel im rechten Knie beginnt zu schmerzen. Meine Handgelenke senden ebenfalls unangenehme Empfindungen. Die Hände schlafen immer wieder ein. Ich muss sie unentwegt vom Lenker nehmen. Schüttle sie damit das Blut wieder zurückfließt und sie belebt. Es wird kälter. Der Wind ist wie eine überdimensional große Hand die unser Vorankommen unaufhörlich bremst. Und doch muss dieser Moment etwas Gutes in sich bergen. Nur was? Akzeptanz? Toleranz? Klar was sonst. Das alte Thema. Geschehnisse geschehen lassen. Sich nicht dagegen wehren. Fließen lassen. Aktives fließen lassen. Das tun was man tun kann. Dann aber akzeptieren wenn man nicht mehr tun kann. Nicht mit dem Kopf gegen die Wand. Akzeptanz. Toleranz. Toleranz anderen Menschen gegenüber aber auch für sich selbst. Immer das alte Thema. Ich kann es schon nicht mehr hören. Warum bin ich nicht in der Lage auch die anstrengenden oder unschönen Zeiten in meinem Leben zu akzeptieren? Was macht es so schwer? Ist doch letztendlich ganz einfach. Ich sage; “Ab sofort nehme ich die Dinge die mir widerfahren gelassen hin. Ja ich nehme sie gelassen hin. Komme da was wolle.” Und dann kommt was will und wieder bin ich am zürnen. Was bin ich nur für ein unbeugsamer und manchmal schwieriger Mensch? Oder nicht? Ist dieser Prozess normal? Ist jeder Mensch davon betroffen? Höchstwahrscheinlich ist das so. Das würde bedeuten, dass wir Menschen, egal was uns widerfährt, einen ähnlichen Lernprozess zu durchschreiten haben. Der eine auf dem Rad, der andere als Politiker, als Mechaniker, Metzger, Bettler usw.

Auf der anderen Seite ist mir klar, dass wir Menschen aus Energie bestehen. Energie die unvergänglich ist. Deswegen gibt es ja auch keinen Tod. Das war meine erleuchtende Erkenntnis im moldawischen Kloster. Wenn es so ist das wir alle aus Energie bestehen, dann sind wir Menschen einerlei welcher Hautfarbe und Nation eng miteinander verbunden. Ist Energie trennbar? Eigentlich nicht denn was auch immer wir Menschen damit anstellen, sie wird sich immer wieder vereinen. Vereinen zu “Allem Was Ist”. Energie ist Gott, Gott ist Energie. Gott ist der Kosmos, das Universum. Wir sind alle miteinander verbunden. Enger als wir glauben wollen. Ohne Zweifel bedeutet das auch, dass wir alle miteinander ähnliche oder gleiche Lernaufgaben zu meistern haben. Der eine auf dem Rad, der andere als Politiker, als Mechaniker, Metzger oder Bettler. Nun, wenn das so ist brauche ich mich gar nicht so über mich selbst zu beschweren. Andere Menschen haben es demnach bei ihren Lernaufgaben auch nicht leicht. Obwohl mich diese Einsicht, mit meinen Lernaufgaben nicht alleine zu sein, beruhigen könnte, ist sie für mich in diesem anstrengenden Moment keine Befriedigung. Diese Erkenntnis ist zwar erleichternd aber keine Lösung. Nun, was ist die Lösung? “Akzeptanz ist die Lösung”, höre ich es in mir. Hm, nichts Neues, doch in diesem Augenblick nimmt sie ganz unverhofft eine Form an welche ich aus dem inneren meines Seins besser verstehe. Eine Form die ich schon lange zu kennen glaube, die mir vertraut ist und der ich vertraue.

Meine Beine kreiseln plötzlich wieder leichter. Drehen die Kurbel immer weiter, immer weiter, aber gegenwärtig etwas beschwingter. Seltsam wie der Körper auf Gedanken reagiert. Auf Negative wie auch auf Positive. Wenn das so ist, und das habe ich mir gerade wieder einmal selbst bewiesen, macht es großen Sinn unaufhörlich an einem positiven Gedankengut zu arbeiten. Die Leistungskraft steigert sich und das erreichen der Ziele wird ebenfalls einfacher. Sehr gut, sehr gut. Jetzt bräuchte ich nur noch das Rezept um immer positiv drauf zu sein. “Werde nicht unzufrieden. Du hast doch gerade herausgestellt was Gedanken verursachen. Arbeite weiter daran. Lass es fließen. Sei nicht missvergnügt und akzeptiere dich selbst so wie du bist. Dann wirst du Stück für Stück reifen. Reifen wie ein Apfel in der Sonne. Reifen bist du vom Baum ins Bett des Grases fällst und dich mit Allem Was ist vereinst”, vernehme ich die klare Stimme.

Nach 80 Tageskilometer übernimmt Tanja zeitweise die Führung. Sie hat noch Kraft dem Wind die Stirn zu bieten. Ist bestens gelaunt und besitzt heute offensichtlich ein unerschöpfliches Potential an positiven Gedanken. Ich hänge mich in ihren Windschatten. Eine große Entlastung da der Frontmann wie beim Tiefschneegehen eine Spur legt und der Verfolger den Wind nicht frontal abbekommt.

Wenn wir heute die 117 Kilometer schaffen wollen müssen wir uns ins Zeug legen. Wir nehmen uns keine Zeit für eine Mittagsrast. Bleiben nur manchmal stehen, um eine Kleinigkeit zu essen, den Energietank aufzufüllen. Dann weiter. Immer weiter in den Wind. Es wird dämmerig. Wieder ewiges weites Land um uns. Steppe an der Wolga. Kaum oder gar nicht besiedelt. Ab und an Hirten auf den Pferden die ihre Schafe oder Rinder hüten. Wie in der Mongolei. Während eines kurzen Stopps an einem vergessenen Verkehrsschild in einsamer Landschaft stoppt ein klappriges Auto Marke unbekannt neben uns. Ein Mann mit mongolischen Gesichtszügen steigt aus und kommt auf uns zu. Er begrüßt uns freundlich. Er stellt uns einen Berg von Fragen und freut sich über die Antworten. Dann singt er uns eine Strophe aus einem wolgadeutschen Lied vor. “Ha, ha, ha”, lacht er äußerst belustigt und erzählt das er aus Kasachstan kommt. Tüüüüt! Tüüüüüt! Ertönt die Hupe seiner alten Kiste in die Kürbisse bis zum Dach geladen sind. Dem Beifahrer wird es offensichtlich langweilig und er fordert zum Weiterfahren auf. “Doswidanje”, verabschiedet sich der Kasache noch immer lachend, läuft zu seiner Rostlaube auf vier Rädern zurück die sich hustend, spuckend und rauchend davonschleicht. Wieder sind wir in der endlosen Weite alleine.

Ich fühle mich wie ein Ochse der den Mühlenstein dreht. Stoisch treten. Tritt, Tritt nur das sich unter meinen Beinen der Zahnkranz bewegt und kein Mühlenstein. Es wird dunkel. Motiviere mich mit dem Gedanken an ein, zwei oder auch drei kühle Bier und eine leckere Vesper in einem warmen Zimmer. Nur bleibt die Frage offen ob es das in Pallasowka überhaupt gibt? Ob wir überhaupt auf eine Gastiniza treffen? Es wird dunkel. Kaum Autos. Den gesamten Tag schon kaum Autos. Eine sehr schöne Radstrecke wäre sie nicht so irre anstrengend. Tanja ist heute der Antreiber. Sie spurt den Weg und motiviert. Gut das wir in der Lage sind uns damit gegenseitig abzuwechseln. Schilder am Straßenrand zeigen die gefahrenen Kilometer. Erst 90 dann 95, 98,105. Es ist stockdunkel. Der Gegenwind hat sich beruhigt, schlafen gelegt sozusagen. Ich bin wieder vorne. Lasse meine vier Räder in der Nacht drehen. Treibe sie an mit meiner Energie. Energie aus dem allumfassenden Ganzen des Kosmos. Tanjas LED-Scheinwerfer blenden mich in meinem Rückspiegel. Lichter tauchen vereinzelnd auf. Erst klein, unscheinbar, kaum erkennbar, doch dann werden sie real. “Wir schaffen es, wir schaffen es”, motiviere ich mich leise. Am Ortseingang arbeiten Männer in einer baufälligen Werkstatt. “Nach links, über die Brücke”, sagen sie und mehr verstehe ich auch nicht. Als wir die Brücke überqueren gabelt sich die Straße. “Wohin jetzt? Keiner da um zu fragen”, meine ich erschöpft. Es ist stockdunkel. Keine Beleuchtung im Randbereich dieser Stadt nur 28 Kilometer entfernt von Kasachstan. Dann dröhnt ein Auto aus dem Schlund der gähnenden Nacht. Es kommt direkt auf uns zu. Instinktiv und etwas verzweifelt hebe ich die Hand. Könnte ja sein das der Fahrer anhält und uns sagt in welche Richtung wir müssen und wo es eine Gastiniza gibt. Tatsächlich hält er. Als wäre er gerade vom Himmel gefallen oder ein vom Kosmos gesendeter Engel. “Es gibt eine Gastiniza. Folgt mir ich bringe euch hin”, meint er gütig. Mein Körper mobilisiert noch mal all seine Kraft und wir radeln mit 18 Stundekilometer Geschwindigkeit dem rumpelnden Fahrzeug hinterher. Dann, als eine Absperrung ihm das Weiterfahren nicht mehr möglich macht hält der nächtliche Engel an. “Dort hinten wo ihr das Licht seht, dort ist die Gastiniza. Viel Glück und eine gute Reise”, verabschiedet er sich und verschwindet im Dunkeln wie er gekommen ist.

“Tut mir leid. Wir haben kein Zimmer frei”, Erschreckt mich die Frau an der windigen, halb zusammengefallenen Rezeption. Ich breche ebenfalls fast zusammen. ”Bitte, bitte sehen sie doch noch mal in ihrem Buch nach”, sage ich jetzt völlig entkräftet und mit der Gewissheit im Notfall vor der Treppe des Hauses unser Zelt aufzubauen. Ihre Augen sehen mich jetzt intensiver an und bekommen plötzlich einen weichen Schimmer. Gott sei Dank, denke ich wieder Zuversicht fassend. Dann blickt sie wirklich erneut in ihr dickes Buch. “Wir haben ein Zimmer aber es ist nicht geputzt”, entschuldigt sie sich mit freundlicher bald führsorglicher Stimme. “Sie haben ein Zimmer? Aber das ist doch wunderbar. Egal ob geputzt oder nicht, wir nehmen es”, antworte ich sehr, sehr freudig. Dann zeigt sie mir den Raum im ersten Stock. Unrat vom Vormieter liegt auf dem Tisch, die Betten sind verwühlt und die Toilette ist nicht gespült. “Wollen sie es wirklich nehmen?”, fragt sie noch mal. “Klar, wir machen schon sauber”, antworte ich bestens gelaunt. Dann tragen wir unsere Ausrüstung in die schmutzige Stube, und sperren die Räder in den Vorraum neben der Anmeldung. Während Tanja den Abfall zusammenräumt kommt die nette Dame vom Empfang und macht die Betten. Blitzschnell haben wir nun doch eine überheizte Bleibe für die Nacht. Auch mein Wunsch nach einem kühlen Bier geht in Erfüllung da es in der Gastiniza sogar einen kleinen Laden gibt. Hoch zufrieden mit unserer Leistung sitzen wir nun in der Stube, trinken Bier und essen Pistazien, Brot, Dosenfisch und Gurken. Uns stört nicht das es kein fließend Wasser gibt. Natürlich auch keine Dusche. Das wir die Toilette mit dem Wasser aus Plastikflaschen spülen müssen, der Putz von den Wänden fällt und die Gäste im Nachbarzimmer eine Party feiern. Alles egal. Nach so einem Tag wird man bescheiden, sehr bescheiden. Nimmt jede Kleinigkeit als Geschenk. Hauptsache wir haben die 117 Kilometer heute geschafft. Zumeist gegen den Wind. Wir sind müde aber glücklich. Glücklich hier heile angekommen zu sein. Glücklich nicht auf offenem Feld neben einer Stadt campieren zu müssen. Glücklich über die Erkenntnisse die der Tag gebracht hat. Über die Einsicht, die Erinnerung an bereits vermeintlich Gelerntes. Wir sind glücklich wieder einen positiven Tag gelebt zu haben. Einen Tag der wie so oft als Reisender mit einem ungewissen Ende begann. Ein Tag voller Herausforderungen für Körper und Geist. Herausforderungen die wir meistern durften und uns stärker werden lassen.

Noch während unserer Abendmahlzeit entscheiden wir uns morgen in der Bude auszuruhen. Ausschlafen, wieder fitt werden, um die Straße nach Samara zu finden oder um den großen Bogen des Umweges zu schließen. Um dann an unserer ursprünglichen geplanten Reiseroute wieder anzuschließen.

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