Bezaubernde Steppe und Arbeitslager
N 53°17'21.8'' E 107°35'38.6''Tag: 57
Sonnenaufgang:
06:21 Uhr
Sonnenuntergang:
21:28 Uhr
Luftlinie:
13.92 Km
Tageskilometer:
17.16 Km
Gesamtkilometer:
12382.69 Km
Bodenbeschaffenheit:
Lehm, Sand
Temperatur – Tag (Maximum):
32 °C
Temperatur – Tag (Minimum):
21 °C
Temperatur – Nacht:
7 °C
Breitengrad:
53°17’21.8“
Längengrad:
107°35’38.6“
Maximale Höhe:
647 m über dem Meer
Maximale Tiefe:
480 m über dem Meer
Aufbruchzeit:
13.20 Uhr
Ankunftszeit:
16.30 Uhr
Durchschnittsgeschwindigkeit:
9,28 Km/h
Denis
Nachdem wir für einige Tage das Leben hier bei Simone und Leonid genossen haben machen wir uns auf, den Rest der Insel für uns zu erkunden. Tanja hat genügend Essen gepackt und weil wir unser Trinkwasser aus dem Baikal schöpfen können füllen wir nur unsere Trinkrucksäcke und die Wasserflaschen am Rad. “Bis in ein paar Tagen”, verabschieden wir uns von unseren beiden Gastgebern. “Eine gute und sichere Reise”, antworten sie. Kaum lassen wir das Burjatendorf Charanzy hinter uns empfängt uns eine lang gezogene Steigung. Die Piste ist schmäler und entschieden schlechter als vorher und wird hauptsächlich dafür genutzt, um Touristen in Allradfahrzeugen und Minibussen an das Kap Choboi, den nördlichsten Punkt der Insel, zu bringen.
Am höchsten Punkt angekommen, befinden wir uns im Zentrum einer bezaubernden hügeligen Steppe, die uns an die Mongolei erinnert. Geringe Niederschläge und eine hohe Anzahl von Sonnenstunden haben dieses Grasland mit ihren unzähligen kleinen farbenprächtigen Blumen und betäubend riechenden Kräutern geprägt. Edelweiß und wilder Thymian mit seinen rot-violetten kleinen Blüten, der gesammelt und dem Tee zugegeben wird, strecken sich der Sonne entgegen. Wir halten inne, um zu verschnaufen und hören dem Zirpen der Grillen zu. Millionen von Heuschrecken, Käfern und Schmetterlinge zeugen vom Leben auf dieser fruchtbar, grünen Savanne. Manchmal überraschen wir eine der hier wohnenden Zieselmäuse, die dann erschrocken, in panischer Angst, ihr Heil in der Flucht suchen. Wenige Kilometer weiter verschluckt uns ein dichter Wald. Wir kommen nur sehr langsam voran und mit unserem Gepäck ist es beschwerlicher als wir vermutet hatten. Des Öfteren sind wir nun gezwungen zu schieben. Tiefe, vom Regen ausgewaschene, Löcher, Bodenwellen, Furchen und Matsch wechseln sich mit feinem Sand und Staub ab. Unerwartet tauchen unzählige, spärlich bewachsene, geradezu mächtige Sanddünen auf. Ab diesem Zeitpunkt versinkt der Weg in tiefem Sand. Viele der Autos sind gezwungen umzukehren, wollen sie nicht riskieren hier mit ihren Fahrzeugen bis zu den Achsen zu versinken. Das Weiterkommen bedeutet für uns Schwerstarbeit. Ein PKW wird gerade von einem Jeep aus dem Dreck gezogen. Ein anderer wartet auf Hilfe, weil er nicht mehr vor oder zurückkommt. Allradangetriebene Kleinbusse schießen dicht an uns vorbei. Sie zwingen uns unsere schweren Böcke von der Fahrspur in noch tieferen Sand zu pressen. Einmal schaffe ich es nicht rechtzeitig. Mit großer Kraftanstrengung versuche ich bald verzweifelt die weiche Spur zu verlassen als ein Kleinbus auf mich zurast. Mein Vorderreifen rutscht immer wieder weg. Den Fahrer lässt das völlig kalt. Er versucht erst gar nicht zu bremsen. Nur noch wenige Meter und er fährt mich glatt über den Haufen. “Ahh!”, brülle ich entsetzt als er in einem Abstand von zehn Zentimeter an meinem Rad vorbeirast. Nur ein kleines Schlingern im Sand und der Bus würde mich verletzten oder platt walzen. “Puh”, ächze ich, schiebe mein Rad so schnell wie möglich aus der Spur, um nicht einen anderen Vollidioten zum Opfer zu fallen. Das Material ist auf dieser Strecke aufs extremste belastet. Die Rohloffketten schleifen teilweise durch den tiefen Sand und ziehen ihre eigene, geplagte dünne Spur. “Wenn das nur gut geht?”, überlege ich, denn es kracht und knirscht grauslich, als wir Teilstücke dieses Schreckgespensts versuchen zu radeln. “Meinst du Ketten halten das aus?”, fragt jetzt Tanja. “Wer weiß? Ist das erste Mal auf der gesamten Trans-Ost-Expedition das wir solche Material zerstörerischen Bedingungen überwinden. Kann nur eine Frage der Zeit sein bis sich die Zahnkränze und die Rohloffketten aufgearbeitet haben. Ich hoffe sie halten mehr aus als wir ihnen zutrauen. Auch wenn die Insel wunderschön ist, einen Totalschaden ist sie nicht wert. Wir wollen ja noch die Mongolei erreichen und bis dahin sind es gut und gern 1.000 Kilometer”, antworte ich besorgt.
Dann erblicken wir den Baikal und einen weiten Sandstrand. “Lass uns hier ein Lager suchen”, schlägt Tanja vor, worauf ich losstapfe, um einen geeigneten Campplatz für die Nacht zu finden. Am Strand liegen einige russische Touristen wie Walrösser in der Sonne. Daneben haben sie ihre Zelte errichtet. Obwohl noch immer unsagbar viel Platz für unser Camp wäre, gefällt es mir besser einsam und versteckt zu nächtigen. Das garantiert in jedem Falle Ruhe und Frieden. Am Ende der Bucht, dort wo sich die Sandpiste wieder den Berg nach oben windet, glaube ich einen geeigneten Ort auszumachen. “Lass uns noch bis ans Ende der Bucht schieben. Dort sieht es gut aus”, sage ich, worauf wir unsere Sumobikes weiter durch den Sand drücken.
In der Mitte des Sanddünentals stehen bis auf zwei oder drei bewohnte Holzhütten, verfallene und verlassene Häuser, die einen eigenwilligen Eindruck auf uns machen. “War das mal ein Dorf?”, fragt Tanja. Ich studiere die Karte und lese, dass wir uns hier in Pestschanaja befinden. Der Name dieses verlassenen Weilers leitet sich vom Sand ab. Beim Weiterlesen stellen sich mir die Nackenhaare auf. Wir erfahren, dass wir uns im Zentrum eines ehemaligen russischen Arbeitslagers befinden, welches in den 1940er Jahren Fisch verarbeitete. Bis in die Zeiten von Perestroika waren die meisten Häuser dieses Lagers noch vollständig erhalten. Erst danach wurden sie von den Inselbewohnern zum Teil völlig zerlegt, um alles mitzunehmen was man irgendwie gebrauchen kann. Mein Blick gleitet über die kaputten Häuser, deren alte Holzwände von Leid, Willkür, Ungerechtigkeit, Schmerz und Tod zu sprechen scheinen. Ich denke plötzlich an die Zeit des Terrors in Russland. Die Zeit in der Stalin Millionen von Menschen in die Verbannung schickte oder gleich umbringen ließ. Einige der Bauprojekte Russlands wurden von Gefangenen und Verbannten errichtet, wie zum Beispiel das Petrochemiewerk in Angarsk und der Bau der Bahnstrecke von Taischet bis Brask. Nach dem zweiten Weltkrieg schufteten Millionen von Kriegsgefangenen in Sibirien. Von 600.000 japanischen Kriegsgefangenen war ein großer Teil im Baikalgebiet inhaftiert. Deutsche und Italiener rodeten Wälder, bauten Straßen und Industrieanlagen auf. Ein Menschenleben war nichts wert und viele der Soldaten sind nicht im Krieg gefallen, sondern noch Jahre später an menschunwürdigen Bedingungen in den berüchtigten Gulags gestorben. Es war ein unendliches Leid von dem bis heute in den russischen Liedern und Balladen gesungen wird.
Ein paar kleine Minibusse stehen neben dem einstigen Anlegesteg der wegen der Unachtsamkeit einiger Fischer erst im Jahre 2003 abgebrannt ist. Auf der anderen Seite hat eine Familie eine neue Hütte errichtet die als Laden dient. Dort können sich die Wanderer und durstigen Autofahrer etwas Nahrung und vor allem Bier und Wodka kaufen. In Gedanken versunken schieben wir unsere Räder unter den verwunderten Blicken der Urlauber an dem Verkaufsladen vorbei und lehnen sie gegen einen kaputten Holzzaun. Wieder mache ich mich auf, um die Gegend für einen Campplatz zu erkunden. Tatsächlich finde ich hinter den letzten armseligen Holzhäusern, einige Meter neben dem Grab eines 1977 verstorbenen Mannes, ein traumhaft schönes Fleckchen Erde. Auf einer grünen Wiese, errichten wir am abfallenden Ufer unser Zelt. Lärchen stehen auf der Böschung und geben uns den Blick zum türkiesblauen Baikal frei. Der Sandstrand liegt etwa 30 Meter unter unserem Platz. Ich laufe die mit Gras bewachsene Böschung hinunter, um mir den Strand anzusehen. Wenn ich nicht wüsste, dass wir hier in Sibirien sind, könnte man glauben sich an einem Sandstrand in der Karibik zu befinden. Es ist 17:00 Uhr und noch immer angenehm warm. Möwen sitzen auf dem Wasser und lassen sich von den leichten Wellen schaukeln. Ihre vielen Spuren im Sand zeugen davon, dass sie hier Zuhause sind. Wie ich es von Simone und Leonid gelernt habe, ziehe ich mich nackt aus und springe in die kühlen Fluten von Vater Baikal. Sofort ist jegliche Müdigkeit aus dem Körper geschossen. “Uuuaaahhhh!”, pruste und rufe ich laut und vergnügt. Nur wenige Minuten später verlasse ich wieder das kalte Nass und schreite so wie ich bin am Strand entlang, um schöne Steine zu suchen. Was für ein befreiendes Gefühl es ist, so wie uns Gott geschaffen hat, herumlaufen zu dürfen. Die Badegäste befinden sich etwa zwei Kilometer entfernt von uns auf der anderen Seite des Strandes. Keiner möchte hierher. Viel zu weit vom Laden entfernt. Gott sei Dank. “Denis! Kannst du mir bitte Wasser holen?”, höre ich Tanjas Ruf, der vom Camp über die Böschung zu mir herunter dringt. “Klar”, antworte ich, laufe nach oben und hole unser Ortliebwasserbecken. Da sich, durch die am Ufer brechenden Wellen, das Wasser getrübt hat, bin ich gezwungen wieder bis zur Brust in den vielleicht 12 Grad kalten See zu gehen. Hier schöpfe ich klares Trinkwasser, ohne Vogelfedern, Algen und aufgewühlten Sand in das Becken. Wieder im Camp suche ich nach Feuerholz. Die Stümpfe alter, vor vielleicht 30 oder 40 Jahren gefällter Bäume, ragen aus der Wiese. Ich trete versuchsweise dagegen und siehe da, sie bewegen sich. Ihre Wurzeln sind im Laufe der Jahrzehnte abgefault, so dass ich mit etwas Kraftaufwand die Baumstümpfe aus der Erde ziehen kann. “Das gibt ein tolles Lagerfeuer”, sage ich die betagten Baumstümpfe anzündend. Gemeinsam sitzen wir nun vor dem großen, wärmenden Feuer und beobachten wie sich der Tag langsam verabschiedet. Obwohl es zu dieser Jahreszeit nach Sonnenuntergang schon relativ kühl wird, können wir wegen der abstrahlenden Wärme unseres Feuers lange sitzen. Wir sehen in den Sternenhimmel und sind froh frei zu sein. Glücklich darüber nach dem zweiten Weltkrieg geboren worden zu sein. Wir schätzen diesen Augenblick hier nicht als Kriegsgefangener unser Leben gelassen zu haben und hoffen auf eine Zeit in der die Menschen ihre Konflikte und Auseinandersetzungen nicht mehr kriegerisch und barbarisch lösen, sondern im Dialog und Diskussion. Auch wenn es noch unendlich lange dauern kann bis wir Menschen einsehen, dass wir mit Krieg, Mord und Todschlag keinen Konflikt dauerhaft lösen können, glauben wir fest daran, dass wir diesen Zustand im Laufe der Entwicklung erreichen. Erreichen bevor wir uns gegenseitig ausgerottet haben.