Bevor Vladimir kam war meine Welt noch in Ordnung
N 55°45'20.9’’ E 037°37'2.28’’Tag: 9
Russland
Ort:
Moskau
Tageskilometer:
1,065
Gesamtkilometer:
2,312
Breitengrad N:
55°45’20.9’’
Längengrad E:
037°372.28’’
(Fotos zum Tagebucheintrag finden Sie am Ende des Textes.)
15:00 Uhr, kommen mit einer Stunden Verspätung in Moskau an. Sind gerade beim Ausladen der Ausrüstung als uns ein Russe fragt ob wir einen Hund besitzen. „Ja“, antwortet Tanja verwundert, denn der Mann hilft uns augenblicklich beim Entladen. Es stellt sich heraus, dass er unser Fahrer ist den wir schon in Deutschland gebucht haben, um unsere gesamte Habe vom internationalen Bahnhof in Moskau zum nationalen Bahnhof zu transportieren. Valery, so heißt der geradezu unglaublich hilfsbereite Fahrer, lacht herzhaft als er das ganze Ausmaß des Gepäcks sieht. „Die haben mir nicht gesagt dass ihr mit solch einer Menge ankommt. Vor allem habe ich nichts von den Rädern gewusst“, meint er obwohl wir ihm versichern, dass die deutsche Agentur ganz klar mit seiner Agentur kommuniziert hat. Valery bleibt trotzdem gelassen. Vielleicht strahlt Rolfs Energie bis nach Moskau? Da wir uns diesmal, wie schon gewohnt, am Ende des Zuges befinden, dürfen wir unsere Muskeln erneut strapazieren, um den Gepäckhaufen über den ellenlangen Bahndamm zu rollen, bis wir Valerys Wagen erreichen. Wie befürchtet ist Vallerys Taxi ein ganz normaler Kleintransporter in dem die acht Sitze für die Fahrgäste noch montiert sind. Mich am Kopf kratzend stehe ich vor dem Gefährt und frage mich wie wir da unsere Habe unterbringen sollen? „Никакой проблемы“, (Kein Problem) sagt Valery zuversichtlich. Wir legen die Sitze um, hieven die schweren Kartons darauf und holen die zweite Gepäckfuhre. Als das Auto bis unters Dach voll geladen ist liegt noch ein großer Berg mit Taschen, Anhänger und Solarpanels vor der offenen Ladeluke. „Valery schüttelt den Kopf, kratzt sich ein paar Mal an der Stirn und schlichtet neu. Nach 20 Minuten ist das Wunder geschehen. Bis auf Tanja, Valery, Ajaci und meine Person ist alles verstaut. „Kommst du da rein?“, frage ich Tanja auf ein Loch im Gepäckhaufen deutend. „Ich komme überall rein“, antwortet sie und grabbelt auf allen Vieren in die kantige Nische. „Jetzt müssen wir nur noch dein rechtes Bein reinkriegen“, überlege ich, weil es noch zur Beifahrertür raushängt. „Dafür ist beim besten Willen kein Platz in diesem Hohlraum“, antwortet sie lachend. „Wir können es doch nicht draußen hängen lassen? Irgendwie musst du dein Bein da reinkriegen“, meine ich mir um ihre Gesundheit Sorgen machend. „Ha, ha, ha. So eine Ladung hatte ich noch nie in meinem Leben transportieren müssen“, äußert sich Valery der auch keinen Rat parat hat wie wir Tanjas rechtes Bein in den Wagen stopfen können. Dann bringt sie es fertig unter den Kartons noch ein Stück nach hinten zu kriechen und siehe da mit etwas Druck ist die Tür zu und Tanja unter der Ausrüstung nicht mehr zusehen. „Und wo soll Ajaci hin?“, klingt ihre Frage durch die Taschen und Kartons gedämpft durchs offene Fenster. „Hinter Valerys Fahrersitz ist noch etwas Raum. Da muss er rein“, antworte ich und fordere unseren treuen Hund auf dort Platz rein zu springen. Ajaci folgt gehorsam, kauert mit seinem weißen Hintern im kleinen Fußraum und mit den Vorderpfoten und oberen Torso auf dem bis zum Anschlag voll geladenen Sitz. „Und habt ihr einen Platz für ihn gefunden?“, wabern Tanjas Worte durch das Gepäck. „Haben wir. Er macht sich gut als Schlangenhund. Kann sich genauso verbiegen wie du“, antworte ich frohen Mutes tatsächlich alles in so einen Kleintransporter gestapelt zu wissen. Dann quetsche ich mich mit zwei Kamerataschen, zwei Batterietaschen und zwei Lenkertaschen auf den Beifahrersitz. Weil Ajaci direkt hinter Valery hockt muss unser Fahrer seinen Sitz bis nach vorne bringen, so dass er beim Fahren aussieht als würde man ihm ständig die Luft abquetschen. Auf diese Weise reihen wir uns in den Berufsverkehr von Moskau ein. Jetzt nur keinen Unfall. Dann gibt es Mus, denke ich mir als sich urplötzlich schreckliche Bauchkrämpfe einstellen. „Ohhh, ohhh, ohhh!“, jammere ich leise vor mich hin, dass der gewürgte Valery große Augen macht und mich fragend ansieht. „Боль в животе“, (Bauchweh) gebe ich ihm zu verstehen. „Ha, ha, ha. So eine Ladung habe ich wirklich noch nie gefahren“, prustet er heraus. „Bauchweh?“, klingt es unter dem Gepäck nach vorne. „Ja, muss der Fisch gewesen sein den ich im Zug gegessen habe.“ „Oder die Anstrengung und Aufregung“, meint Tanjas Stimme. „Dort hinten ist der Kremel und der Rote Platz. Hier ist das Transportministerium. Der Verkehr in Moskau wird in mehreren Ringen um die Stadt geleitet, wir sind auf dem inneren Ring…“, erklärt Valery freundlich aber ehrlich gesagt interessiert mich das im Augenblick nicht im Geringsten. Das einzige was ich jetzt gerne sehe würde wäre eine Toilette. „Was für eine irre anstrengende Anreise“, klage ich. Dann parkt Valery seinen Kleintransporter vor dem Jaroslawler Bahnhof, einen der drei nationalen Bahnhöfe, die direkt nebeneinander liegen und dessen Türme an den Kreml und die orthodoxen Kirchen Russlands erinnern. Sofort springe ich von meinem beengten Sitz, befreie Tanja und Ajaci von ihrem engen Gefängnis und frage Valery nach einer Toilette. „Dort hinten“, sagt er, worauf ich auch schon losspurte. „Rubel“, fordern die Damen der öffentlichen Bahnhofstoilette. „Rubel?“, frage ich verdutzt und sprinte zu Tanja und Valery zurück. „Die wollen Rubel von mir aber wir haben keine“, sage ich dem Verzweifeln nahe. Valery antwortet mit einem Lachen. Während mein Blick hastig über den großen Platz nach einem Restaurant sucht. „Bin gleich wieder da!“, rufe ich und eile erneut von dannen. Ohne lange zu fackeln stürme ich in eines der besseren Bahnhofsrestaurants. Als ich die Toilette entdecke sehe ich wie eine Asiatin in ähnlicher Geschwindigkeit auf die Tür zueilt. In diesem Fall ignoriere ich jegliche Höflichkeit, beschleunige noch mal und erreiche das Örtchen eine Sekunde vor ihr. „Entschuldigung!“, rufe ich noch und haue die Tür vor ihrer Nase zu.
Eine Weile später bin ich wieder bei Tanja und Valery der nur amüsiert den Kopf schüttelt. „Geht’s dir besser?“, fragt Tanja. „Viel besser“, antworte ich erleichtert. “Ganz schön was los hier“, stelle ich jetzt fest, nachdem ich wieder Blicke für meine Umgebung übrig habe. „Täglich passieren etwa eine Million Reisende den Platz der drei Bahnhöfe.“ „Platz der drei Bahnhöfe?“, unterbreche ich Valery. „Ja, er wird umrahmt vom Jaroslawler Bahnhof, dem Leningrader Bahnhof und auf der südlichen Seite vom Kasaner Bahnhof. Teils kommen die Menschen, die ihr hier seht, aus den Vororten der Hauptstadt oder nur wenige Stunden entfernt liegenden Städten und Dörfern. Manche von ihnen stammen aus der Ukraine, aus Tadschikistan, der Mongolei oder aus Westeuropa wie ihr. Manche von ihnen waren viele Tage, manchmal bis zu zehn Tage mit der Transsibirischen Eisenbahn unterwegs, um Moskau zu erreichen“, erklärt Valery mit unüberhörbarem Stolz in der Stimme. „Sind hier so die viele Soldaten wegen dem Krieg in der Ukraine?“, möchte ich wissen. „Nein, nein. Hier kommen schon immer viele Soldaten aus dem ganzen Reich an. Es ist sozusagen auch ein Umschlagplatz der Armee“, antwortet er mit seinem sympathischen Lachen.
Wir versuchen herauszufinden auf welchem Gleis die Transsibirische Eisenbahn einfährt. „Das wissen wir erst 40 Minuten vorher“, sagt die Beamtin hinter der Glasscheibe ihres Schalters. „Und wann kommt der Zug?“ „Ca. 40 Minuten vor Abfahrt“, ist die nüchterne Antwort. Da es jetzt erst 16:30 Uhr ist und unser Zug erst um 00:35 abfährt, müssen wir hier acht Stunden verbringen und wissen nicht wohin wir in dieser Zeit unser Gepäck bringen sollen. „Es einfach auf einen der vielen Bahnsteige abzustellen, um es dann 40 Minuten vor Abfahrt zum richtigen Gleis zu schleppen ist keine gute Idee. Das schaffen wir nie. Vor allem wenn Valery weg ist sind wir nur noch zu zweit“, überlegt Tanja. Valery wird indessen nervös. Der gesamte Transport hat ihm viel mehr Zeit gekostet als er gedacht hat. Es ist eh schon außergewöhnlich dass ein Taxifahrer solch einen enormen Aufwand auf sich nimmt und noch dazu von seinen Fahrgästen als Lastenträger missbraucht wird. Nach einer längeren Erkundung des Bahnhofs weiß ich nicht weiter. Valery zieht mit mir noch mal los. Es geht vorbei an klapprigen Bretterbuden und vom Zahn der Zeit angenagte Verkaufsstände, an denen Händler Teigwaren, Softdrinks, Gemüse, Obst, typisches russisches Gebäck und so manche Produkte aus der fernen Taiga feilbieten.
Valery fragt geistesgegenwärtig eine Beamtin auf welchen Gleisen die Fernzüge eintreffen. „Gleis 1, 2 oder 3“, ist die Antwort und somit unsere Rettung, da diese Gleise direkt nebeneinander liegen. Auf den Gepäckwägelchen schieben wir unsere Ausrüstung auf Gleis 2. Somit befinden wir uns genau in der Mitte aller Abfahrtswahrscheinlichkeiten. Ich bedanke mich bei unserem Fahrer und gebe ihm 20,- € Trinkgeld für seinen tollen Einsatz und Geduld. Er ist offensichtlich zufrieden. Wünscht uns eine gute Reise und verschwindet im Verkehrsgewühl von Moskau.
Wir setzen mit Ajaci neben unserem Gepäck und ruhen uns erstmal aus. Gott sei Dank regnet es nicht so dass wir die kommenden acht Stunden ohne Probleme hier ausharren können. Kalter Wind bläst die Gleise hinab und trifft uns. Wir verstecken uns hinter den großen Kartons. Für irgendetwas sind sie also doch gut. Mittlerweile bin ich mir nämlich nicht mehr sicher ob es eine gute Idee war die Räder darin zu verpacken. Vorher konnten wir unsere gesamte Ausrüstung selbstständig und ohne Wägelchen transportieren. Leider waren die Räder dann im Zug der Stein des Anstoßes, weil man die oftmals offiziell gar nicht in die Waggons laden darf. Aber wie man es macht ist es falsch. Oder? Wer weiß das schon. Diesmal haben wir es zumindest schon mal bis Moskau geschafft. Auch wenn die Anreise teils gnadenlos anstrengend war. Hier auf jeden Fall beginnt sie, die Transsibirische Eisenbahn, die längste und eine der abenteuerlichsten Eisenbahnrouten der Welt: Von Moskau nach Wladiwostok zum japanischen Meer. Schon als wir mit unseren Fahrrädern von Deutschland bis in die Mongolei geradelt sind, (siehe Bücher Trans-Ost 1 bis 4
Link zu den Büchern: http://denis-katzer-shop.de/bucher.html
wurde der Traum in mir wach einmal mit dem legendären Zug der Züge bis nach Wladiwostock zu fahren. So wie es aussieht stehen wir kurz davor diesen Traum zu erfüllen. Freilich nutzen wir den Zug hauptsächlich nur um unsere Ausrüstung von A nach B zu bringen und nicht wie andere Reisende sich die wunderbaren Städte und Bahnhöfe anzusehen. Trotzdem, da bin ich mir ganz sicher, werden wir es genießen tagelang die an uns vorbeiziehende Taiga zu inhalieren.
Während ich mit Ajaci auf das Gepäck aufpasse geht Tanja Rubel aus dem Bankautomaten ziehen und kauft etwas für uns zu Essen ein. Die Sonne spitzt nun immer öfter zwischen den Wolken hindurch und heizt den Bahnhof auf bis wir regelrecht zu schwitzen beginnen. „Oh was ist das für ein schöner Hund? Ist das ein Wolf?“, werde ich unaufhörlich von Reisenden gefragt. Viele Russen wollen ihn streicheln und fragen ob er beißt. Ajaci beißt nur die Bösen“, antworte ich, wobei ich mir nicht sicher bin ob er nicht vor wirklich unangenehmen Menschen einfach davon laufen würde. Egal, er ist ein junger Hund und wird in den kommenden Jahren viel lernen. Auch dass er seine Menschen und Ausrüstung beschützt. „Wo kommen sie her? Wo fahren sie hin?“, (Где они приходят? Где они едут?) sind die weiteren Standardfragen der Vorbeilaufenden. Gut gelaunt antworte ich jedem von ihnen und erkläre unsere Reiseroute. Manche staunen und manche schütteln den Kopf. Dann gehen sie zu ihren Zügen.
19:00 Uhr. Ein Russe namens Vladimir spricht mich in relativ verständlichem Englisch an. „Woher kommt ihr denn her? Was? Ihr wollt mit dem ganzen Gepäck in den Zug? Das klappt nie!“, meint er, womit ein neues Kapitel der Reise-Odyssee für uns beginnt. „Warum denn nicht? Wir haben acht Tickets gekauft. Da dürfen wir alles mitnehmen“, antworte ich noch relativ selbstsicher. „Acht Tickets? Ihr seid ja verrückt. Warum checkt ihr euere Bagage nicht in den Gepäckwagen ein? Das kostet doch im Vergleich zu einem Personenticket fast nichts“, meint er mit absoluter Überzeugung. „Gibt es denn überhaupt einen Gepäckwagen in dem Zug?“ „Keine Ahnung.“ „Na siehst du. Damit hat sich die Frage warum wir acht Tickets besitzen erledigt.“ „Wenn du möchtest können wir ja mal nachfragen und wenn es einen Gepäckwagen gibt geben wir sechs Tickets zurück“, schlägt er vor. Nur der Gedanke daran hier in Moskau die Tickets zurückzugeben, um dann am Ende doch nicht mitzukommen, treibt mir den Schweiß aus den Poren. „Das hört sich irgendwie nicht gut an“, meint Tanja besorgt. „Ja, aber einen Versuch ist es doch wert? Wenn es tatsächlich einen Gepäckwagen gibt und das billiger ist wie der Mann sagt, wäre es doch sinnvoll unsere Räder so aufzugeben.“ „Trotz unserer acht Tickets? Das wird ja immer teurer“, meint sie ablehnend. „Ich denke ich begleite den Mann mal mit zum Schalter und sehe was dabei rauskommt. Das kann ja nicht verkehrt sein.“ „Woher willst du wissen dass er kein Betrüger ist? Gib ihm nur nicht die Tickets. Zum Schluss haut er damit noch ab und wir haben den Salat“, warnt sie mich. „Ich pass schon auf“, antworte ich und folge Vladimir mit leicht ungutem Gefühl. Auf dem Weg zu den Bahnschaltern erzählt Vladimir von seinen Reisen durch die Welt. Auch in Westeuropa sei er gewesen. „Das war als ich noch jung war“, meint er. „Wieso jung? Wie alt bist du denn jetzt?“, wundere ich mich, da er für mich noch immer recht jugendlich aussieht. „38“, meint er. „Jetzt bin ich verheiratet, habe zwei Kinder und seit 10 Jahren ein Reisebüro.“ „Ein Reisebüro?“ „Ja, bei mir buchen ab und an auch Deutsche. Ich organisiere mitunter auch spezielle Abenteuerreisen. Deswegen bin ich von eurem Trip echt fasziniert“, sagt er. Zumindest erklärt seine Geschichte warum er Interesses daran hat uns zu helfen, denke ich ein wenig beruhigter als vorher.
Wir klappern einige Schalter ab bis wir vor dem richtigen Glaskasten stehen. Nach 30 Minuten warten sind wir an der Reihe. „Gib mir mal deine Tickets“, sagt Vladimir. Ich reiche ihm unsere acht Tickets die er sich ansieht. „Aber was sind denn das für Tickets? Die kann doch hier keiner lesen. Wie willst du denn mit deutschen Tickets in einen russischen Zug einsteigen? Stell dir vor ich würde mit einem russischen Ticket in einen deutschen Zug einsteigen wollen. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ein deutscher Bahnbeamter Kyrillisch lesen kann?“, sagt er, woraufhin ich nicht zum ersten Mal während dieser ganzen Reiseodyssee fast in die Knie gehe. „Aber das ist ein internationales Ticket. Gebucht über einen seriöses Reisebüro“, entgegne ich. „Aber auf Deutsch. Die Kontrolleure im Zug sind teils gar keine richtigen Russen. Die kommen aus Burjatien. Die können damit nichts anfangen“, meint er absolut überzeugt von seiner Aussage und reicht die Tickets der beleibten Beamtin hinter der Scheibe. Als sie die Tickets sieht reißt sie zu meinem Entsetzen tatsächlich die Augen auf. „Was ist das denn?“, fragt sie uns. „Ein internationales Ticket für ihren Zug. Sehen sie die gelb markierte Nummer rechts unten? Das ist der Buchungscode. Minutenlang tippt sie etwas in ihren Computer. Als sie nichts findet verlässt sie ihren kleinen Arbeitsraum. „Wo geht sie jetzt hin?“, frage ich. „Wahrscheinlich ist sie heimgegangen“, meint Vladimir ohne die Mine zu verziehen. „Heimgegangen?“, frage ich erschrocken. „Nun, zumindest ist das ein gängiger Scherz in Russland. Wenn ein Beamter zuviel von dir hat oder die Aufgabe nicht erledigen kann, entschuldigt er sich für eine Weile, um für immer zu verschwinden“, erklärt er. „Und du meinst sie ist jetzt wirklich einfach weg?“, frage ich nach und verspüre leichte Magenschmerzen. „Wer weiß?“, antwortet Vladimir nun ebenfalls seine Stirn in schlimme Falten legend. „Ah, da ist sie ja wieder“, sagt er erleichtert als sich die schwer korpulente Frau wieder in ihr Kabuff walzt. „Sie müssen zu meiner Kollegin dort drüben. Ich kann mit den Tickets nichts anfangen“, scheppert die nüchterne Stimme durch den kleinen Lautsprecher vor der Trennscheibe. „Siehst du? Ich habe dir ja gesagt dass die damit nichts anfangen können. Und das am Bahnhof“, sagt Vladimir worauf wir zu einem anderen Schalter eilen. Wieder müssen wir ca. 20 Minuten warten, dann dürfen wir die Tickets in die Durchreiche stecken. Während die Kollegin der Vollschlanken nun ebenfalls in die Tasten ihres Computers tippt halte ich es vor Aufregung kaum noch aus. Was ist wenn die Fahrscheine hier wirklich keine Gültigkeit besitzen? Wie kommen wir dann von hier weg? Müssen wir dann noch heute ein Hotel suchen? In der teuersten Stadt der Welt? Und das mit zwei Fahrrädern in Kartons verpackt, eine Unmenge von Taschen, Zwei Anhänger und noch dazu einen großen Hund. „Oh was haben wir uns da bloß angetan?“, flüstere ich. „Was hast du gesagt?“, fragt Vladimir. „Ach nichts. Ich hoffe nur unsere Tickest funktionieren auch in deinem Land.“ Die Beamtin blickt uns nun mit todernster Mine durch ihre schmierige Glasscheibe an. Mir stockt der Atem. „Die Fahrscheine sind okay. Sie sind aber auf keinen Namen gebucht. Aber sie sind ganz offiziell gebucht“, krächzt es durch den kleinen Lautsprecher. Vor Erleichterung würde ich mich am liebsten setzen. Wir eilen wieder zurück zur fülligen Russin von vorher und stehen erneut an. Dann die Ankündigung: „Ja, wir haben einen Gepäckwagen im 044.“ Kaum hören wir die positive Aussage stürmt Vladimir wieder in die Bahnhofshalle. Und warum haben wir die Billetts fürs Gepäck nicht gleich gekauft?“, wundere ich mich. „Weil ich nicht weiß ob du nun sechs deiner anderen Scheine zurückgeben willst oder nicht?“ „Geht das denn wirklich?“ „Ja, das hat die Dicke gesagt“, meint er etwas abfällig. „Tja, ich weiß auch nicht. Wenn das alles so stimmt was wir hier erfahren?“, grüble ich völlig verunsichert. „Wir sollten deine Frau fragen“, schlägt Vladimir vor worauf wir wieder auf den Bahndamm eilen. Mittlerweile ist es dunkel geworden. Tanja wird von einigen Russen umlagert die Ajaci, den Wolf streicheln. „Oh gut dass du da bist. Hat ja ewig gedauert“, begrüßt sie mich erleichtert. „Wenn du wüsstest was ich inzwischen mitgemacht habe. Also hör zu. Es gibt tatsächlich einen Gepäckwagen und wir können angeblich unsere Tickets zurückgeben. Wenn wir ein Abteil behalten und das andere stornieren bekommen wir knapp 1.000 € zurück“, erkläre ich. „Ich weiß nicht ob das eine gute Idee ist? Entscheide du aber bau keinen Mist. Wenn es schief geht ist es deine Schuld“, vernehme ich ihre nicht gerade aufmunternde Aussage. „Es gibt dabei noch einen Haken. Um die Tickets zu tauschen müssen wir zu einem anderen Bahnhof fahren“, sage ich. „Was? Das kannst du doch nicht machen! Was ist wenn du nicht rechtzeitig zurück bist? Dann stehen wir da und haben den Zug verpasst. Und das nach der irren Vorbereitung und dem bereits fehlgeschlagenen Aufbruch.“ „Okay, ich gehe noch mal los und kaufe zumindest die Gepäcktickets. Wegen der Stornierung frage ich noch mal nach. Ich bekomm das schon hin“, antworte ich und ziehe mit Vladimir erneut los. „Lass mich nicht zu lange alleine. Es ist schon 22:00 Uhr und hier laufen eine menge seltsamer Leute herum!“, ruft sie mir hinterher.
Erneut am Schalter der Wohlbeleibten fragen wir nach 10minütiger Wartezeit nach den Gepäcktickets. „Räder sind nicht erlaubt!“, hämmert es durch das Lautsprecherchen. „Das gibt’s doch nicht. Warum hast du ihr erzählt dass da Räder im Karton sind? Genau wegen solchen Problemen haben wir die Dinger im Karton verpackt. Es ist doch egal was man in seinem Karton hat außer es gefährdet die Sicherheit“, sage zu Vladimir. Dieser diskutiert nun mit der Fülligen mit dem Resultat: „Okay, sie können ihre Räder im Karton mitnehmen. Wie groß sind die Kartons?“ Ich gebe die Maße durch. „Zu groß! Sie müssen die Räder auspacken!“, sagt die Dralle. „Okay, Hauptsache wir bekommen diese leidigen Billets“, gebe ich nach, überzeugt davon sie in den Kartons zu lassen. „Du brauchst eine Fahrkarte für euren Hund“, haut mir Vladimir die nächste Botschaft um die Ohren. Oh Mann das kann doch nicht wahr sein. Bevor ich diesen Russen getroffen habe war meine Welt noch in Ordnung, denke ich mir und sage, dass wir noch immer acht Tickets besitzen und deswegen unmöglich noch einen weiteren Fahrschein für einen Hund benötigen. „Doch, doch. Ein Hund ist kein Mensch und benötigt einen extra Hundefahrschein“, höre ich. Es dauert nicht lange und die Diskussion mit der Molligen entbrennt aufs Neue. Das Resultat: „Sie müssen keinen extra Hundefahrschein kaufen.“ „Sicher?“ „Absolut sicher.“ „Obwohl hier viele Russen solche Tickets kaufen?“ „Sie müssen nicht kaufen!“ „Okay danke“, antworte ich überzeugt. Nun besitze ich acht Fahrkarten für Menschen und vier Gepäcktickets. Zwei für die Kartons und zwei für die Anhänger. „Möchtest du nun sechs deiner Tickets zurückgeben?“, fragt Vladimir zwischenzeitlich ebenfalls leicht angeschlagen. „Warum nicht“, antworte ich mutig. Vladimir zückt sein Telefon und fordert Verstärkung an. Es dauert nur 10 Minuten und sein Buchhalter taucht auf. Dimitri ist ein ca. 165 cm kleiner, sehr dünner Mann, dessen sitzende Tätigkeit höchstwahrscheinlich seinen Rücken verkrümmt hat. Obwohl er nur ca. 28 Jahre alt ist scheint ihn das Leben schon recht zugesetzt zu haben. Nun eilen wir zu dritt von einem zum anderen Schalter, um herauszufinden wo man internationale Tickets stornieren kann. „Du hast Glück. Wir müssen nicht zu einem anderen Bahnhof fahren. Wir können zu Fuß gehen. Wir sind hier am Platz der drei Bahnhöfe. Euer Zug fährt vom Jaroslawler Bahnhof ab. Das ist der Bahnhof von dem die Züge bis nach Wladiwostock rollen, aber das weißt du ja inzwischen. Wir gehen nur schnell rüber zum Leningrader Bahnhof. Da gibt es einen Schalter an dem wir eure Tickets stornieren können“, erklärt er. Wir eilen an vielen Obdachlosen, Alkoholikern und Drogenabhängigen vorbei, die auf kleinen, staubigen Flächen herumhängen. Bahnhöfe in der Nacht ähneln sich in vielen Ländern, selbst in dem reichen Deutschland gibt es da kaum Unterschiede.
“Die Tickets können sie nicht umtauschen“, höre ich erstmal das gewohnte „Нет“ (Nein). Als die Dame von Vladimir erfährt, dass wir nur zu zweit sind und nur wegen dem Gepäck acht Tickets gekauft haben, verschlägt es ihr regelrecht die Sprache. Vladimir zeigt ihr nun die vier Gepäckbillets die ich vor kurzen erstanden habe, worauf sie verständnisvoll lächelt. „Gib ihr die sechs Fahrscheine“, fordert mich Vladimir auf. „Nein, ich gebe ihr nur vier zurück. Das reicht. Wir haben noch immer genug Besitztum und wollen die kommenden fünf Tage so bequem wie möglich reisen.“ „Schicken sie die alten Belege an ihr Reisebüro nach Deutschland zurück. Sie werden dann in ca. einen Monat ihr Geld wiederbekommen“, sagt die freundliche Frau.
Es ist 23:00 Uhr als wir endlich alles abgeschlossen haben und zu Tanja zurück eilen. „Und? Hast du die Fahrscheine umgetauscht?“, fragt sie. „Habe ich.“ „Na hoffentlich klappt das jetzt auch.“ „Bestimmt. Wir müssen nur noch organisieren zu welchem Preis uns die Gepäckträger die Räder in den Waggon tragen“, meine ich von den Anstrengungen der letzten vier Stunden völlig Erschöpft.
Vladimir bietet mir nun auch noch an mit den Kofferträgern, die hier am Bahnhof herumlungern, zu verhandeln. „Warum machst du das alles für uns?“, frage ich, weil es mir absolut unverständlich ist warum ein wild fremder Mensch vier Stunden seines Lebens opfert, um Menschen zu helfen die er noch nie in seinem Leben gesehen hat und höchstwahrscheinlich nie mehr sehen wird. „Ach ich habe meine Frau und zwei Kinder zum Waggon gebracht. Sie sind nun unterwegs zu ihren Großeltern. Meine Töchter haben euren Hund gesehen und waren total fasziniert von ihm. Erst dachten sie es wäre ein Husky, dann waren sie sich sicher es sei ein Wolf. Weil ihr so freundlich wart und meine Kinder euren Hund streicheln durften, und weil ich früher selbst gerne gereist bin, habe ich euch gerne geholfen.“ „Wenn alles gut geht hast du uns bald 1.000 € gespart.“ „Ja ich weiß. Das war ja der Sinn dieser Aktion. Nutzt das Geld für eure Reise. Ihr werdet es brauchen“, sagt er und beginnt mit den Gepäckträgern zu diskutieren. Die wollen anstatt 200 Rubel pro Gepäckstück (3,33 €) 6.000 Rubel (100,-€) für die zwei Kartons und die zwei Anhänger. „6.000 Rubel?! Das ist ja der totale Wucher!“, rufe ich entsetzt aus obwohl ich weiß das nahezu alle Gepäckträger der Welt solch Situationen gnadenlos ausnutzen. Weil wir zu zweit keine Chance haben alles in Zeit in den Zug zu bekommen, einigen wir uns letztendlich auf 2.000 Rubel. (33,-€) Eine stolze Summe für fünf bis zehn Minuten Arbeit.
“Jetzt muss ich aber gehen“, sagt Vladimir fröstelnd, weil es um 23:30 Uhr recht frisch geworden ist. Wir verabschieden uns von ihm und seinen dünnen Buchalter Dimitri, der, wie er sagt, auch am liebsten Abenteurer geworden wäre. „Schreibe mir ob alles geklappt hat“, bittet Vladimir noch und verlässt den Bahnhof. Gedankenvoll blicke ich ihm nach. „Es gibt schon außergewöhnliche Menschen auf diesen Planeten“, meine ich zu Tanja und erzähle ihr von unserem Spiesrutenlauf und dem uneigennützigen Einsatz von Vladimir.
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