Skip to content
Abbrechen
image description
Ukraine/Nova-Dofinovka

Ausruhen bei Luda

N 46°34'28.2'' E 030°54'28.9''

Kurz vor Mitternacht verlassen wir unseren Adlerhorst an der Klippe und begeben uns in unser Zimmer unterm Dach. Das Thermometer steht auf 33 Grad. In unserem eigenen Schweiß gebadet wälzen wir uns auf den alten Matratzen von links nach rechts. Moskitos fühlen sich in diesem Ambiente sauwohl. Sie schwirren in großen Schwärmen um uns herum und besaufen sich sinnlos an unserem Blut. Ohne Zweifel leiden wir wie die Hunde. Mein Hintern brennt wie Harry und beginnt auch noch furchtbar zu jucken. Nie hätte ich gedacht dass ein Po im selben Moment brennen und jucken kann. Von Zeit zu Zeit stehe ich auf, klettere die schmalen Stahltreppen hinunter und suche die Dusche auf. Dann, einigermaßen abgekühlt, schmiere ich mir die Fahrrad-Sitzkreme auf den Allerwertesten und lege mich erneut in die Schwitzburg. Es dauert nicht lange und mein Körper fühlt sich abermals wie ein Hochofen an. Tanja dreht sich indes wie ein Huhn auf dem Grill. Auch sie leidet und protzelt in einer Tour. “Tut mit leid. Ich hätte auch gern eine bessere Unterkunft gefunden”, sage ich, um überhaupt etwas zu sagen. “Hm”, höre ich nur. Genervt von den Moskitos setze ich mich auf und da jetzt nicht nur mein Po juckt kratze ich mich am gesamten Körper. “Ich bleibe hier keine Nacht länger”, flucht Tanja ärgerlich vor sich hin. “Ich auch nicht”, antworte ich ohne zu wissen wo wir sonst hinsollen. Mit meiner Stirnlampe auf dem Kopf sitze ich wie ein gebrochener Ritter auf der Bettkante und starre auf den Boden. Dann hebe ich meinen Kopf und blicke durch den jetzt dunklen Raum. Wo könnte man hier eine Schnur für das Moskitonetz befestigen? Da unsere Betten vor dem offenen Fenster stehen, durch das uns auch noch eine heiße Briese anbläst, sehe ich keine Möglichkeit eine Schnur zu befestigen. “Man kann ja keine Schnur in ein offenes Fenster knoten”, flüstere ich. Nach einer Stunde ist mir noch immer nichts eingefallen. Dann erhebe ich mich und klettere wieder die schmalen Eisentreppen in den Innenhof hinunter, gehe zum Hänger, sperre ihn auf und hole das Netzt. Wieder im Zimmer setze ich mich auf die Bettkante, lege das Netz auf meinen Schoß und sinniere weiter. Nach insgesamt 90 Minuten, um etwa 2:00 Uhr nachts, stehe ich vor dem Fenster und versuche die Schnur um den offen stehenden Flügel zu wickeln. Keine Chance. Dann kommt mir der rettende Gedanke. “Ich wickle das dünne Seil einfach um das Fensterscharnier. Das müsste doch klappen?”, denke ich laut vor mich hin. “Hmmm”, zischelt es gefährlich aus dem Bett. “Ja das ist es”, bin ich überzeugt. “Ähm, Tanja?” flüstere ich verhallten. “Hmmmmm”, raunt es aus der Ecke. “Äh, steh doch mal bitte auf. Ich glaube ich habe eine Lösung gefunden.” “Was denn für eine Lösung?” “Na, ich werde das Moskitonetz aufhängen.” “Ist doch viel zu warm unter dem Netz”, protestiert sie. “Es ist unter dem Netz nicht wärmer als ohne Netz aber wir werden nicht mehr gestochen”, erkläre ich. Mürrisch und von den Moskitos sichtlich angestochen, erhebt sie sich, um mit mir mein Bett an ihres zu schieben. Jetzt haben wir ein Doppelbett. Ich ziehe die Schnur vom Scharnier zu einem rostigen Nagel der an der Seitenwand vor langer Zeit in ein Stück Holz geschlagen wurde. Dann fädele ich den Strick durch die Öse des Netzes und siehe da unser Luxusbett ist fertig. Zufrieden kriechen wir unter das Brettschneider-Moskitonetzt. Tanja fällt sofort in einen Tiefschlaf. Ich hingegen liege weiterhin mit offenen Augen da. Der Popo brennt und Juckt und die 30 Grad garen mich weiterhin. Trotzdem ist es in der jetzt Moskitofreienzone entschieden besser als vorher.

Am Morgen verlassen wir beide mit zerstochenen und von der Hitze aufgedunsenen Körpern unserer Behausung. Wir Frühstücken erstmal und überlegen wie wir den Tag gestalten. “Ich brauche ein Internetanschluss für mein Interview”; sagt Tanja. Wieder soll sie ein Interview für ein Frauenmagazin geben. Mittlerweile ist sie mit Interviews mehr beschäftig als ich. Eine Situation über die ich sehr froh bin, denn so kann ich mich um unsere Aufzeichnungen kümmern. Noch dazu muss ich nicht bei der Bullenhitze herumfahren, um so ein Internetkaffee zu suchen. Valentina bringt Tanja mit ihrem Auto zu einem Nachbarort. Ich hingegen suche einen Ort an dem ich unsere Erlebnisse niederschreiben kann ohne vom Hitzschlag getroffen zu werden. “Was machst du denn?”, fragt mich die Hausherrin nachdem sie mich hin und herschleichen sieht. Ich erkläre ihr mein Problem. “Komm doch zu mir ins Haus. Da gibt es eine Klimaanlage”, lädt sie mich ein. “Eine Klimaanlage?”, frage ich überrascht, da ich hier so etwas nicht vermutet habe. “Da”, sagt sie und führt mich in das Wohnzimmer ihres Hauses. Und tatsächlich ist es hier drin bald wie in einem Kühlschrank. Das ist also der Grund warum die Menschen hier nach so einer erbarmungslosen heißen Nacht am nächsten Morgen nicht wie Zombies aussehen. Denke ich mir.

In Ludas Wohnzimmer sieht es aus als hätte es eine Straßenbande verwüstet. Direkt neben dem Schminktisch sitzend blicke ich, erstaunt über solch perfekte Unordnung, herum. Wattestäbchen liegen gebraucht auf der schmutzigen Tischplatte vor einem schmuddeligen Spiegel. Lidschatten, Wimperntusche und sonstiges Schminkzeugs steht offen da. Vor kurzem noch benutzt. Spielzeug der Enkelin Anastasia quillt aus allen Schränken, liegt auf dem Boden und überfüllt die Regale. Aus einem Schrank direkt neben mir ist eine ganze Dose mit Ohrenstäbchen gefallen. Sie liegen verstreut auf dem verunreinigten Teppichboden. Auf dem Fensterbrett türmt sich ein Puppenhaufen, gethront von einer Taucherbrille. Eine Luftmatratze hängt ihr schlappes Ende vom Schrank. Der Aschenbecher ist ausgekippt. Sein Inhalt frisst sich in Verbindung mit Wasser ins Sofa. Kabel ziehen sich durch den Raum. Die Stecker vom Strom braun gefressen. Ein Bügeleisen, Bücher, und unendlich viel mehr Kram quillt aus den verschiedensten Regalen die nicht mehr in der Lage sind noch etwas aufzunehmen. Ich kann es einfach nicht glauben. In den 20 Reisejahren habe ich schon viel an Unordnung und Chaos gesehen aber dieser Raum versucht hier gerade mit Erfolg den Rekord zu brechen. Immer wieder kommt die freundliche Luda in den Raum und fragt ob die Temperatur passt. “Aber natürlich, perfekt”, sage ich. Dann gibt sie mir die Fernbedienung der Anlage. So kann ich nun selber den Eismacher an der Wand steuern.

Am Nachmittag kommt Tanja etwas entnervt zurück. “Es gab kein Internet. Wir haben keinen Laden gefunden in dem die Computer funktionierten”. “Und was machen wir jetzt?”, frage ich. “Ich weiß nicht”, antwortet Tanja und zuckt ratlos mit den Schultern.

Luda bekommt Besuch. Eine Frau namens Valeri und ihr Sohn Eugen begrüßen uns. Luda überzeugt Valeri das Tanja ein Internetzugang benötigt. Valeri und ihr Sohn fahren ohne sich nur kurz gesetzt zu haben mit Tanja nach Odessa. Diesmal ist die Aktion von Erfolg gekrönt und Tanja kann die Fragen des Magazins beantworten.

Am Abend sitzen wir alle zusammen im Innenhof und unterhalten uns. Wollt ihr mit zum Baden gehen? Zu dieser Jahreszeit sieht man beim Schwimmen viel Plankton im Wasser aufblitzen”, sagt Helena. “Klar, gehen wir mit”, antworten wir. Wir verlassen die Unterkunft und begeben uns in die heiße Talsenke zum Strand. Es geht vorbei an den stinkenden überfüllten Mülltonnen. Dann laufen wir durch eine Gasse die von einfachen Hütten gesäumt wird. Urlauber stehen davor. Sie lachen oder unterhalten sich ausgelassen. Einige von ihnen schüren den Grill an, während andere sich in den einfachen Behausungen für den Abend zurechtmachen. Die Fenster sind mit Eisengittern verriegelt. “Zapzerap”, (Ausspruch für stehlen) erklärt Valeri die vielen Gitter. So wie es aussieht klaut hier jeder von jedem. Eine Art natürlicher Ausgleich. Ohne Scheu wird sich in den Hütten umgezogen. Es gibt keine Vorhänge und wenn werden sie meist nicht zugezogen. Der Schmutz in der Gasse ist atemberaubend. Alles scheint aus den Nähten zu platzen. Viel zu viel Menschen für solch begrenzten Raum. Die Erde ist penetriert mit Abwässern. Flaschen und Plastik überall. Unglaublich wie die Mensche hier Urlaub machen und unter welchen einfachen Bedingungen man sich vergnügen kann.

Am Meer zieht ein Gast ein Netz über den Grund. Er fängt Schrimps. Alle 20 Minuten kommt er an den Strand. Die Frauen sammeln aus dem Schlamm des Netzes die kleinen Meeresbewohner. Ich leuchte ihnen mit meiner Stirnlampe. “Fkusno”, (schmackhaft), sagen sie lachend. Dieser Bereich des Meeres muss zweifelsohne schwer belastet sein. Nicht für viel Geld würde ich diese Dinger essen wollen, geht es mir durch den Kopf. “Denis komm!”, rufen Helena und Valeri. “Ich komme”, antworte ich und schreite in die glatte See. Tanja hat keine Lust ins Wasser zu gehen. Sie passt in der Zwischenzeit auf unsere Klamotten auf. Das Wasser ist lau und weich. Langsam schwimme ich in die Finsternis, weg vom Strand. Tatsächlich ziehen sich blitzende Punkte um meinen Körper. Plankton, habe ich einmal gelesen, besteht aus den verschiedensten Organismen, wie zum Beispiel Einzeller und kleine Krebstiere, Quallen, Würmer und Mollusken, sowie die Eier und Larven vieler Meeresbewohner. Ein Liter Seewasser kann mehr als 500 Millionen Planktonlebewesen enthalten. Wie viel Millionen Kleinviecher wohl jetzt um meinen Körper schwimmen? Mein Blick fällt auf die beleuchtete Kulisse von Odessa. Auch heute schießen Raketen in den schwarzen Himmel. Der Donner der explodierenden Feuerwerkskörper hallt über das Wasser zu uns herüber. Es ist eine einmalige und eigenwillige Stimmung mitten in der Nacht im Schwarzen Meer zu schwimmen, vom blitzenden Plankton umgeben und in den von Feuerwerksraketen erhellten Himmel zu blicken.

Wir freuen uns über Kommentare!

This site is registered on wpml.org as a development site.