Am heiligen Meer
N 53°07'29.6'' E 107°05'54.5'Tag: 50
Sonnenaufgang:
06:12 Uhr
Sonnenuntergang:
21:43 Uhr
Luftlinie:
13.01 Km
Tageskilometer:
14.77 Km
Gesamtkilometer:
12336.54 Km
Bodenbeschaffenheit:
Erdpiste / Bodenwellen
Temperatur – Tag (Maximum):
32 °C
Temperatur – Tag (Minimum):
24 °C
Temperatur – Nacht:
8 °C
Breitengrad:
53°07’29.6“
Längengrad:
107°05’54.5′
Maximale Höhe:
675 m über dem Meer
Maximale Tiefe:
495 m über dem Meer
Aufbruchzeit:
12.30 Uhr
Ankunftszeit:
16.10 Uhr
Durchschnittsgeschwindigkeit:
9,40 Km/h
Das leichte Wellenrauschen weckt uns aus einem tiefen Schlaf. Neben uns hören wir Maria und Alexander miteinander flüstern. Dann erschreckt uns das röchelnde Husten von Maria. “Sie muss dringend einen Arzt aufsuchen”, sage ich leise. “Ob es auf der Insel überhaupt einen Arzt gibt?”, fragt sich Tanja. “Denke schon. Im Hauptdorf Chuschir leben 1.500 Menschen. Da muss es einen Doktor geben”, überlege ich.
Weil wir uns ohne Eile durch die Insel treiben lassen wollen und uns zusätzlich wegen der Fotografier- und Filmarbeit oftmals Zeit lassen möchten, informieren wir die beiden, dass sie nicht auf uns zu warten brauchen. Sie verstehen und packen ihr Camp nach dem Frühstücken zusammen. “Das ist für dich”, sagt Maria und schenkt Tanja ein Paar Ohrringe. “Aber warum?”, fragt sie und versucht ihr Geschenk höflich abzulehnen. “Zur Erinnerung. Du musst sie nehmen. Bitte”, meint sie und reicht Tanja mit Nachdruck den Ohrschmuck. Wir wissen, dass Maria in ihrem Job als Museumsangestellte nur 4.000- Rubel (91,- Euro) im Monat verdient und überlegen uns, wie so oft auf dieser Reise, wie wir dieser Großzügigkeit der hochherzigen Menschen begegnen. “Ich habe noch einen schönen Ring. Den tragen wir schon seit unserer Indienreise, also seit 14 Jahren durch alle Herren Länder. Nur um jemanden zu finden der dieses Geschenkes würdig ist. Was glaubst du? Soll ich ihn Maria geben?”, fragt Tanja. “Das ist eine gute Idee”, antworte ich. Maria möchte gerade ihr Rad besteigen als sie von Tanja gestoppt wird. “Maria, schau mal. Ich habe auch ein kleines Geschenk für dich”, sagt sie und reicht ihr den Ring, der die Energie von 200.000 Reisekilometer in sich trägt. Maria reißt die Augen auf und ist im ersten Augenblick sprachlos. “Nein, nein, den kann ich auf keinen Fall annehmen”, kommt es ihr über die Lippen und möchte das Präsent Tanja zurückgeben. “Du kannst. Ich habe ja auch deine Ohrringe genommen.” “Aber warum?” “Zur Erinnerung”, antwortet Tanja. Plötzlich laufen Maria die Tränen über die Wangen. “Danke”, sagt sie leise und steckt sich das Schmuckstück sofort an den Finger. “Er passt”, meint sie lächelnd. “Ah Denis! Ich habe auch eine Kleinigkeit für dich”, ruft Alexander und schenkt mir seine Detailkarte der Insel. “Aber die benötigst du doch selbst?”, lehne ich ab. “Ich besitze ein GPS und habe mir alles herausgeschrieben”, antwortet er freundschaftlich lächelnd und deutet auf das Handgeschriebene; “Von Alexander und Maria in Erinnerung”, lese ich und sehe die zusätzlichen Unterschriften. “Danke. Die kann ich sehr gut gebrauchen”, sage ich jetzt, den jungen Mann umarmend, den wir erst gestern kennen lernten. Dann verabschieden wir uns endgültig und winken ihnen nach bis sie hinter der ersten Biegung verschwinden.
Nach einem ausgedehnten Frühstück verlassen wir die wunderschöne Bucht erst gegen Mittag, um die 730 Quadratkilometer große Insel des Sees, den die Russen bis heute als Meer bezeichnen, für uns zu erkunden. Olchon ist neben weiteren 22 Eilande die Größte und wird auch das Herz des Baikals genannt. Ihr Name bedeutet auf burjatisch; kleiner Wald. Laut der uns geschenkten Karte gilt die Insel in historischer Sicht als das Zentrum des Baikals. 143 archelogische Funde hat man bis heute entdeckt. Viele der Funde deuten darauf hin, dass die Insel schon während der Steinzeit, die mit der ersten Produktion von Steinwerkzeugen vor circa 2,5 Millionen Jahren begann und bis zum ersten Gebrauch von Metall zwischen etwa 4000 und 2000 v. Chr. dauerte, von Menschen bewohnt wurde. Einige Ausgrabungen aus dem 5. bis 9. Jh. Zeugen vom turksprachigen Nomadenvolk der Kurykanen, einem Volk dessen Herkunft und Verbleib bis heute nicht eindeutig nachgewiesen sind. Zweifelsohne also eine Insel mit einer belebten und interessanten Vergangenheit.
Das staubige, von unzähligen Bodenwellen durchzogene Band, schlängelt sich durch Täler und über 600 Meter hohe Berge. Wüssten wir nicht, dass die Insel nicht länger als 72 Kilometer ist, wäre dieser Anblick trotz seiner umwerfenden Schönheit extrem frustrierend. Unsere Räder und auch Körper sind gezwungen Höchstleistung zu bringen. Unsere Lungen pumpen unaufhörlich Sauerstoff ins Blut, welches ihn wiederum zum Herzen und von dort durch den ganzen Körper transportiert. Im ersten Gang trete ich mein Ross im stoischen Rhythmus nach oben. Mein Brustkorb dehnt sich wie ein Blasebalg und ich bin, wie so oft, fasziniert was ein Mensch leisten kann wenn er nur will. Die feine Übersetzung meiner Rohloffnabe ist verantwortlich dafür, dass sich die Drehtkurbel in einer irren Geschwindigkeit kreisen lässt. Somit bringe ich meinen schweren Ackergaul im ersten Gang auch über extreme Steigungen auf die Rückräder der nicht aufhören wollenden Hügel. Oben angekommen verschnaufe ich. Durch die schwere Atmung bewegt sich mein Brustkorb auf und ab. Der Blick schweift in die Ferne. Überall Berge. Laut Karte erreicht die höchste Erhebung auf Olchon 1.276 Meter. Das Binnengewässer wird von hohen, stark bewaldeten Mittelgebirgen umrahmt. Zu den ausgedehntesten gehören das Baikalgebirge und das Bargusingebirge. Von meinem erhabenen Aussichtspunkt kann ich an der uns gegenüberliegenden Seite des Sees, der auf dieser Seite der Insel auch “Kleines Meer” und auf der östlichen Seite “Großes Meer” genannt wird, die Westküste des Festlandes erblicken. Dort breitet sich die Taiga wie ein endloses Wellenmeer aus, um sich am Horizont zu verlieren. Die raue Felsküste, deren graues, zum Teil aber auch weißes Gestein, wird von der immer grünen Fläche der ewigen Wälder unterbrochen. Saftige, mit Blumen bewachsene Wiesen ziehen sich bis zu den Ufern und werden erst vom glasklaren Wasser des eiskalten Sees begrenzt. Fasziniert beobachte ich das Farbenspiel des Herzens Sibiriens. Herrlichstes Türkies vergeht im hellen Blau, wird von ausladenden dunkelblauen Armen unterbrochen, die sich in zackigen Formen über die in der gleißenden Sonne reflektierende Wasserfläche ziehen. Ein Schauspiel, welches das Wesen des Baikals zeigt, in der ich die leise Sprache der Götter zu verstehen glaube.
Ich sehe in das Tal und beobachte Tanja wie sie ihr Rad die Erdpiste nach oben schiebt. Autos fahren immer wieder an ihr vorbei. Sie wirbeln große Staubwolken auf die sich wie ein feines Tuch über sie legen und für kurze Zeit verschwinden lassen. Hier auf Olchon scheint der Anblick von Radfahrern nichts Besonderes zu sein, denn kaum einer der Fahrer nimmt von uns Notiz. Tatsächlich begegnen wir in regelmäßigen Abständen russischen Touristen die uns mit ihren leichten Rädern entgegenkommen. Die Meisten von ihnen haben sich ihre Drahtesel bei den Radverleihern im Ort Chuschir ausgeborgt. Ohne Gepäck eine wunderbare Sache, um die Insel für sich zu erkunden.
Als Tanja ihr Intercontinental auf die Anhöhe geschoben hat ist sie außer Atem. “Ich bin wirklich froh, unsere Anhänger nicht dabei zuhaben”, hechelt sie. Wir bleiben kurz stehen um zu verschnaufen. Die Schönheit dieser Insel und dem ständigen, meist atemberaubenden Blick auf das heilige Meer, entlohnt uns für jegliche Anstrengung. “Was denkst du gerade?”, fragt Tanja als eine Möwe laut schreiend dicht über unsere Köpfe hinweg gleitet. “Angeblich soll sich der sagenumwobene Dschingis Khan hier einmal aufgehalten haben. Historische Fundstücke belegen, dass tatsächlich Teile seines Heeres und Kundschafter auf der Insel gelebt haben müssen. Legenden und Sagen erzählen sogar davon, dass er am alten Schamanenfelsen, der sich im Örtchen Chushir befindet, begraben liegt”, sinniere ich und suche in meinem Gedächtnis nach weiteren Geschichten von denen ich kürzlich gelesen habe. “Ich kann mir richtig vorstellen wie er mit seinen Horden über die Steppenlandschaft zu uns heraufgaloppiert”, fabuliert Tanja ebenfalls in Gedanken versunken. “In der Tat erzählt man sich, dass Dschingis Khan von der Landzunge Heilige Nase durch den Baikal bis zu dieser Insel marschiert sein soll, um auf dem heiligen Berg Schima, mit 1274 Metern der höchste Olchons, einen überdimensional großen Kessel mit einem Pferdekopf zu hinterlassen. Einer anderen Legende zufolge ist er mit seinem Heer durch das südlich von hier gelegene Tunka-Tal gezogen, um an heiligen Orten zu Opfern”, sage ich. “Weiß man denn wo sich sein Grab befindet?” fragt Tanja. “Nein, der wirkliche Standort ist nicht bekannt. Anscheinend vermutet man seine letzte Ruhestätte an vielen verschiedenen Flecken dieses Erdteils. Ein weiterer liegt im Norden des Baikals. In einer alten Chronik ist zu lesen, dass es dort ein Bergmassiv geben soll, welches der Beschreibung ähnelt. Auch im Süden des Sees wird seine Grabstätte vermutet. Die landschaftlichen Merkmale des Chamar-Daban-Gebirge lassen darauf schließen, dass der große Feldherr mit seinem Pferd und einem sagenhaften Schatz in dieser Region beerdigt wurde”, sage ich nachdenklich. “Hätte nicht gedacht schon vor der Mongolei mit Dschingis Khans Geschichte in Berührung zu kommen”, meint Tanja. “Eigentlich kein Wunder, denn diese gesamte Region hier war unter seiner Herrschaft”, antworte ich.
An der höchsten Stelle des nächsten Berges befindet sich eine Opferstelle. “Weißt du welchem Gott man hier opfert?”, interessiert es Tanja. “Keine Ahnung. Aber eventuell ist diese Opferstelle auch dem Gott Khan Choto-Babai gewidmet. Obwohl dieser am Schamanenfelsen bei Chuschir leben soll. Er hatte schon immer eine besondere Bedeutung auf dieser Insel. Soweit ich weiß gehört er zu den bösen Göttern und war schon seit Gedenken der Herrscher von Olchon. Nach der Überlieferung besiegte er seinen Vorgänger durch eine List und gebietet seitdem umbarmherzig über das Inselreich und seine Bewohner. Früher taten die auf Olchon lebenden Burjaten alles, um seine Aufmerksamkeit nicht auf sich zu ziehen. Angeblich vermieten die im Süden dieser Insel lebenden Menschen es an dem Schamanenfelsen vorbei zu reiten, um in den Norden zu gelangen. Später, so sagt man, haben sie mehr und mehr ihre Achtung vor Choto-Babai verloren und ihren Pferden beim Vorbeireiten nur noch die Hufe umwickelt, um das Hufgetrappel zu dämpfen”, gebe ich das weiter was ich in einem Buch gelesen habe. “Anscheinend glauben die Menschen heute noch immer an die Götter”, überlegt Tanja, weil sich hier unzählige Münzen, Zigaretten, Bobons, Becher, Gläser und anderes nicht Definierbares regelrecht anhäufen.
Plötzlich halten zwei Kleinbusse deren Insassen zum Großteil völlig betrunken herausstolpern. “Magst du einen Wodka?”, fragt mich der Fahrer. “Danke, aber das geht nicht. Ich muss mein Rad heute noch über viele Berge bringen”, antworte ich auf Verständnis hoffend. “Ach was. ßto Gramm (Bezeichnung für 100 Gramm Wodka) geht immer. Dawai”, (weiter oder auch so ähnlich wie haus rein) sagt er und reicht mir bei ca. 32 Grad im Schatten einen Plastikbecher, halb mit Wodka gefüllt. “Bitte, ich bin Sportsmann”, (Sportler) sage ich, doch er lässt nicht locker. “Ha, ha, ha, Sportsmann? Bin auch Sportsmann. Hi, hi, hi hiee!”, lacht er laut, worauf seine Freunde sich vor Heiterkeit ebenfalls die Bäuche halten. “Komm trink mit uns!”, befiehlt er jetzt bestimmend. “Vielen, vielen Dank. Aber ich kann jetzt wirklich nichts trinken”, lehne ich erneut ab. “So ein Blödsinn. Dawai!”, gibt er nicht nach und reicht mir den Becher. Erneut lehne ich so freundlich wie nur möglich ab, worauf er sich dann endlich den Inhalt des Behälters selber hinter die Kiemen stürzt, nur um ihn Sekunden später wieder zu befüllen. Die Opferstelle ist auf einmal zu einem Ort des Tumults und Gegröle verfallen. Es wird fotografiert, gelacht und gesoffen. Auf dem Opfertisch richten die Frauen zwei Teller her. Salat, Wurst und Brot türmen sich darauf. Die acht Männer, zwei Frauen und drei Kinder leeren auch die Teller in Windeseile. Natürlich wird alles wieder mit reichlich Wodka gespült. “Habt ihr Kinder?”, fragt mich einer von ihnen unvermittelt. “Nein”, antworte ich. “Schlecht, sehr schlecht”, ruft er abfällig, während sein fünf jähriger Sohn nur einen Meter neben den Opfertisch an einen Stein pinkelt. Lachend wird nicht aufgegeben sich gegenseitig zu fotografieren. Auch ein buntes Tuch wird zu ehren der Gottheit in den nahen Nadelbaum gehängt. Der ganze Trubel dauert nicht länger als fünf oder sechs Minuten. Dann springt die gesamte Mannschaft wieder in ihre zwei Busse. “Da ßwidanja!”, (Auf wieder sehen) rufen sie als die Motoren aufheulen und sich die betrunkenen Fahrer mit ihren wehrlosen Insassen in das Tal stürzen. Kaum sind sie weg, ist es an der Opferstelle wieder ruhig und wir glauben das eben erlebt nur geträumt zu haben. “Na, einen starken Glauben scheinen sie nicht mehr zu besitzen”, stellt Tanja fest. “Anscheinend reicht er aus, um hier ein paar Münzen hinzuwerfen und sich etwas zu wünschen”, antworte ich mich wundernd.
Schon vier Stunden nach unserem Aufbruch heute Mittag finden wir an einem malerisch schönen Sandstrand einen Lagerplatz für die Nacht. Bevor wir unser Zelt aufstellen sammeln wir den Müll der wild verstreut über den paradiesischen Strand verteilt liegt und verbrennen ihn. Leider besitzt ein Großteil der russischen Touristen noch kein ausgeprägtes Umweltbewusstsein und so mancher bezaubernder Campplatz ist durch Zurückgelassenes unbrauchbar oder verunreinigt worden. Nur 500 Meter neben uns zelten mehrere Familien am gleichen Strand. Sie haben es sich für längere Zeit eingerichtet und zwei provisorische, hässliche Toilettenhäuser aufgebaut, in denen sie ihre Notdurft verrichten. Hinter den Stinkhäuschen befindet sich der Müllberg, der nach ihrem Urlaub davon zeugen wird, dass sich hier einst Menschen vergnügten. Vielleicht liegt es an der scheinbar unendlichen Weite Sibiriens, die ihre Bewohner dazu veranlasst, nicht auf ihre Umwelt und die Natur zu achten. Ist ein Platz versaut, sucht man sich einfach einen neuen. Bisher gibt es noch viele unberührte Orte. Möglicherweise hätten wir Europäer auch ein geringeres Umweltbewusstsein, wenn mehr Platz zu Verfügung stünde und die fatalen Folgen unseres Konsumverhaltens nicht schon seit langem sichtbar wären.
Weil unser Kocher ausgefallen ist und ich im Augenblick nicht weiß woran der Fehler liegt, geht Tanja los, um Treibholz für ein Lagerfeuer zusammenzusuchen. Mit siegessicherem Lachen kommt sie zum Camp zurück, wirft einen armvoll Holz auf die Wiese und entfacht seit langer Zeit mal wieder das erste Feuer. Glücklich sitzen wir vor den niedrigen Flammen und blicken auf das Kleine Meer des Baikals. Wieder verabschiedet sich die Sonne mit einem fantastischen Farbenspiel vom heutigen Tag. “Hast du auch die Empfindung, dass diese Insel eine besondere Ausstrahlung hat?”, fragt Tanja leise. “Auf jeden Fall. Ich fühle mich hier geradezu unbeschreiblich wohl. Ist eine sanfte, sehr angenehme Schwingung, die ich glaube zu spüren”, antworte ich. “Es war ein himmlisches Geschenk von Pater Andrej uns hierher geschickt zu haben und alles dafür zu tun seinen Rat auch anzunehmen”, vernehme ich Tanjas Stimme, die sich in diesem Augenblick, mit dem Flüstern der leichten Wellen zu vereinen scheint.