Alles unter Wasser
N 54°58'12.1'' E 082°51'17.0''Tag: 110
Sonnenaufgang:
06:48 Uhr
Sonnenuntergang:
20:04 Uhr
Luftlinie:
90.56 Km
Tageskilometer:
101.15 Km
Gesamtkilometer:
10365.87 Km
Bodenbeschaffenheit:
Asphalt
Temperatur – Tag (Maximum):
15 °C
Temperatur – Tag (Minimum):
10 °C
Temperatur – Nacht:
6 °C
Breitengrad:
54°58’12.1“
Längengrad:
082°51’17.0“
Maximale Höhe:
254 m über dem Meer
Maximale Tiefe:
194 m über dem Meer
Aufbruchzeit:
10.00 Uhr
Ankunftszeit:
18.00 Uhr
Durchschnittsgeschwindigkeit:
17.62 Km/h
Die letzten Tage hat es oft geregnet. Die Temperaturen sind weiter gefallen. Hatten wir zur Einreise in Sibirien noch 38 Grad in der Sonne, so steigt das Thermometer nur wenige Tage danach nicht über 15 Grad. Von dem wärme spendenden Stern ist auch kaum noch etwas zu sehen. Nur sehr selten spitzen ein paar Strahlen durch die dicken Regenwolken. Ob dieses üble Wetter Anfang September normal für Sibirien ist? Wir wissen es nicht. Die Aussagen sind unterschiedlich, so dass wir uns kaum darauf verlassen können. “In zwei Wochen wird es schneien”, vermutete ein Sibirier. Na hoffentlich hat er nicht Recht.
Wir verlassen das alte Kurhaus an der Biegung des Ob Flusses. Der Morgen ist mit nur 10 Grad besonders kühl. Dunkle Wolken kriechen über das Land. In einem kleinen Laden kaufen wir uns frisches Wasser und schütten den Rest des noch in unseren Trinksystemen befindliche Friedhofwasser weg. Der Meister stärkt uns heute zum Glück wieder den Rücken. Wir kommen gut voran und fliegen mit 20 bis 25 km/h über den feuchten Asphalt. Der Verkehr ist nach wie vor stark. Klar, alles scheint nach Novosibirsk zu streben. Nach 70 Tageskilometern beginnt es zu regnen. “Dort wäre doch ein guter Platz für unsere Mittagsrast”, meint Tanja auf eine Tankstelle deutend. Wir rollen unter das Dach der Zapfsäulen, lehnen unsere Roadtrains an das Gebäude und sind auf diese Weise vor dem Regen und Wind geschützt. Im Stehen genießen wir von Tanja zubereiteten Fruchtsalat mit Kefir, einen Schokoriegel und zwei Tassen heißen Tee aus der Thermoskanne.
Dann geht es wieder in den Regen. Es schütter wie aus Kübeln. Nur 10 Kilometer später ziehen wir einen weiteren Fliespullover, Regenüberschuhe und wasserdichte Handschuhe über. Die Straße, vor allem der Seitenstreifen, ähnelt einem kleinen Fluss. Es ist glatt und schmierig. Plötzlich löst sich eine Fußschnalle am Tretpedal. Wir halten an. “Ich muss an den Hänger. Dort ist das Werkzeug!”, rufe ich. Als ich den Deckel der Zargesbox öffne strömt das Wasser in unsere Ausrüstung. Dann schraube ich die Fußschnalle wieder fest. Nur fünf Minuten später hat sie sich erneut aus der Halterung gelöst. Reparaturen bei solch einem Sauwetter sind ärgerlich. Meine Hände sind klamm. “Die Feststellschraube ist zu kurz. Ich muss das in Novosibirsk reparieren!”, kläre ich Tanja auf.
Wir erreichen den Randbezirk der 1,5 Millionenmetropole. Aus uns nicht verständlichen Gründen parken unzählige Lastwägen links und rechts der Straße. Sie stehen im tiefen Matsch. Wir müssen uns konzentrieren nicht aus Versehen vom Randstreifen in den aufgeweichten klebrigen Untergrund zu geraten. Der Verkehr hat extrem zugenommen. Es hupt und stinkt. Hektik pur bei sehr schlechter Sicht und glitschiger Fahrbahn. Dann ein Polizeiposten. Der Polizist winkt Autos an den Randstreifen. Dort werden sie kontrolliert. Obwohl uns die Polizei im Regelfall wohl gesonnen ist sind wir immer wieder froh solche Straßenposten, die es vor jeder Stadt gibt, ohne Problem zu passieren.
Die Beamten bemerke uns erst nicht, denn sie sind vollauf beschäftigt. Wir treten vorbei. Plötzlich durchdringt eine penetrante Lautsprecherstimme den Verkehrswahnsinn. “Sind wir gemeint? Ach was, einfach weiterfahren”, denke ich und schwups sind wir mit der kriechenden nassen Schlange vorbei.
Sodann brausen Autos an uns vorüber und geben uns eine volle Ladung Pfützenwasser. Wir spucken, die Brillen sind verschmiert. Der Atem dampft. Die Stadt begrüßt uns mit Ellbogenverhalten und Rücksichtslosigkeit. Als kleinstes Glied im Großstadtverkehr sind wir nichts mehr wert. Wir erreichen eine große Verkehrsinsel. Ich lasse mein Sumobike in den Matsch rollen und studiere die Karte. Als ein Kleinlaster dicht an uns vorbeistöhnt hebe ich die Hand. Er bleibt stehen. “Kann ich ihnen helfen?”, fragt der Fahrer. “Ja”, antworte ich dankbar. “Wo ist die Straße in Richtung Tomsk?”, rufe ich laut, um das Gedröhne um uns zu übertrumpfen. Der Mann holt sein Handy hervor und ruft jemanden an. Mit positiven Informationen steigt er nun aus seiner Fahrerkanzel in den Matsch und zeichnet mir einen Plan. “Tausend Dank”, sage ich ihm die Hand schütteln. “Zumindest haben wir jetzt eine grobe Richtung”, erkläre ich Tanja.
Wir schieben unsere Böcke über die vierspurige Straße. Autos von allen Richtungen. Gott sei Dank erbarmt sich einer der Fahrzeuglenker, hält den Verkehrsfluss an und lässt uns rüber. Dann geht es weiter. Stopp and Go. Wir sind müde und ausgelaugt. Der Regen, die Kälte, bald 10 Stunden unterwegs und jetzt die Rushhour, deren hunderte herumschwirrenden Blechhaufen uns wie die Saugnäpfe einer glitschigen, gefährlichen Riesenkrage vorkommen. Die Straßen sind zum Teil überflutet. Das Kanalisationssystem ist völlig überlastet. Wachsam rollen wir durch die trübe, kalte Flüssigkeit. Fahr nicht zu weit rechts! Wer weiß ob nicht einer der Kanaldeckel fehlt!”, brülle ich eine Warnung zu Tanja die mir folgt und von dem Spritzwasser meiner Reifen zusätzlich benässt wird. Wir drücken uns zwischen ausladende Lastenzüge, fahren vorbei Bussen deren Stromnehmer in einem Kabelgewirr über unseren Köpfen hängt. Schwarzer Ruß und Abgase von verbleitem Benzins wird auf uns gehustet und gekotzt. Welch ein Alptraum für unsere Lungen. Jedoch was bleibt uns anderes übrig? Es gibt nur einen Straße nach Tomsk und die führt genau durch diese Metropole.
An einer Tankstelle suchen wir Unterschlupf, um uns für kurze Zeit vom dem aufgebrochenem Abszess einer menschlichen Siedlung zu erholen. Mir ist schlecht. Tanja sieht blass aus. Ich frage einen Mann der gerade sein Fahrzeug betankt hat wo es eine Gastiniza gibt. Er überlegt, versucht uns den Weg zu erklären und als es zu kompliziert wird bietet er uns an vorauszufahren. Insgeheim habe ich dafür gebetet und siehe da es hat tatsächlich gewirkt. Wir folgen dem Sibirier nun durch das wässrige Verkehrschaos. Als ich glaube ihn verloren zu haben bemerke ich ihn an einer Bushaltestelle vor uns. “Sie müssen die Straße überqueren. Dort drüben sehen sie? Dann fahren sie bis zum Ende. Da gibt es eine Gastiniza.”, erklärt er. Wir bedanken uns und folgen seiner Erklärung. “Nein, eine Gastiniza gibt es hier nicht”, meint ein Passant der bis zu den Knöcheln im Wasser steht. “Was? Gastiniza? Die ist weit!”, sagt ein junger 12 jähriger Bengel. Wir sind entnervt. Fahren zurück. Ein junger Mann in seinem Auto wartet vor einem Haus. “Sie müssen zurück und auf der Hauptstraße nach rechts”, meint dieser. Wir folgen seinem Rat als Tanja von den Insassen eines Kleinbusses nach dem Woher und Wohin gefragt wird. “Gastiniza? Na da müssen sie wieder zurück. Fragen sie nach der Sauna”, erklärt der Beifahrer. Wir erreichen wieder den jungen wartenden Autofahrer. Vor einem Haus hat sich ein ausladender See gebildet. Ich stelle mein Rad auf den Ständer und wate durch den See zum Haus. Die Tür ist verschlossen. Im Nachbarhaus sagt man mir ich solle dort klopfen. Tatsächlich öffnet jemand. “Ist das hier eine Gastiniza?”, frage ich bald am Ende meiner Kräfte. “Ja”, höre ich das wunderbare Wort. “Haben sie ein Zimmer für meine Frau und mich?” “Ja”, höre ich erneut. “Gibt es einen Raum für unsere Räder?”, füge ich etwas kleinlaut hinzu, darauf hoffend jetzt nur kein Nein zu vernehmen. “Ja, bringen sie ihre Räder nur herein”, glaube ich meinen Ohren kaum zu trauen.
Ich gehe nach draußen und zeige Tanja das Okayzeichen. Sie lacht erleichtert. Während Tanja unsere völlig verdreckte Ausrüstung durch das blitzblank geputzte Haus in den ersten Stock, in ein sehr großes Zimmer trägt, stehe ich in dem See und versuche soweit möglich alles vom gröbsten Dreck zu reinigen. Die Damen des Hauses nehmen den Schmutz gelassen. Kaum sind wir eingezogen wird der Boden wieder gewischt und glänzt genauso wie vorher. Dem scheußlichen Wetter, mit seinem noch scheußlicheren Verkehr entkommen zu sein, lasse ich mich erstmal befreit auf das große Bett sinken.
Erst später bemerken wir hier in einem Stundehotel zu wohnen. Die Damen zeigten uns die verschiedenen Saunen die man sich mieten kann. Dann vielen uns die eindeutig, zweideutige Bilder an den Wänden auf. Die Möglichkeit ein Zimmer auch für Stunden mieten zu können und verräterische Geräusche aus dem einen oder anderem Zimmer geben genug Aufschluss. Uns ist das egal. Wir werden sehr zuvorkommend behandelt. Man hat sich gewundert wie wir dieses Haus gefunden haben. Die Damen in der Küche wispern über die deutschen Radfahrer und lachen freundlich. Später genießen wir eine schöne heiße Dusche, essen im Zimmer unser Abendbrot und sprechen ausgelassen über die Erlebnisse des Tages und unserem Erfolg nun Novosibirsk erreicht zu haben.