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Russland/Samara Link zum Tagebch: TRANS-OST-EXPEDITION - Etappe 3

Alexej der Wahnsinnschauffeur

N 53°12'02.1'' E 050°06'00.8''
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    Tag: 7

    Sonnenaufgang:
    05:22 Uhr

    Sonnenuntergang:
    21:51 Uhr

    Gesamtkilometer:
    6883.92 Km

    Breitengrad:
    53°12’02.1“

    Längengrad:
    050°06’00.8“

Lena ist eine siebenundzwanzig Jahre junge und hübsche Russin. Sie spricht neben Spanisch, Englisch auch Deutsch. Als Architektin und Bauingenieurin ist sie schon viel in der Welt herumgekommen. Ihr Vater ist ein Freund des Klosters und Lena hat hier schon ein paar Wochen gelebt. Mutter Oberin hat sie gebeten uns auf dem heutigen Ausflug zu begleiten und für uns zu übersetzen. “Das mache ich sehr gerne”; hat Lena gesagt und sich dafür extra einen Tag frei genommen.

“Seid ihr fertig?”, fragt Lena als sie uns abholt. “Klar”, antworten wir und begleiten sie zum Gebäude in dem die Oberin lebt. Ein Chauffeur kommt mit einem Lada. Wir verabschieden uns von der Mutter Oberin die Lena trotz unseres Widerspruchs noch etwas Geld für den Ausflug und unser Wohlsein in die Tasche steckt. Dann geht’s auch schon los. Kaum haben wir das Klostertor passiert, drückt der Fahrer Alexej aufs Gaspetal und lässt die Räder durchdrehen. Erst denke ich es war ein Versehen doch die weitere Fahrt belehrt uns eines Besseren. In wilder Hast schießen wir durch den Berufsverkehr von Samara. Unser erster Stopp ist eine Aussichtsplattform hoch über der Wolga. “Wegen dem schlechten Wetter haben wir heute Glück. Wenn die Sonne scheint ist hier alles voller Menschen”, erklärt Lena. Dann geht es weiter, vorbei an hässlichen Wohnburgen die den Anschein auf uns machen als würden sie jeden Augenblick zusammenbrechen. Im Vergleich zum schönen Zentrum Samaras sieht es hier erschreckend trostlos aus. “Wie alt sind denn die Häuser hier?”, möchte ich wissen. “Ungefähr 20 bis 30 Jahre”, antwortet die Architektin. “Was? Die sehen viel älter aus. Warum werden sie nicht renoviert?” “Keine Ahnung. Sie gehören wahrscheinlich Geschäftsleuten. Die sehen keinen Gewinn in einer Renovierung. Die Häuser haben oftmals eine furchtbar schlechte Bausubstanz und wurden von unqualifizierten Arbeitern errichtet. Keiner hat sich in der Zeit des Sozialismus wirklich um Qualität gekümmert. Manchmal hat man am Fundament gespart oder es aus Kostengründen nicht richtig berechnet. Das hat zu Folge, dass die Häuser am Wolgaufer Risse bekommen. Manche konnten aus Sicherheitsgründen nie bezogen werden und verfallen. Verantwortlich ist keiner. Nach der Zeit des Kommunismus wurden viele der Wohnungen für wenig Geld privatisiert. Das heißt die Bewohner konnten sie für ein paar tausend Rubel kaufen. Aber die Gesellschaft die die Häuser verwaltet kümmert sich nicht darum? Wie gesagt, zu wenig Profit.” “Ja, das ist einer der Nachteile des Kapitalismus”, antworte ich verwundert. “Die Stadt steuert also auf eine Katastrophe zu?” “Ja, irgendwann werden die Häuser nicht mehr bewohnbar sein. Schon jetzt platzen überall Rohre, Gasleitungen, bleiben Lifte stehen oder die Dächer sind einfach undicht. In der Tat weiß keiner wie man mit diesem kommenden Problem umgehen soll”, antwortet Lena.

Unser Fahrer rast weiter durch den Verkehrswahn. Er überholt links, dann wieder rechts, bremst abrupt, gibt Gas und braust manchmal mit 100 Sachen über den Löcherstreifen. In Samara könnte man glauben das es keinen ungeflickten Meter Straße gibt. Staub wirbelt herum, die Bordsteinkannten brechen zusammen. Alles in Allem ein sehr, sehr trauriger Anblick. Vielleicht kommt es mir nur so verfallen vor weil ich gerade aus einem sauber geleckten Deutschland komme. Einem der reichsten Länder unserer Erde in dem sich viel Menschen darüber beklagen, dass die Milchpreise steigen, die Steuern zu hoch sind, oder das Rauchverbot in Kneipen eingeführt wird. Hier sehen die Probleme definitiv anders aus.

Alexej hat die Bundesstraße in Richtung Moskau erreicht. Ein Verkehrsschild zeigt 1006 Kilometer bis zur reichsten Stadt der Welt. Man hat uns erzählt das 80 Prozent des gesamten Kapitals Russlands in der Stadt gehortet wird. So wie es außerhalb Moskaus aussieht kann man sich vorstellen, dass diese Aussage zutrifft.

Die Tachonadel erreicht die schwindelnde Zahl 135 Kmh. Wir fliegen über die tiefen Risse, Löcher und Spalten des alten, geplagten Bitumen. Unser Lader schießt auf eine Lücke zu die sich gerade zwischen zwei nebeneinander fahrenden Lastwägen auftut. Als unser Blechhaufen auf Rädern sich tatsächlich durch die Spalte zwängt, trete ich vor nackter Angst fast das Bodenblech durch. “Alexej meint wohl er ist ein Rennfahrer?”, frage ich Lena. Sie übersetzt. Er lächelt und scheint sich durch meine Aussage motiviert zu fühlen. Da sagt man doch glatt ein Radfahrer lebt gefährlich, doch als Beifahrer eines Wahnsinnigen ist die Gefahr nicht minder.

Nach 130 Kilometern befinden wir uns in dem Nationalpark Kamennaya Chasha den uns die Mutter Oberin so empfohlen hat. Der Asphalt hört urplötzlich auf und wir holpern noch weitere 15 Minuten über eine Erdpiste durch eine traumhaft schöne dicht bewaldete Hügellandschaft. An einem Holzhäuschen, dem Plumpsklo für Pilger, halten wir an. “Hier ist es”, meint Alexej. Zerbrochene Flaschen, Müll und Feuerstellen zeigen uns das hier die Menschen auch gerne mal Feiern. Ein schmaler rutschiger Weg führt uns zu der heiligen Kapelle des heiligen St. Nikolay. Kaum betreten wir den Wald stürzen sich Millionen von Moskitos auf uns. Da sind sie also, die schrecklichen Blutsauger vor denen man uns schon vor Jahren gewarnt hat. “Eigentlich sollten die Stechmückenschwärme doch in Sibirien sein”, scherze ich etwas kleinlaut. Lena antwortet mit leicht gequältem Lächeln. Wild wirbelt sie ihre Tasche um ihren Körper, um sich die gefräßigen Biester vom Leib zu halten. Sie trägt einen Rock und Nylonstrümpfe, ist also den Mücken hoffnungslos ausgeliefert. Wir erreichen den Höhepunkt der Fahrt, die heilige Quelle des St. Nikolay. “Es ist Tradition das die Pilger hier eine Dusche unter dem heiligen Wasser nehmen. Möchtet ihr auch?”, fragt Lena freundlich. “Nein danke”, lehnen wir ebenfalls freundlich ab. Nur der Gedanke daran den Moskitoschwärmen einen weiteren Zentimeter Haut anzubieten lässt Tanja und mir die Haare zu Berge stehen. Alexej hingegen ist da ein besonders hartgesottner Pilger. Er stellt zwei Eimer unter das Rinnsal bis sie voll sind, geht in die aus Wellblech gebaute Umkleide und schüttet sich das heilige Wasser über den Körper. “Warum ist das Wasser hier heilig?”, interessiert es mich. Lena zuckt mit den Schultern und fragt Alexej. “Ich weiß nicht. Wahrscheinlich ist hier ein Wunder geschehen. Oder Jemand hatte hier eine besondere Begegnung”, antwortet er mit den Schulter zuckend. Als wir den frommen Ort verlassen sind die Beine von Lena regelrecht blutig gestochen. Sich kratzend sitzt die Arme im Auto, als Alexej seine Kamikazefahrt wieder aufnimmt und sich mit Freude in den Verkehr stürzt.

Ist unser Freund Michael ein Engel?

Bei wolkenbruchartigen Regen erreichen wir am späten Nachmittag wohlbehalten das Kloster Iverskiy. Ich lege mich gerädert ins Bett, um ein wenig auszuruhen. Dann kommt Michael. Er hat heute Bliny (Pfannkuchen) für uns zubereitet und uns zu sich in seine Einzimmerwohnung eingeladen. Michaels Wohnung befindet sich in einem der heruntergekommenen Wohnblöcke. “Ich hoffe der Aufzug bleibt nicht stehen”; scherze ich als wir in den vierten Stock nach oben holpern. “Eigentlich nicht. Es ist nur einmal am Neujahrsabend geschehen als mich ein Freund besuchte. Gott sei Dank war es noch vor 18:00 Uhr und so konnte er vom Notdienst befreit werden”, lacht er, worauf wir ebenfalls herzhaft lachen müssen. Michael öffnet die Tür zu seiner Wohnung und wir sind über die Sauberkeit überrascht. Sofort fühlen wir uns bei unserem Freund wohl. “Lasst uns essen”, schlägt er nach einiger Zeit des Redens vor. Seine Freundin Katjana, Tanja und ich setzen uns an den kleinen Küchentisch. Michael stellt drei Bierdosen und einen großen Teller Blinys auf den darauf. Es sind mit leckeren Lachs gefüllte Pfannkuchen. “Mann, du kannst ja richtig gut kochen”, loben Tanja und ich ihn begeistert. “Blinys sind meine Spezialität. Ist nicht schwer zuzubereiten”, meint er bescheiden. Wir erleben einen heiteren Abend und sind froh ihn kennen gelernt zu haben. Michael ist Fotograf und war bei unserer Ankunft letzten November rein zufällig im Kloster, um für seinen Freund dem Kirchenschnitzer etwas zu fotografieren. Er war zu dieser Zeit der einzige der englisch sprach und hat uns sehr geholfen eine Verständigung zwischen den Nonnen und uns möglich zu machen. Wieder haben wir mit ihm einen Menschen getroffen der uns wie ein Engel vorkommt. Sobald wir ihn brauchen ist er da und hilft uns beim Organisieren einer Telefonkarte fürs Handy, der Fahrt vom Flughafen zum Kloster, den Kauf von speziellen Batterien usw. usw. Ohne Zweifel wäre der Aufenthalt hier in Samara ohne ihn entschieden schwieriger und vieles wäre gar nicht möglich. Vielleicht ist er ja tatsächlich ein Engel. Zumindest ein fantastischer, hilfsbereiter, freundlicher und immer gut gelaunter Mensch.

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