Adlerstraße – Tödlicher Absturz eines Wanderers
N 62°11’06.6’’ E 009°29’14.6’’Datum:
20.09.2020
Tag: 049
Land:
Norwegen
Ort:
Herbstfarben-Camp
Tageskilometer:
148 km
Gesamtkilometer:
4041 km
Bodenbeschaffenheit:
Asphalt
Fähre
0
Brückenüberquerungen:
0
Tunneldurchfahrten:
2
Sonnenaufgang:
06:55 Uhr
Sonnenuntergang:
19:36 Uhr
Temperatur Tag max:
17°
Temperatur Nacht min:
02°
Aufbruch:
15:00
Ankunftszeit:
18:00
(Fotos zum Tagebucheintrag finden Sie am Ende des Textes.)
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„Die Wettervorhersage hat wieder einen Volltreffer gelandet“, sage ich, als ich die Augen aufschlage und den Wind höre, der um die Terra heult. „Ob es Sinn macht, bei diesem Regen auf die Wanderung zu gehen?“, überlegt Tanja. „Laut Wetter-App wird es ab 10:00 Uhr besser“, antworte ich in mein Smartphone blickend. „Dann lass uns in ein oder zwei Stunden entscheiden“, meint Tanja Äpfel, Birnen und Mandarinen für unser Frühstück schneidend. Gegen 10.00 Uhr hört der Regen auf. Wir packen unsere Tagesrucksäcke, ziehen uns warm an und verlassen die Terra. Gleich hinter den Aussichtsplattformen führt ein schmaler Pfad steil nach oben in das Gebirgsmassiv der Trolltindene, das für seine steilen Felswände ganz besonders für die bis zu 1000 Meter hohe Trollwand bekannt geworden ist. Wir hangeln uns an den mit Eisenketten gesicherten Weg entlang. Trittsicherheit und Schwindelfreiheit ist auch auf dieser kurzen Wanderung eine wichtige Voraussetzung, um am Ende wieder gesund unten anzukommen. Nur zehn Minuten später geht es über goldgelbe Flechten, die sich um grobe Felsen hangeln. Dazwischen wachsen dunkelrote niedrige Sträucher, sodass selbst hier oben der Herbst die rauen Berge mit seiner Farbenpracht beschenkt. „Dort drüben vom Wasserfall haben wir einen fantastischen Blick auf die Trollstigen“, sage ich. „Pass auf und geh bitte nicht soweit an den Abgrund“, ermahnt mich Tanja. „Ich pass schon auf“, sage ich mir bewusst, dass dieses raue Gestein keinen Fehltritt zulässt. Vorsichtig stapfe ich über das goldgelbe Gesträuch. Ajaci, der die Gefahren nicht erkennt, führe ich eng an der Leine. Mit jedem Meter, dem wir uns dem Wasserfall nähern, wird es lauter, so laut, dass wir uns kaum noch unterhalten können. „Ich bleibe hier oben!“, meint Tanja sich unweit des rauschenden Wassers auf einen Felsen setzend, während Ajaci und ich uns näher an die Abbruchkante vortasten. „Nicht so weit! Du weißt doch, dass hier erst letztes Jahr ein Wanderer in den Tod gestürzt ist!“, ruft Tanja. „Das war nicht hier, sondern auf der Seite der Trollstigen, aber ich pass auf. Mach dir keine Sorgen!“, antworte ich. Dann setze ich mich mit meinem Hund in das weiche Geflecht und blicke in das Tal unter uns. Genau gegenüber, auf der anderen Seite der Senke schraubt sich die Adlerstraße 405 Meter in die Höhe, sodass sich die letzte Kehre genau in der gleichen Höhe befindet wie unser Standpunkt. Auf der linken Seite der schmalen Straße stürzt sich der Stigfossen 180 m in die Tiefe. Ich schieße ein paar Fotos, löse mich von dem imposanten Naturschauspiel, klettere wieder ein Stück nach oben und setze mich neben Tanja auf den Felsen. „Hat sich gelohnt, hierher zu kommen“, sagt Tanja den Blick auf die berühmte Straße, die sich wie der Pinselstrich eines japanischen Kalligrafen an der Nordseite des steilabfallenden Felsmassivs entlang windet. „Absolut“, sage ich laut, um das Rauschen des Wasserfalls neben uns zu übertrumpfen.
Am Nachmittag erreichen wir wieder den Parkplatz. Obwohl schon zu spät für große Strecken, entscheiden wir uns für die Weiterfahrt. „Und, wenn wir nur 100 km weit kommen, ist das ein Schritt in Richtung Nordkap“, sage ich. „Was glaubst du, wie weit es noch bis dorthin ist?“ „Kommt darauf an, wie viel Abstecher wir noch einlegen“, überlege ich. „Du meinst Lofoten und die Insel Senja?“ „Ja genau. Aber nach einer groben Schätzung sind es noch 2.500 bis 3.000 Kilometer.“ „Und wie viel Kilometer haben wir seit Reisebeginn zurückgelegt?“ „Ca. 4.000 Kilometer.“ „Nicht weit, wenn ich bedenke, dass wir bereits seit 1 ½ Monate unterwegs sind.“ „Wie man es nimmt. Wir haben in den 4.000 Reisekilometern irre viel gesehen und erlebt.“ „Zweifelsohne. Ich meinte allerdings nicht die Erlebnisdichte, sondern die zurückgelegte Strecke im Verhältnis zu unserem gewünschten Ziel. Wir müssen die Rückfahrt von dort oben mit einrechnen und irgendwie habe ich bedenken, dass uns der nordische Winter einholen wird“, überlegt Tanja. „Kann schon sein, aber wir fahren ein extremes Allradfahrzeug, das 24 Gänge und drei Differenzialsperren besitzt. Also vor dem Winter habe ich jetzt nicht die großen Bedenken. Aber egal, lass uns aufbrechen“, meine ich abschließend, worauf wir unsere Rucksäcke im Alkoven verstauen, unsere warme Wanderkleidung ausziehen und in die Fahrerkabine hüpfen.
Während viele Besucher die Trollstigen von unten nach oben fahren, nehmen wir sie wegen unserer Reiserichtung andersherum. Wegen der Pandemie und weil die Reisesaison sich dem Ende zuneigt, sind wir nahezu die Einzigen auf der Straße. Ich lege den grünen Untersetzungshebel ein. Somit kann ich unseren Iveco meist im dritten Gang die 12 % Gefälle herunterlaufen lassen, ohne viel bremsen zu müssen. Wenn der Motor trotz allem auf 4000 Umdrehung hochfährt, schalte ich in den zweiten Gang herunter. „Das läuft super!“, freue ich mich. Langsam lenken wir Kehre für Kehre, Haarnadelkurve für Haarnadelkurve in die Tiefe. „Unglaublich schau dir an, mit welchen Felsbrocken sie die Straße abgestützt haben. Das ist wirkliche Ingenieurskunst“, frohlocke ich, während Tanja eher etwas still neben mir sitzt und meine Freude nur bis zu einem gewissen Grad teilen kann. Schwere Regenwolken ziehen in diesem Augenblick über die Berge. Der Abgrund auf der meist einspurigen Straße liegt dicht neben uns. Wenn ich mir überlege, dass hier angeblich bis zu achthunderttausend Besucher pro Jahr rauf und runterkurven, wundert es mich, dass nicht mehr passiert. Gerne würde ich für ein Foto anhalten, jedoch ist das wegen der schmalen Straße kaum möglich. Als wir die kleine Brücke über den Auslauf des Stigfossen, der hier nach seinen 180 m Fall auf die Felsen trifft, überqueren, halte ich in der darauffolgenden Ausweichstelle an, um ein paar Bilder zu schießen. Es ist kalt, der Wind bläst die Gischt über mich und meine teure Kamera, sodass ich in Sekundenbruchteilen nass bin. „Uhhhaaa!“, rufe ich in die Terra zurückeilend. Fünf Kehren weiter sind wir im Tal angelangt. Wir folgen der Provinzstraße 63 durch das lange Tal. Dann kreuzen wir auf die E 136 in Richtung Trondheim, immer weiter in den hohen Norden, bis wir hoffentlich das Ziel dieser Reise erreichen. Wobei ich sagen muss, dass das Nordkap nur ein Etappenziel für uns ist. Das Hauptziel sind Polarlichter, die Tanja und ich sehr gerne einmal live sehen und fotografieren würden.
Knapp 150 Kilometer die Straßen entlang bin ich hundemüde. Es ist 18:00 Uhr, als wir auf einem Plateau, bewachsen mit buntem Heidekraut und goldgelben niedrigen Bäumen, einen Platz für die Nacht finden. Während ich diese Zeilen in den Laptop tippe, bereitet Tanja unser Abendessen. „Meinst du, wir werden Polarlichter sehen?“, fragt Tanja. „Ich hoffe. Das hängt natürlich vom Wetter ab. Bei starker Bewölkung und Regen werden wir nichts sehen. Auch hängt es vom KP-Wert ab.“ „Was ist der KP-Wert?“ „Ehrlich gesagt weiß ich das auch noch nicht genau. Warte ich Google, dass mal schnell“, sage ich und gebe Kp-Wert in die Suchleiste ein. „Also hier steht Folgendes: Bei einem Kp-Wert von 0 können Sie Polarlichter bis Tromsø in Norwegen beobachten, bei einem Kp-Wert von 5 sind Polarlichterscheinungen bis Edinburg in Schottland möglich, und bei einem Kp-Wert von 9 (Höchstwert) ist die Sichtung eines Polarlichts bis Marseille in Frankreich möglich.“ „Okay, jetzt verstehe ich, dass ein hoher Kp-Wert für die Stärke des Polarlichtes verantwortlich ist, aber was ist der Kp-Wert?“ „Hm, mal sehen“, antworte ich und versuche, weitere Informationen abzurufen. „Aha, soweit ich diesen wissenschaftlich trocknen Text verstehe, ist der Kp-Wert oder Kp-Index eine planetarische Kennziffer. Also K für Kennziffer und P für Planeten. Hier steht, dass dieser Index entwickelt wurde, um solare Teilchenstrahlung durch ihre magnetische Wirkung darzustellen. Es ist ein Maß für die geomagnetische Aktivität, die von 13 auf der Erde verstreuten Observatorien bestimmt wird und ist als wichtige Maßgröße anerkannt.“ „Oh je, klingt wirklich recht trocken. Danke für die Info, aber jetzt lass uns essen“, sagt Tanja…