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Mongolei/Tuwa Camp MONGOLEI EXPEDITION - Die Online-Tagebücher Jahr 2011

Schamanisches Ritual

N 51°33'336'' E 099°15'341''
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    Tag: 232-238

    Sonnenaufgang:
    07:43/07:29

    Sonnenuntergang:
    19:22/19:32

    Gesamtkilometer:
    1281

    Bodenbeschaffenheit:
    Eis, Schnee

    Temperatur – Tag (Maximum):
    minus 5°C

    Temperatur – Tag (Minimum):
    minus 15°C

    Temperatur – Nacht:
    minus 26°C

    Breitengrad:
    51°33’336“

    Längengrad:
    099°15’341“

    Maximale Höhe:
    1981 m über dem Meer

22:00 Uhr. „Do dong! Do dong! Do dong!“„Hörst du das Trommeln?“, fragt Tanja. „Ja. Klingt fast ein wenig mystisch.“ „Ob Gamba ein schamanisches Ritual abhält?“ „Könnte sein. Aber vielleicht ist es Saintsetseg?“, überlege ich. „Ich möchte wahnsinnig gerne mal hingehen. Meinst du sie würden uns akzeptieren?“ „Hm“, sinniere ich. „Warum nicht? Wir sollten es auf einen Versuch ankommen lassen. Zu verlieren haben wir nichts.“ „Und wenn wir mit unserem Auftauchen das Ritual stören?“, sagt Tanja etwas aufgeregt. „Das wird schon nicht geschehen. Wenn es so sein sollte werden sie uns einfach nicht in das Tipi lassen“, antworte ich, meine Beine über den Rand des Wandan schwingend.

Schnell schlüpfen wir in unsere Kleidung, schnappen uns die Kameras und verlassen die Jurte. Fahles Mondlicht zwängt sich durch die Stämme der Lärchen und fällt auf den hart getretenen Schnee vor unserer Behausung. Ein paar Hunde huschen durch den nahen Wald. „Das Trommeln scheint aus Gambas Baishin zu kommen“, sage ich. Unsere Schritte knirschen über die gefrorenen Kristalle. Plötzlich vernehmen wir das ferne Heulen eines Wolfes. Wie erstarrt halten wir inne und lauschen. „Unheimlich“, meint Tanja. „So nahe habe ich sie selten gehört. Hoffe nicht das sie es auf die Rentiere abgesehen haben“, raune ich. „Bis ins Camp wagen sie sich bestimmt nicht“, entgegnet Tanja leise. Langsam gehen wir weiter über die gerodete Fläche zwischen Gambas Blockhaus und unserer Jurte. Die leisen Trommelschläge werden lauter, vereinen sich mit dem Bellen der Hunde und dem Heulen der Wölfe zu einer noch nie gehörten, äußerst fremdartigen Klangsymbiose.

Als wir vor der Blockhütte stehen sind wir unsicher ob wir eintreten sollen oder nicht. Der Geruch von Weihrauch dringt aus den zwei kleinen scheibenlosen Fensterlöchern, die links und rechts neben der Tür in die groben Holzstämme eingearbeitet wurden. Das diffuse Licht, welches aus den Luken dringt, schimmert in der hellen Weihrauchwolke bis diese von der Schwärze der Nacht inhaliert wird. Dumpfe Trommelschläge und der undefinierte Gesang des Schamanen klingen nun lauter an unsere Ohren. Ich gebe mir selbst einen Ruck und öffne die grobe, schwere Holztür der Baishin. Eine massive Wolke aus Weihrauch, die den kaum erleuchteten Raum völlig in Besitz genommen hat, schlägt uns entgegen. Die überraschten Blicke von Saintsetseg, Monkoo und Buyantogtoh treffen uns. Mit Zeichensprache frage ich ob wir uns auf das Ruhelager neben ihnen setzen dürfen. Verhaltenes nicken ist die Antwort. Erleichtert treten wir in den finsteren, von Trommelschlägen und fremd klingen Gesang beherrschten Raum und lassen uns lautlos nieder. Wegen der Düsternis im Hütteninneren ist an Fotografieren und filmen nicht zu denken. Schade aber so können wir uns ganz auf das Ritual, welches gerade erst begonnen hat, konzentrieren.

Am Ende des Raumes, vor der Ecke die den Geistern und Göttern geweiht ist, wiegt sich eine Gestalt. Sie ist in einen mit vielen Symbolen verzierten Mantel gehüllt. An seinem Gürtel schimmern kleine Spiegelchen die Dämonen wie ein Schutzschild abhalten sollen und gleichzeitig als Fenster in eine andere Welt dienen. Die Gestalt trägt eine, in der Finsternis nicht zu identifizierende, Kopfbedeckung. „Sieht aus wie ein großer Raubvogel“, flüstere ich zu Tanja gewandt, die mit interessiertem Blick das außergewöhnliche Schauspiel gebannt verfolgt. In der linken Hand hält der Schamane eine große Rahmentrommel mit einem Durchmesser von etwa 50 Zentimeter direkt vor sein Gesicht. Laut meinen Recherchen symbolisieren die kaum zu erkennenden Verzierungen auf dem Rahmen die bildliche Darstellung des Kosmos. Der monotone Gesang und das unaufhörliche Schlagen der Trommel haben den Mann offensichtlich in Ekstase versetzt. Die Trommel, der wichtigste Ausrüstungsgegenstand des Schamanen, dient ihm bei seiner Fahrt ins Jenseits. Saintsetseg, die neben mir sitzt, erklärt mir flüsternd. „Die Töne der Trommel sind für Gamba eine Art Gefährt oder Reittier auf dem er in die andere Welt reist.“ „In die andere Welt?“, flüstere ich. „Ja. In seinem rauschähnlichen Zustand ist er in die jenseitige Welt gereist. Dort tritt er in Verbindung mit Geistern und Geistmächten“, erklärt sie. „Interessant“, raune ich. Im Bann des Singsangs und den rhythmischen Trommelschlägen denke ich über Saintsetsegs Worte nach. Sie meint offensichtlich das kosmologische Weltbild dem der Schamanismus zu Grunde liegt. Die Kosmologie ist die Wissenschaft über den Ursprung des Universums. Es ist eine Wissenschaft die auch über die Entwicklung des Universums nachforscht. Soweit ich weiß ist eine der wichtigsten Kernfragen der Kosmologie die Frage ob unser Universum einen zeitlichen Anfang und Ende besitzt. Oder ob es sogar zeitlich unendlich ist. Da der sibirisch-zentralasiatische Schamanismus wahrscheinlich schon in der Bronzezeit (3. bis 1. Jahrtausend v. Chr.) entstand und Elemente des Schamanismus bereits auf jungpaläolithischen Höhlenmalereien, also 35.000 Jahre vor heute, identifiziert wurde, ist durch das überlieferte und gesammelte Wissen eine Verbindung zum Kosmos für mich denkbar und glaubhaft.

Gebannt sitze ich da und verfolge jede Bewegung des Schamanen. Seine Schwester Buyantogtoh steht auf seiner linken Seite und sein Sohn Sansar auf der rechten Seite direkt hinter ihm. Schwester und Sohn fungieren aus meiner Sicht wie eine Art Zeremoniemeister. Sie beobachten jede Bewegung des sich in Trance befindlichen Mannes. „Warum stehen die beiden so dicht hinter Gamba?“, frage ich Saintsetseg. „Wenn Gambas Geist seinen Körper, also die diesseitige Welt verlässt und in die Unter- oder Oberwelt tritt, um mit den Geistern zu verhandeln oder zu kämpfen, kann es sein, dass er einfach umfällt. Sie achten darauf, dass er sich dabei nicht verletzt.“

„Do dong! Do dong! Do dong!“, ertönt unaufhörlich die Trommel. Der tanzende Schamane krümmt sich, sein Körper biegt sich nach vorne und hinten. Sein Kopf scheint in der Trommel zu verschwinden. „Uhuu! Uhuu!“ ertönt sein Schrei urplötzlich. Auf der anderen Seite des Raumes sitzen vier oder fünf Frauen. Von Zeit zu Zeit sprechen sie aufgeregt. „Wer sind diese Frauen?“, frage ich die Schamanin. Das sind Verwandte von uns. Sie sind gestern für das Ritual extra angereist. Gamba hält diese Zeremonie für sie ab“, erklärt sie. „Und warum sprechen sie manchmal so aufgeregt?“, interessiert es mich. „Sie fragen den Geist mit dem der Schamane gerade in Kontakt getreten ist.“ „Und sie bekommen antworten?“ „Aber ja. Der Geist spricht durch Gambas Mund“, höre ich erstaunt.

In regelmäßigen Abständen schwingt Buyantogtoh und Sansar einen Weihrauchstrauch um das Tanzende Medium. Der Rauch in der Baishin wird immer dichter. „Do dong! Do dong! Do dong!“, ertönt es. Gamba beginnt zu hüpfen. Die an seinem Gewandt befestigten Glöckchen oder Schellen klirren, klirren immer lauter. Dann verstummen sie. Der Schamane bleibt regungslos stehen. Getuschel. Fragen. Aufregung. Stimmen erschallen von den Frauen die anscheinend den Mittler zwischen den Welten viele Fragen stellen. Für uns unverständliche Worte verlassen Gambas Mund.

„Do dong! Do dong! Do dong!“ Das Klirren und Rasseln ertönt wieder. Wird schneller und lauter. Er dreht sich wild um die eigene Achse. Dann geht er zu den blau, weißen und grünen Stoffstreifen die an der Blockhauswand hängen und lehnt seine Stirn dagegen. Nach wenigen Augenblicken verlässt der Schamane die Ecke die den Göttern und Geister gewidmet ist und bleibt wieder wie erstarrt stehen. Ein seltsamer Grunzlaut ist deutlich zu vernehmen. „Der Geist fordert etwas zu trinken“, meint Ultsan. Seine Schwester füllt ein Gläschen Wodka welches der Schamane trinkt. „Do dong! Do dong! Do dong!“, ertönt es wieder und der Tanz geht weiter. Viele der Schamanen versetzen sich mit Hilfe von verschiedenen halluzinogenen Rauschmitteln z.B. Fliegenpilz, aber auch Tabak und Alkohol) in Ekstase. Der Geist Gambas scheint der Landessitte entsprechend Wodka zu lieben. Immer wieder fordert er im Laufe der kommenden Stunden von dem klaren Getränk. Manchmal setzt er sich auch auf den Boden, um eine Zigarette oder einen Pfeife zu rauchen die einer Friedenspfeife der nordamerikanischen Indianer ähnelt.

Unermüdlich tanzt der Mann seinen eigenwilligen Tanz. Unermüdlich schleudern die wissbegierigen Frauen ihre Fragen auf das Medium. Unermüdlich bekommen sie Antwort um Antwort. „Was wollen die Frauen denn wissen?“, flüstere ich Saintsetseg ins Ohr. „Es geht um Gesundheit, die Zukunft, ihre Verwandten und Tiere“, bekomme ich eine für mich unbefriedigende Antwort. Saintsetseg scheint dies zu spüren und erklärt: „Gamba ist in der Lage die Seele eines Verstorbenen in die jenseitige Welt zu begleiten oder physische Krankheiten und psychische Störungen zu behandeln. Auch wenn wir keinen Erfolg bei der Jagd haben kann er darauf Einfluss nehmen.“ „Und wie funktioniert das? Kannst du mir das irgendwie verständlich machen?“ „Wenn ein Mensch krank ist wurde seine Seele von Geistmächten in eine andere Welt entführt. Krankheit und Misserfolg resultiert oftmals auf ein unausgewogenes Verhältnis zwischen unserer Welt und der Unter- oder Oberwelt in der die Geistmächte existieren. Als Mittler zwischen unserer Welt und der der Geister und Dämonen, muss Gamba seinen Körper verlassen, das heißt sein Geist verlässt den Körper, um in die jenseitigen Welten einzudringen. Wenn es ihm gelingt muss er mit den Geistern verhandeln und manchmal auch kämpfen. Auf diese Weise kann er die verirrte Seele zurückholen wodurch der Erkrankte wieder gesundet. Wenn er dabei mit einem besonders bösartigen Geist kämpfen muss kann es für ihn sogar gefährlich werden. Deswegen benötigt ein Schamane ein gute, mehrjährige Ausbildung und muss sehr stark sein. Gamba wurde von seinem alten Meister sechs Jahre ausgebildet. Erst letztes Jahr ist er zum Schamanen geweiht worden.“

„Soweit ich gelesen habe besitzen auch Bäume und Tiere einen Geist. Stimmt das?“ „Oh ja. In alle Dingen kann ein Geist innewohnen und sie sind auf gewissermaßen mit einander verbunden. Der Geist eines Gefäßes zum Beispiel nimmt auf, der eines Messers schneidet und der eines Bären ist mächtig und feindselig“, erklärt sie. Wie gefährlich ein Bär sein kann hat mir Ultsan vor ein paar Wochen erzählt. Es war eine Geschichte die ich nicht mehr vergessen werde. „Ich hätte noch eine Frage“, wende ich mich wieder an die Schamanin. „Ja“, flüstert sie mich mit ihren dunklen Augen freundlich fixierend. „Der Weg zum Schamanen ist bekanntlich sehr unterschiedlich. Die einen werden durch physische oder psychische Auffälligkeit dazu bestimmt. Manchen wird das Amt weitervererbt. Andere bekommen es weil sie gewisse Abnormitäten zeigen und manche dadurch das sie einen Blitzschlag oder schweren Unfall überlebt haben. Die Meisten jedoch werden durch Schutzgeister dazu berufen. Viele der ausgewählten Menschen wehren sich dagegen so heftig, dass sie schwer erkranken. Man nennt das die Schamanenkrankheit die in manchen Fällen für den Betroffenen tödlich endet. Diese Krankheit ist nur heilbar indem sich der Auserwählte seinem Schicksal fügt. Wenn der Schüler wieder gesundet muss er sich äußerst schwierigen Initiationen mit vielen Prüfungen unterziehen. Diesen Prozess nennt man den mystischen Tod dem eine blutige Zerstückelung folgt. Dann wird der Schüler von seinem Meister wiederbelebt. Das klingt für mich alles recht grausam. Weißt du warum und wie Gamba Schamane geworden ist?“ „Ich glaube er wurde durch seine Schutzgeister dazu berufen. Abgesehen davon hatte Gamba Glück. Er erhielt das traditionelle Wissen von einem sehr mächtigen Lehrmeister. Das zeigt schon, dass er während seiner Zeremonien meist die gesamte Nacht mit seiner Zunge am glühenden Metall schleckte ohne sich zu verbrennen.“ „Warum hat er das gemacht?“, raune ich Buyantogtoh beobachtend wie sie gerade einen Weihrauchstrauch um Gambas Körper schwenkt. „Ich weiß nicht. Seine geistige Welt wollte es anscheinend so. Auf jeden Fall war er ein bekannter Mann der auch schon Europäern geholfen hat. Vielleicht hast du ja schon von ihm gehört?“, tuschelt Saintsetseg kaum hörbar während sich Gamba gerade um die eigene Achse dreht und seltsame Töne von sich gibt. „Ist es nicht der Schamane der ein englisches Kind von Autismus geheilt hat?“ „Ja genau. Woher weißt du das?“ „Das hat mir Ultsan vor ein paar Wochen einmal erzählt.“ „Du weißt das Gambas Meister im Alter von 77 Jahren vor wenigen Tagen gestorben ist?“ „Ja Gamba hat es mir gesagt. Es ist während des Tsagaan Sar geschehen.“

1:00 Uhr nachts. „Do dong! Do dong! Do dong!“, erklingen die endlosen, monotonen Trommelschläge. „Tssssssch! Tssssssch! Tssssssch! Chiiiuuuuu! Chiiiuuuu! Chiiiuuuu!“, verlassen Zischlaute Gambas Mund. „Ohhh Ihhaa, oh daraa, oh daraa, oh daraa, oh banaa, oh banaa, uluraa, oh daa, uluraa, oh daa, oh wandaa oh wandaa, oh jandaa, oh jandaa“, singt er in immer ähnlich klingenden Reimen. Dong! Dong! Dong!“, folgen kurze und harte Trommelschläge. Die Frauen fragen und flüstern durcheinander. Der Gesang und Tanz wird schneller und schneller. „Uhuu! Uhuu! Uhuu! Uhuu!“ schreit er plötzlich, dass wir vor Schreck zusammenzucken. Gamba springt wie wild mit beiden Füßen in die Luft. Ich habe bedenken er könnte sich seinen Kopf an der niedrigen Holzdecke stoßen. Dann wirbelt er erneut um die eigene Achse und fällt wie von der Axt gefällt und ohne jegliche Vorwarnung um. In dieser Sekunde wird er von seinem aufmerksamen Sohn Sansar und seiner Schwester Buyantogtoh aufgefangen und sanft auf den Holzboden der Hütte gelegt. Aufgeregtes Sprechen. Weihrauchsträucher werden um den Bewegungslosen Körper gewedelt. Die Luft ist derart mit dem Rauch geschwängert, dass um uns herum alles nur noch schemenhaft erscheint. Tanja hustet. Wegen der Kälte im Raum friere ich seit geraumer Zeit erbärmlich.

„Mit Hilfe seiner tiergestaltigen Hilfsgeister ist seine Freiseele auf Wanderschaft gegangen. Sie hat seinen Körper verlassen. Gamba befindet sich auf einer Seelenreise in der Ober- oder Unterwelt“, erklärt Saintsetseg. Ich bekomme eine Gänsehaut. Das was hier geschieht habe ich noch nie erlebt. Es dauert eine Weile bis in den regungslosen Körper wieder Leben kommt. Langsam erhebt sich das Medium. Das mit Spiegelchen und Symbolen besetzte Gewand raschelt und die daran befestigen Schellen klirren. Gamba scheint verworren zu sein. Die Zeremoniehelfer assistieren ihm in die Höhe. Kaum steht Gamba wieder auf den Beinen wird die Tür der Blockhütte weit geöffnet. Kälte dringt in das Innere. So wie wir verstehen wird einem anwesenden Geist, ob gut oder böse erfahren wir nicht, die Möglichkeit gegeben den Weg in die Nacht zu finden und den Raum zu verlassen. Nur wenige Minuten verstreichen als Buyantogtoh die Tür wieder verschließt.

Dann ertönt wieder der Grunzlaut, so als würde ein Eber laut geben. Sofort wird dem Schamanen ein Gläschen Wodka gereicht. „Do dong! Do dong! Do dong!“, beginnt die Trommel wieder zu schlagen und der Tanz setzt sich fort. „Tssssssch! Tssssssch! Tssssssch! Chiiiuuuuu! Chiiiuuuu! Chiiiuuuu!“, verlassen die Zischlaute Gambas Mund. „Ohhh Ihhaa, oh daraa, oh daraa, oh daraa, oh banaa, oh banaa, uluraa, oh daa, uluraa, oh daa, oh wandaa oh wandaa, oh jandaa, oh jandaa“, singt er.

1:30 Uhr. Ich kann kaum noch sitzen. Durch die unbequeme Haltung schmerzt mir der Rücken und weil der Kanonenofen schon seit Stunden nicht mehr mit Holz befüttert wurde frieren wir. „Ob wir gehen dürfen?“ höre ich Tanjas Stimme. „Keine Ahnung. Ich frage mal Saintsetseg“, sage ich und beuge mich zu ihr herüber, um ihr ins Ohr zu flüstern. „Wie lange wird die Zeremonie noch dauern?“ „Weil wir hier noch den alten Schamanismus betreiben wahrscheinlich bis 6:00 Uhr am Morgen.“ „Oh mein Gott. Das schaffen wir nicht. Kannst du fragen ob wir vorher gehen dürfen?“, frage ich leise. Saintsetseg wendet sich an Buyantogtoh die bedächtig mit dem Kopf nickt. Sogleich erheben wir uns uns und verlassen den mystischen Raum. „Do dong, do dong, do dong“, hören wir die Trommelschläge leiser werden.

„Glaubst du an Schamanismus?“, fragte mich Ultsan vor ein paar Wochen als wir mit ihm und Tsaya in unserer Jurte zusammensaßen. „Der Schamanismus ist zweifelsohne ein komplexes, religiöses und kulturelles Phänomen. Wenn es von einem ausgebildeten Meister durchgeführt wird traue ich ihm zu das er heilen kann. In vielen Bereichen eures Landes wurden Ende der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts die meisten buddhistischen Mönche und Schamanen hingerichtet. Das hat sicherlich eine große Wissenslücke hinterlassen. Einige haben jedoch überlebt und ihr Wissen weitergegeben. Nachdem was du uns erzählt hast ist Gambas Meister einer der Überlebenden. Das bedeutet das nun Gamba das alte Wissen in sich trägt und ein kompetenter Schamane ist. Das ist gut für euer Volk, denn in der heutigen Welt gibt es viele Möchtegernschamanen und Scharlatane die damit nur Geld machen wollen“, antwortete ich. „Da hast du Recht. Viele der heutigen Schamanen besitzen keine Macht mehr. Du musst wissen, dass der alte Schamanismus für mich keinen Sache des Glaubens ist sondern Realität.

Mein Vater hat mir von einem mächtigen Schamanen erzählt der über die Grenze nach Russland ging um in der Region Tuwa Rentiere stahl. Mit einem Freund trieb er sie in die Mongolei, um seinen Stamm mit Fleisch zu versorgen. Der Schamane der dort lebenden Tuwa sendete dem Dieb einen schwarzen Fluch hinterher. Der Dieb spürte es und rannte so schnell als nur möglich in sein Tipi und zog sich zur Abwehr sein Schamanenmantel über. Sofort versetzte er sich in Trance, reiste auf den Schlägen seiner Trommel ins Jenseits, um in der Unter- oder Oberwelt den gesendeten tödlich gefährlichen Geist abzuwehren. Er tanzte die gesamte Nacht und kämpfte mit seinem Widersacher. Letztendlich gewann er und rettete sein Leben. Sein Begleiter, der kein Schmanane war, starb noch in der selben Nacht.

Die alte Schamanen haben oft miteinander gekämpft um sich gegenseitig zu töten. Sie haben sich in Tiere, einen Wolf, einen Bären, oder einen Hund verwandelt und fochten auf geistiger Ebene miteinander. Meist ist dabei einer von beiden gestorben“, erzählte Ultsan. „Warum haben sie miteinander gekämpft“, wunderte es mich. „Es geht und ging um die Vorherrschaft. Wenn es in einer Region zu viele Schamanen gab entstanden solche Machtkämpfe. Manchmal ist nicht genügend Raum für zwei mächtige Männer vorhanden.“ „Gibt es gute und schlechte Schamanen?“, interessierte es mich. „Oh ja. In Tsagaan Nuur gab es einen ganz bekannten bösen Schamanen. Mann nannte ihn den weißen Schamanen. Jeder hatte Angst vor ihm und sein Name ist noch heute in aller Munde. Er missbrauchte seine Macht. Wenn er etwas haben wollte deutete er einfach darauf und wenn er es nicht bekam schickte er einen schwarzen Fluch, woran die Menschen starben.“ „Das heißt er deutete auf ein Pferd und wenn du es ihm nicht gegeben hast warst du des Todes?“, fragte ich und spürte wie mir ein Schaudern über den Rücken lief. „Genau so war es. Wenn man ihn besuchen wollte verwandelte er sich in einen Hund und rannte davon. Er mied den Kontakt zur Außenwelt. Es war ein wirklich böser Mensch der dafür bezahlen musste.“ „Wie meinst du das?“ „Die geistige Welt rottete seine gesamte Familie aus. Es gibt keinen einzigen Überlebenden. Alle, bis auf eine Adoptivtochter die mit ihm nicht blutsverwandt war, sind unter mysteriösen Umständen gestorben.

Es gab aber auch einen sehr guten Schamanen der bis vor kurzem in Tsagaan Nuur lebte. Er hatte einen Toten wieder zum Leben erweckt.“ „Wie hat er das gemacht?“ „Man brachte einen jungen Mann zu ihm dessen Seele bereits ins Jenseits gewandert war. Der Schamane tanzte die gesamte Nacht und kämpfte mit den Dämonen und Geistern bis zur völligen Erschöpfung. Dann zog er dem Mann einen langen Wurm aus seinem Nabel ohne das eine Verletzung oder Schnittwunde zu sehen war. Der Tote schlug die Augen auf und begann zu atmen während die Lebensgeister des Schamanen wichen und er noch neben dem Wiedererwachten starb. Es war ein alter Mann der mit den Geistern einen Handel schloss. Sein Leben gegen das des jungen Mannes.“

Auf unseren Wandan liegend denke über das heute Erlebte und die teils gruseligen Geschichten von Ultsan nach. „Was für eine anstrengende Nacht“, murmelt Tanja. „Ich bin völlig gerädert. Kommt mir so vor als wäre ich ein Stück mit Gamba in die andere Welt gereist“, sage ich. „Bin auch so fertig. Eigenartig. Ob das normal ist? Ob die anderen auch so kaputt sind? Oder ergeht es nur uns so weil wir so ein Ritual nicht gewohnt sind?“, fragt Tanja. „Weiß nicht“, antworte ich gähnend. „Do dong! Do dong! Do dong!“, dringt die Schamanentrommel gedämpft durch die Filzwand der Jurte. Ich lausche dem monotonen Schlägen bis ich in einen tiefen Schlaf falle.

(Es ist eine Herausforderung sachlich, fachlich und trotzdem emotional über die verschiedenen Ereignisse zu berichten. Natürlich sind unsere Mongolischkenntnisse nicht ausreichend um tiefgehende Gespräche über den Schamanismus zu führen. Viele der Informationen konnte ich vor oder nach dem Ritual recherchieren.

Die Gespräche mit Ultsan und Saintsetseg haben wir uns teils von Tsaya und auch von Saraa übersetzen lassen. Auch führte ich einige klärende Telefonate über den Schamanismus. Auf diese Weise war es mir möglich die eine oder andere Wissenslücke zu füllen und sie in den Text einfließen zu lassen.)

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