Weiter als wir dachten!
N 50°17'51.8'' E 057°09'17.2Tag: 31
Sonnenaufgang:
05:00 Uhr
Sonnenuntergang:
21:25 Uhr
Luftlinie:
69.60 Km
Tageskilometer:
76.19 Km
Gesamtkilometer:
7655.08 Km
Bodenbeschaffenheit:
Asphalt – schlecht
Temperatur – Tag (Maximum):
44 °C
Temperatur – Tag (Minimum):
35 °C
Breitengrad:
50°17’51.8“
Längengrad:
057°09’17.2
Maximale Höhe:
402 m über dem Meer
Aufbruchzeit:
06.10 Uhr
Ankunftszeit:
19.15 Uhr
Durchschnittsgeschwindigkeit:
11.07 Km/h
Im laufe der Tage haben wir festgestellt, dass der Wind tatsächlich etwas mit Wärme und Kälte zu tun hat. Meist flaut er nachts ab. Am kommenden Morgen beginnt er mit der an Kraft gewinnenden Sonne und nimmt mit den steigenden Tagestemperaturen dementsprechend zu. Das ist der Grund warum wir heute schon um 5:00 Uhr aufstehen. Tatsächlich ist es nahezu windstill. Um 6:10 Uhr sitzen wir im Sattel und siehe da, wir radeln ohne jeglichen Wind dahin. Um 7:00 Uhr bläst es uns schon wieder an und um 8:00 Uhr glauben wir erneut gegen eine bald undurchdringliche Wand fahren zu müssen. Wieder erreichen wir eine der wenigen aber wichtigen Steppenraststätten. Wir bekommen unsere Bortsch, ein paar Scheiben des angebotenen Weißbrotes und eine Tasse Tee. “Bleibt doch über Nacht. Hier könnt ihr euch ausruhen”, lädt uns der Besitzer ein. “Wir wollen morgen in Aktöbe sein”, lehnen wir dankend ab. “Ach was Aktöbe. Der Weg dort hin ist anstrengend und sehr heiß. Hier ist es gut. Schaut! Dort drüben steht meine Yurte. Da könnt ihr schlafen und dann geht ihr morgen gestärkt weiter”, möchte er mich überzeugen. “Ist ein tolles Angebot aber wir möchten trotzdem weiter”, entgegne ich freundlich. Er öffnet sich schon um kurz nach 8:00 Uhr am Morgen die dritte Flasche Bier. Dann kommandiert er seine fleißige Frau herum, die für die Lastwagenfahrer kocht, sie bedient, das Geschirr abräumt und auch noch kassiert. Sie scheint eine freundliche Seele zu sein und lacht uns gutmütig an. “Komm lass dir dieses Angebot nicht entgehen. Der Fluss hier ist sehr fischreich. Schau ihn dir wenigstens an. Ich fahre dich mit meinem Schlauchboot nur für 10 Minuten herum. Wir werden in der kurzen Zeit bestimmt einen Fisch fangen. Dann kannst du noch immer entscheiden ob ihr bleibt”, möchte der Besitzer mich erneut zum Bleiben überzeugen. “Komm, fotografier doch wenigstens mal meine Yurte”, fordert er mich auf. Als ich dann die Kamera schnappe, um das Innere der Yurte festzuhalten, ist er des sicheren Glaubens mich überzeugt zu haben und richtet zwischenzeitlich sein Schlauchboot her. Das Innere der Yurte ist wohnlich, nur liegen überall die Reste eines Saufgelages herum. Ich trete wieder in die pralle Sonne als der Mann mir zuwinkt in sein Boot zu steigen. Vor meinem inneren Auge läuft plötzlich ein Film ab. Ich kann mich selbst sehen wie ich in das Bötchen steige und aus den 10 Minuten ein halber Tag wird. Ich kann sehen wie ich von der Sonne zusammen gebraten werde während wir keinen einzigen Fisch fangen. Um den Frust des glücklosen Anglers zu übergehen nimmt der Mann eine Flasche Wodka aus seinem Leinensack und fordert mich zum Trinken auf. Ablehnen ist in diesem Fall unmöglich. Aus Freundlichkeit trinke ich einen Schluck, dann noch einen und noch einen, bis die Flasche leer ist und wir beide betrunken sind. Tanja wartet in der Zwischenzeit in der Raststätte auf mich. Da es mir nicht mehr gut geht bleiben wir über Nacht. Am nächsten Tag habe ich einen Kader. Am Nachmittag packt der Besitzer wieder seinen Wodka aus und animiert mich gegen meine Kopfschmerzen etwas zu tun. Ich trinke einen Schluck, dann noch einen usw. Die Flasche ist wieder leer, worauf die zweite Flasche geköpft wird. Wieder kommen wir am nächsten Tag nicht weiter. Nach einem halben Jahr habe ich einen Bart der mir bis zu den Brustwarzen gewachsen ist. Tanja ist mittlerweile heimgeflogen, die Räder sind geklaut und ich bin Alkoholiker. Wodka, den ich mittlerweile gerne haben möchte, gibt es nicht mehr gratis. Ich sehe wie ich als gebrochener Mann auf einer heruntergekommenen Raststätte in der kasachischen Steppe mein Geld mit dem flicken von großen alten Lastwagenreifen verdiene, nur um mir den Wodka leisten zu können. Welch Aussichten? Oh Schreck! “Na komm schon! Nur 10 Minuten. Deine Frau soll sich einstweilen im Schatten ausruhen!”, ruft er und als ich bemerke wie er anstatt den Leinensack eine große Plastiktüte mit verdächtigem Inhalt in das Schlauchboot legt, sage ich: “Äh, vielen Dank. Aber die Sonne wird immer stärker. Wir müssen wirklich weiter!” Der Mann steigt sichtlich genervt aus seinem Gummiboot und kommt auf mich zu. “Na gut. Dann wünsche ich euch eine gute Fahrt. Aber ich gebe dir einen Tipp. Egal wo ihr seid. Einer von euch muss grundsätzlich eure Räder im Blick haben. Selbst wenn ihr esst. Vergiss das nicht. Einer muss immer in Richtung der Fahrräder sitzen. Ansonsten sind sie weg”, rät er und die gerade durchlebte Geschichte bekommt plötzlich noch mehr Realität als ich glauben kann.
Die Hügel werden länger und höher, ziehen sich jetzt teilweise mit 12 % Steigung bis auf über 400 Meter dahin. Ein Fahrer bremst seinen Lastwagen ab, so dass er neben uns herrollt. Durch das offene Seitenfenster ruft er uns zu. “Was macht ihr denn da? Das ist doch viel zu heiß da draußen! Und die Berge! Ladet eure Räder auf die Ladefläche. Ich fahre euch in die Stadt!” “Nein danke! Wir wollen es mit unserer eigenen Muskelkraft schaffen!”, antworten wir. Er schüttelt den Kopf. “Kommt schon! Das kann doch nicht euer Ernst sein! Ich nehme euch mit!” “Nein danke”, antworten wir erneut, worauf er den zweiten Gang einlegt und kopfschüttelnd davonfährt.
“Dort drüben ist ein geeigneter Campplatz!”, rufe ich Tanja zu als ich eine schöne Baumreihe ausmache die Schatten verspricht. “Ich weiß nicht. Lass uns noch ein Stück weiterfahren!”, antwortet sie. Obwohl ich den Platz für gut befinde und wir in der Hügellandschaft mit 40 Kilometer eigentlich unser Tagespensum erreicht haben, gebe ich nach und trete mein Ross weiter den Berg hinauf. Oben angekommen fällt unser Blick auf eine große Stadt die in einem weiten Talkessel liegt. “Das ist Aktöbe!”, rufe ich überrascht die Stadt nun doch so früh zu sehen. “Was meinst du? Sollten wir noch heute bis zur Stadt fahren?”, frage ich mit neuer Energie geladen. “Finde ich eine gute Idee”, antwortet Tanja vom Anblick der großen Siedlung ebenfalls motiviert. An einer heruntergekommenen Bushaltestelle stoppen wir, um uns mit einer Vesper für die letzten 25 Kilometer zu stärken. Da bis auf die Rückseite alle Wände fehlen und der Wind mit Stärke Vier uns den Staub der Straße um die Ohren bläst, befestigen wir auf der Windseite eine Folie. “So jetzt können wir staubfrei essen”, sage ich zufrieden. Die Zargesbox als Tisch nutzend, legen wir unsere Tomaten, die Mandarinen, das frische Weißbrot, die Majonäse, den Streichkäse und die Dose Fisch darauf. Heißhungrig möchte ich gerade in mein Brot beißen als ein Pkw angebraust kommt, eine Vollbremsung hinlegt und uns und das Essen mit einer Staublawine einnebelt. Zwei junge Männer steigen aus und begrüßen uns euphorisch. “Hast du einen Schluck Wasser für mich?”, fragt mich der eine “Äh Wasser?” “Ja Wasser”, wiederholt er. “Entschuldige, alles was wir haben müssen wir mit unserer Muskelkraft schleppen. Wir brauchen jeden Tropfen davon. Woher kommt ihr eigentlich?”, erkläre und frag ich. “Ach wir kommen aus dem Dorf dort unten”, antwortet er und zeigt auf eine Ansiedlung nur etwas zwei Kilometer weg von hier. “Habt ihr da Wasser?” “Klar.” “Na dann wäre es sehr nett wenn du es dir von dort besorgst”, erkläre ich freundlich, worauf er verständnisvoll mit dem Kopf nickt. Nachdem wir wieder alle Fragen beantwortet haben steigen sie in ihren Audi und brausen, eine Staubfontäne zurücklassend, davon. “Puh”, seufze ich und beiße endlich in mein Brot.
“Riechst du das auch?”, frage ich Augenblicke später. “Ja, riecht nach menschlichen Ausscheidungen.” “Stimmt. Man merkt es erst durch den Windschatten den wir uns gebaut haben. Ich frage mich warum Menschen so häufig Bushaltestellen als Toilette nutzen? Wir hätten uns einen anderen Platz für unser Mahl suchen sollen”, stelle ich erneut seufzend fest.
Gibt es wirklich Engel?
Um 17:00 Uhr nehmen wir die letzten Kilometer in Angriff und treten gegen einen heftigen Ostwind. Als wir den Stadtrand erreichen stoppen wir für einige Augenblicke, um uns zu orientieren. “Woher kommen sie? Wohin wollen sie? Kann ich ihnen helfen?”, fragt ein fein gekleideter Herr in polierten Schuhen. “Ah sie suchen ein Hotel? Da vorne. Sehen sie? Dort ist eines. Aber wenn sie möchten fahre ich voraus und zeige ihnen den Weg”, bietet er an. Tanja und ich können unser Glück kaum glauben. Hier geschieht genau das Gleiche wie in der Stadt Uralsk als uns die Zwillinge Maxim und Roman ebenfalls zu einer Unterkunft brachten. “Schon eigenwillig. Man könnte in der Tat glauben als würde jemand genau den Moment abpassen bis wir an einen bestimmten Punkt ankommen, nur um uns helfen zu können. Ob es wirklich Engel gibt die uns den Weg bereiten?”, geht es mir durch den Kopf als wir dem Audi A6 durch die Großstadt folgen.
Wir werden mit Hupen und Rufen empfangen. Manche Autofahrer drehen die Scheibe herunter, um uns ihre Fragen zu stellen. Ihnen ist es egal ob sie dabei den Verkehr blockieren. Selbst die Polizei winkt uns zu. Wir folgen dem teuren Auto bis wir mitten im Zentrum vor einem großen und echten Hotelblock zum stehen kommen. “Das ist ihr Hotel”, sagt der Kasache, schüttelt mir die Hand und steigt wieder in seinen Audi. “Echt verblüffend”, meint Tanja lächelnd. Wir lehnen unsere Roadtrains gegen die Hotelmauer als wir von einem Deutschen angesprochen werden. “Ein Deutscher! Ist das schön wieder einen Landsmann zu treffen”, freue ich mich. “Ich heiße Benn. Woher kommt ihr denn?” Wir erklären unsere Reiseroute. “Na so etwas habe ich hier noch nicht getroffen. Bin schon seit fünf Jahren hier aber das ist ja echt verrückt”, meint er. “Fünf Jahre?” “Ja ich arbeite hier für eine große Firma als Geologe. Bin einen Monat da und einen Monat Zuhause. Kann ich euch helfen?” “Wir sind heute seit 13 Stunden unterwegs und haben wegen dem Wahnsinns Wind und den Bergen nur 76 Kilometer geschafft. Du könntest uns beim Tragen der Ausrüstung behilflich sein”, antworte ich. “Aber gerne”, meint der nette Geologe und hilft uns beim Einchecken und Tragen der gesamten Ausrüstung. Wir dürfen unsere Räder in den Konferenzraum stellen und bekommen für 11.000 Tenge (ca. 60 ?) ein Delux-Apartment. Schlaf- und Arbeitszimmer mit Klimaanlage inkl. Frühstück und Abendessen. Obwohl das für uns als Langzeitreisende viel Geld ist sind wir mit dem Preis sehr zufrieden, denn das Preisleistungsverhältnis passt ausnahmsweise.
“Mit was für einem GPS arbeitest Du?”, möchte Benn während dessen wissen. Ich erkläre genau ab Aktöbe keine Karten mehr im GPS geladen zu haben. “Das habe ich in der Hektik der Vorbereitung glatt vergessen”, meine ich. “Na macht doch nichts. Ich besitze alle Karten der Region. Wenn du möchtest spiele ich sie dir gleich jetzt auf dein Gerät.” “ist nicht dein Ernst? Ist ja unfassbar. Dich schickt der Himmel”, antworte ich erneut verblüfft. “Wir müssen es aber gleich machen weil ich in einer Stunde eine Verabredung habe und morgen zum Klettern in das Altaigebirge fliege”, antwortet er, weshalb uns das perfekte Timing der uns entgegengebrachten Hilfe fast sprachlos werden lässt.
Der Direktor
Wir unterhalten uns mit Benn noch eine Weile und bedauern sehr uns mit dem interessanten Mann die nächsten Tage nicht austauschen zu können. Um 21:00 Uhr sitzen wir bereits frisch geduscht im Hotelrestaurant und stürzen uns ein kühles Bier in die Kehle. Noch ehe die Flüssigkeit im Magen aufschlägt ist es bereits verdampft. “Das Bier ist vom Direktor des Hotels”, sagt die Bedienung und stellt uns ein Zweites auf den Tisch. “Vom Direktor?”, fragen wir wie aus einem Munde. “Ja”, sagt sie und deutet auf einen Tisch hinter uns. Ein Mann mit weißem Haar winkt uns freundlich zu. Wir winken dankend zurück. Dann lädt er uns zu sich an den Tisch ein. Obwohl wir nach einem harten Tag eigentlich etwas ausspannen wollen nehmen wir sein Angebot an. Plötzlich steht der Mann auf. “Darf ich?”, sagt er Tanja zum Tanz auffordernd. “Gerne”, antwortet sie und muss nun mit dem Direktor tanzen. “Bin froh keine Frau zu sein”, geht es mir durch den Kopf, denn meine Oberschenkel sind todmüde. “Darf ich?”, erschreckt mich eine Frauenstimme hinter mir. Ich drehe mich um und sehe eine etwa 35 Jahre junge Asiatin mit dunklen Haaren. “Gerne”, sage ich und versuche mir die Muskelschmerzen nicht anmerken zu lassen. Es stellt sich heraus, dass die Dame die Ärztin des Hotels ist. Nach einem Musiktitel werden wir von den beiden Tänzern wieder an den Tisch geführt. Der Direktor scheint schon etwas getrunken zu haben, denn er greift Tanja unaufhörlich an den Arm. Dann muss sie erneut tanzen. Diesmal aber auf Körperkontakt. Tanja schiebt den Direktor dezent von sich, um den nötigen Abstand zu bewahren. Er lacht. “Ach wie schön sind die kasachischen Frauen”, sagt er auf sein Personal deutend. “Seit ihr eigentlich verheiratet?” “Ja, wir sind schon seit zwanzig Jahren ein Paar”, antworte ich und lege die beiden Zeigefinger nebeneinander, um meine Aussage zu bekräftigen. Der Direktor versteht dies falsch, formt mit dem linken Zeigefinger und Daumen einen Kreise, um mit der rechten flachen Hand darauf zu schlagen. “20 Jahre Sex!”, lacht er. “Ach sind die kasachischen Frauen schön”, meint er wieder und fragt ob wir Kinder haben. “Was keine Kinder?”, meint er und sieht mich an als ob mit mir etwas nicht stimmt. Dann bestellt er Wodka. Wir trinken das erste Glas. Kaum ist der Stoff unsere ausgedörrten Kehlen hinunter gebrannt steht der Zweite auf dem Tisch. “Ich kann nicht. Wir hatten einen harten Radtag”, versucht sich Tanja zu wehren. “Ach was”, meint der Direktor und fordert uns auf auch den Zweiten zu trinken. Artig tun wir das als schon der Dritte auf dem Tisch landet. Mittlerweile sitzen Gott sei Dank die Tochter und der Enkel des Direktors mit uns am Tisch. Die Frau spricht im Gegensatz zu ihrem Papa sehr gut Englisch und Deutsch. Tanja fragt die Frau diskret wie sich aus der Affäre ziehen kann ohne ihren Vater zu beleidigen. Die Antwort bleibt sie ihr aber schuldig und deswegen müssen wir auch den dritten Wodka trinken. Glaubhaft können wir dem Direktor jetzt vermitteln das wir todmüde sind und ins Bett müssen. Er akzeptiert, wünscht uns eine angenehme Nacht und verschwindet mit seiner Tochter und seinem Enkel. Am nächsten Morgen treffen wir ihn wieder. Diesmal scheint er uns kaum zu kennen. Nur flüchtig begrüßt er uns und geht ohne uns die Hand zu schütteln vorbei.
Wir genießen die Tage in dem Hotel. Nutzen die Zeit für unsere Schreibarbeit, dem Sortieren der Bilder und waschen der Ausrüstung. Es verlangt mehrere Vollbäder, um den schweren Schmutz von unseren Körpern zu schruppen und dauert Tage bis sich unsere Körper regenerieren.