Stadtbrände und Lepra
N 60°23’55.0’’ E 005°19’12.7’’Tag: 10
Land:
Norwegen
Ort:
Bergen
Sonnenaufgang:
04:05 Uhr
Sonnenuntergang:
23:10 Uhr
Temperatur Tag max:
20°
Temperatur Tag min:
14°
Temperatur Nacht:
12°
(Fotos zum Tagebucheintrag finden Sie am Ende des Textes.)
„Das ist ja nicht zu fassen!“, fluche ich, als bereits nach 20 Minuten die Datenverbindung meines Laptops abbricht. „Was ist denn los?“, fragt Tanja. „Die SIM-Karte, die du gestern für 28,- € gekauft hast, ist verbraucht.“ „Was? Das kann doch nicht sein?“ „Denke, unser Laptop hat ein umfangreiches Update gefahren und somit die paar Gigabyte, die du erworben hast, weggelutscht.“ „Na das war ein kurzer und teurer Spaß“, meint Tanja. „Ja, vor allem können wir jetzt keine regelmäßigen Updates unserer Reise auf die Homepage hochladen“, überlege ich. „Dann benötigen wir ab jetzt also immer einen Ort mit öffentlichen WLAN, um ins Netz zu kommen?“ „So ist es“, antworte ich und klappe meinen Laptop wieder zu.
Wir nutzen die gewonnene Zeit, um das weltberühmte historische Hafenviertel Bryggen (von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt) zu erkunden. Bereits im Jahre 1360 von niederdeutschen Kaufleute als Handelsniederlassung errichtet, könnte man meinen die Zeit sei hier stehen geblieben. Hinter den frisch gestrichenen Speicherhäusern, an der Hafenpromenade, schreiten wir durch schmale, lichtarme Gassen. Als hätten wir die Tür zur Vergangenheit durchschritten, fühlen wir uns augenblicklich um Jahrhunderte zurückversetzt. „Schau mal die wunderschönen Holzhäuser“, äußert sich Tanja begeistert. „Und überall die hübschen Läden und Stuben“, antworte ich meine Kamera ans Auge nehmend. Heute kaum zu glauben, dass hier die deutschen Kaufleute 400 Jahre lang den Handel kontrollierten, für die Sicherheit ihrer Handelsflotten sorgten, politisch aktiv waren und die Kultur prägten. Kein Wunder, da die deutschen Kaufleute, Seefahrer und Handwerker zur Blütezeit ein Viertel der Einwohner Bergens ausmachten. „Kann man sich gar nicht vorstellen, dass die Holzhäuser hier bald 700 Jahre alt sein sollen? Irgendwie wirken einige von ihnen als hätte man sie erst vor ein paar Jahren errichtet“, wundert sich Tanja. „Als dein persönlicher Reiseleiter kann ich dir sagen, dass im hinteren Teil des Stadtviertels tatsächlich noch ein paar Keller aus dem 15. und 16. Jahrhundert stammen, die Häuser aber gar nicht so alt sind“, antworte ich grinsend. „Lass raus, was ist geschehen? Ich tippe ein Feuer hatte mal das Viertel niedergebrannt?“ „Bingo, im Jahre 1702 wütete hier ein Großbrand und vernichtete nahezu alles. Nach dem Brand baute man jedoch Bryggen wieder im bewährten, alten Stil auf. Soweit ich informiert bin, gab es im Jahr 1855 und am 16. Januar 1916 weitere schlimme Brände, die immer wieder das noch aus vielen Holzhäusern bestehende Stadtviertel vernichteten“, erkläre ich. „Eigenartig, warum hat es denn hier so oft gebrannt?“ wundert sich Tanja. „Das lag offensichtlich daran, dass die Abstände zwischen den einzelnen Häusern sehr gering waren. Brach in einem Haus ein Feuer aus, griff es schnell auf die anderen Wohn- und Arbeitshäuser über. Um solche Katastrophen zu vermeiden, gab es in den Häusern keine Öfen.“ „Demnach mussten die Menschen damals während der Wintermonate sicherlich furchtbar frieren“, stellt Tanja fest. „Sicherlich, aber in den hinteren Häusern, die übrigens aus Stein errichtet waren, gab es beheizte Räume. Die dienten zu jener Zeit als Gerichts- und Versammlungsräume. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen vernichtete im Jahre 1955 ein weiterer schlimmer Brand das inzwischen völlig heruntergekommene Viertel, in dem eher sozial schwächer gestellte Menschen lebten. Einige Stadtväter freuten sich darüber, denn es sollte ein neues, modernes Stadtgebiet entstehen. Zum Glück entschied man sich anders und baute das Hafenviertel Bryggen 1965 zum x-ten Mal wieder im alten Stil auf, sodass das Viertel auch heute noch so aussieht wie im 12. Jahrhundert.“ „Unfassbar was die Menschen hier ertragen mussten. Jetzt kann ich auch verstehen, warum die Häuser zwar alt wirken, aber nicht wirklich alt sind“, sagt Tanja, die knarrenden Stufen in ein Obergeschoss hinaufzusteigen, welches früher einmal als Arbeitsraum, Speiseraum oder Schlafkammer genutzt wurde. „In der Tat“, antworte ich schnaufend, die steilen Stufen ebenfalls erklimmend. „Die Menschen mussten früher oftmals enorm leiden. Es gab keinen Strom, sicherlich nicht immer die beste Nahrung, mangelhafte hygienische Verhältnisse und kaum Medizin, so wie es im Mittelalter überall in Europa war. Sicherlich auch ein Grund warum Norwegen noch im 19. Jahrhundert ganz massiv unter der Lepra litt.“ „Was? Lepra? Du machst doch Scherze?“, ist Tanja entsetzt. „Nein, nein, keine Scherze. Das älteste Lepra-Spital eröffnete hier bereits im 15. Jahrhundert und zwischen 1850 und 1900 war Bergen das Seuchenzentrum Europas. In der Stadt gab es gleich drei Lepra-Krankenhäuser. Das Lepra heute kein Problem mehr ist hat die Welt dem norwegischen Arzt Gerhard Henrik Armauer Hansen zu verdanken. Er entdeckte 1873 den Erreger“, erzähle ich. „Na, mit dem Hintergrundwissen haben diese Häuser und das nette Bryggen eine ganz andere Ausstrahlung.“ „Absolut, wenn man sich nur ein bisschen in diese Energie hineinfühlt hört man regelrecht die Stimmen, das Prasseln der gefräßigen Flammen, die Schreie aber auch das Pulsieren des Lebens. Ein Ort der Geschichte, der unglaublich viel zu erzählen hat, indem heute noch 61 Häuser unter Denkmalschutz stehen, indem Museen die Vergangenheit für die Nachwelt konserviert haben, ein Ort der heute zu den bekanntesten Mittelaltervierteln Norwegens zählt und wieder ein geschäftiger, hochlebendiger Teil der Stadt Bergen geworden ist. Am liebsten würde ich hier noch ein wenig herumstromern, aber wenn wir noch hoch zu den Trollen möchten, sollten wir uns jetzt ein wenig sputen.“ „Die Trolle über der Stadt? Ja die Wanderung würde ich vor unserer Weiterfahrt gerne unternehmen“, sagt Tanja, worauf wir Bryggen hinter uns lassen und uns auf den Weg in die Berge machen…