Winteranfang
N 51°41'43.3'' E 046°44'07.5''Der heutige Morgen empfängt uns mit tief liegendem und dichtem Nebel. Ein plötzlicher Temperatursturz hat die Quecksilbersäule auf zwei Grad über Null fallen lassen. Kein guter Tag um sich in den Sattel zu schwingen. Trotzdem müssen wir weiter. Noch liegen ca. 400 Kilometer vor uns bis wir die Stadt Samara erreichen. Ein plötzlicher Wintereinbruch kann unsere Reise noch immer stoppen. Wie gewohnt tragen wir die Räder, Anhänger und Ausrüstung aus dem zweiten Stock ins Erdgeschoss und dann über die Treppe der Gastiniza nach draußen. Im Windschutz der Häuser laden wir alles auf die riese und müller und brechen auf. Ein unfreundlicher Verkehrspolizist schickt uns in die falsche Richtung. Nach drei Kilometer sind wir wieder bei unserer Gastiniza und finden die richtige Straße. Wegen der schlechten Sicht tragen wir unsere Signaljacken und schalten die Beleuchtung unserer Bikes ein. Außerhalb der Stadt saugt uns der Nebel regelrecht in sich auf. Leichter Wind bläst uns aus nördlicher Richtung entgegen. Der Verkehr hat wieder stark zugenommen. Lastwägen und Autos rauschen vorbei. Wir vermissen schon nach wenigen Kilometern die Einsamkeit der abgelegenen Wolgaebene.
Mein Blick trifft die Augen eines spindeldürren, sehr hungrigen Hundes. Er hinkt durch den Straßengraben und sieht mich ergreifend traurig an. “Tanja halt!”, rufe ich und stoppe meinen kleinen Roadtrain. “Was ist?” “Da ist ein Hund. Ich gebe ihm unser altes Brot”, antworte ich und laufe zurück. Als die ängstliche Kreatur mich ankommen sieht nimmt sie erstmal Reißaus. “Komm zurück. Da hast du etwas zu Fressen!”, rufe ich und werfe ihm einen Kanten Brot hin. Er kommt zurück und verschlingt ihn heißhungrig. Weil er wegen seinen offensichtlich schlechten Zähnen Schwierigkeiten mit dem Kauen hat stückle ich den restlichen alten Leib und werfe ihm nun die Häppchen auf die Erde. “Denis! Komm! Ich friere furchtbar!”, ruft Tanja weswegen ich das bedauernswerte Wesen, welches den kommenden Winter wohl kaum überleben wird, zurück lasse.
Tanja bibbert vor Kälte. Bevor wir weiterfahren stülpt sie ihre Überschuhe über die Hanwagschuhe. Somit sind zumindest die Füße vor dem Erfrieren geschützt. Wir tragen ein langes und ein kurzes Unterhemd, einen Pullover, ein Radshirt und eine Windjacke. Trotzdem frieren wir. Während der nächsten Kilometer schlafen mir die Zehen ein. Obwohl ich sie unentwegt bewege spüre ich sie kaum noch. Die Finger werden in den Handschuhen ebenfalls taub. Wieder stoppen wir, um uns noch eine Fliesjacke, eine Art Motorradmütze, die bis auf die Augen und die Nase alles verdeckt, und eine Fliesmütze anzuziehen. Jetzt haben wir fast alle Register gezogen, um uns vor der Frostigkeit zu schützen.
Wer hätte gedacht das Temperaturen um die Null Grad so kalt sein können? Es muss an dem Nebel liegen. Obwohl es nicht direkt regnet sind wir durchnässt. Durch den Fahrtwind entsteht zusätzliche Verdunstungskälte die sich von außen nach innen in die Kleidung frisst. Durch die Anstrengung schwitzten wir hingegen weswegen die Kleidung auch von innen nach außen nass wird. Ein eigenartiger Kreislauf, verursacht durch ein eigenartiges Wetter.
Raureif hängt an den Bäumen. Die Felder sind ebenfalls mit einer grauweißen dünnen Eisschicht überzogen. An einer halbverfallenen Bushaltestelle halten wir an. Ich verschlinge eine Tafelschokolade während Tanja hin und herläuft, um trotz der Überschuhe wieder Gefühl in ihre Füße zu bekommen. Es ist trostlos. Richtiges Novemberwetter und obgleich es 12:00 Mittags ist könnte man glauben der Abend naht. Jetzt zählt nur noch das Ankommen. Von Vergnügen kann keine Rede mehr sein. Wir sind wortkarg. Es gibt auch nicht viel zu reden. Am Straßenrand stehen vereinzelte alte Ladas. Ein provisorisches Holzgestell ist vor jedem Fahrzeug errichtet. Trockenfisch, durch eine Plastikfolie vor der feuchtkalten Luft geschützt, baumelt daran. Die Verkäufer sitzen in dicken Kleidern gehüllt in ihren Autos und warten auf Kunden. Tatsächlich hält ab und an ein Vorbeifahrender und kauft einen Fisch. Wir radeln weiter. Heben die Hand zum Gruß. Hinter den beschlagenen Scheiben wird unser Winken erwidert.
Wir erreichen die kleine Stadt Marx die nach dem deutschen Philosophen und Nationalökonom, Journalist und Publizist Karl Heinrich Marx (1818-1883) benannt wurde. Marx war der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus und theoretischer Kopf einer sozialistischen Bewegung. Er und sein Freund Friedrich Engels verfassten philosophische, politische und ökonomische Werke, die vor allem im 20. Jahrhundert weltweit enormen Einfluss auf das politische Geschehen hatten. Gerne würde ich der Stadt einen Besuch abstatten, da wir aber müde, hungrig und aus gefroren sind, suchen wir uns am Rande der Stadt eine von Moslems betriebene Gastiniza. Sobald unsere Räder auf dem Vorbau verstaut sind verziehen wir uns in die einfache Kneipe und verschlingen heißhungrig eine Bortsch.