Weiter, weiter, weiter, nur nicht aufgeben!
N 47°06'47.6'' E 039°25'24.9''Auch heute säumt kein Wölkchen den traumhaft blauen Himmel. Gut gelaunt rollen wir unsere Räder aus dem Zimmer und tragen sie aus dem ersten Stock in den Hof. Leichter Wind lässt die Blumen im Garten bewegen. “Ob er wieder kommt?” “Wer?”, will ich wissen. “Na der böse Wind?” “Ha, ha, ha. Vielleicht. Lieber der böse Wind als der böse Wolf”, scherze ich.
Wir lassen die treuen und zuverlässigen Bikes aus der Stadt rollen. Weil zwei Straßen zu unserem heutigen gedachten Tagesziel führen, fragen wir öfter mal nach dem Weg. “Prijama, prijama!”, (geradeaus) sagt man uns. An der nächsten Gabelung versichern wir uns noch mal. “Warten sie. Ich zeige ihnen die Straße”, meint ein Russe, springt in sein Auto und fährt langsam voraus. “Unglaublich wie nett dieses Volk ist”, freue ich mich über die fortwährende Hilfsbereitschaft. An der Kreuzung weist er uns die Richtung. Wir bedanken uns. Der Mann steigt wieder in seinen Lada und fährt dahin zurück woher er gerade hergekommen ist. “Er ist extra wegen uns hierher gefahren”, wundert sich Tanja. Ein Straßenschild zeigt noch 82 Kilometer bis nach Asov an. “Und bis dahin wollen wir heute?”, fragt Tanja. “Wenn es der Wind zulässt”, antworte ich zuversichtlich.
Ein großer Friedhof auf offenem unbewachsenem Feld säumt die Stadt. Drei Frauen sitzen davor und bieten Obst und Gemüse feil. “Halt mal an. Ich muss die Frauen fotografieren!”, rufe ich. Bevor ich meine Kamera zücke stelle ich mich den Damen vor und erkläre woher wir kommen und wohin wir gehen. Als sie mich verstehen sind sie regelrecht platt. Dann frage ich ob ich sie ablichten darf. “Gerne”, kichern sie und setzen sich hinter ihre bescheidenen Verkaufsstände. “Mich auch. Bitte mich auch”, ruft die Dritte von ihnen deren Waren ein paar Meter weiter in der kühlen Morgensonne glänzen. “Aber klar”, freue ich mich so willige Fotomodelle zu haben. Damit mein Bild auch gut wird rückt sie ihre Äpfel, Birnen, Kartoffeln, Zwiebeln und Nüsse in Position und lächelt in das Objektiv. Wir lachen zusammen und teilen für Augenblicke einen schönen gemeinsamen Moment. Dann nimmt sie Birnen, Äpfel und Nüsse, legt alles in eine Plastiktüte und reicht sie mir freundlich. Jetzt bin ich geplättet. Eine Frau die offensichtlich nicht viel zum überleben besitzt schenkt mir ein paar Kilo Obst und Nüsse. “Nein danke, das ist viel zu schwer für meinen Anhänger”, lehne ich ebenfalls freundlich ab. “Ach was! Ist doch nicht zu schwer. Nimm. Ihr braucht es. Seid soweit gefahren. Ihr braucht doch etwas zum Essen”, plaudert sie und streckt mir die Tüte entgegen. Weiteres Ablehnen käme einer Beleidigung gleich. Deshalb greife ich beschämt zu. Ich laufe zu Tanja die zwischenzeitlich mein Rad gehalten hat und zeige ihr unsere Schätze. Dann schlichte ich alles in den Anhänger. Weil selbst Plastiktüten hier wertvoll sind gebe ich diese zurück. Die alte Dame lächelt mich wieder an und bedankt sich. “Nein, nein, ich habe zu danken”, sage ich erneut beschämt und schüttle ihr zum Abschied die Hand. Winkend fahren wir davon.
Die ersten Kilometer kommen wir ohne großen Seiten- und Gegenwind voran. Dann, oh weh, ein Grenzposten. “Was ist denn das für eine Grenze?”, wundere ich mich. “Seltsam, und das mitten in Russland”, meint Tanja. Eine Ampel steht auf Rot. Eine Videokamera hängt über der Straße. Mir ist nicht ganz wohl in meiner Haut. Die negativen Erfahrungen von Transnistrien stecken mir noch irgendwie in den Gliedern. Autos überholen uns und werden von den Posten angehalten. Als wir anradeln lachen die Männer in Uniform und winken uns freundlich grüßend durch. “Na wer hätte das gedacht?”, freue auch mich über den reibungslosen Verlauf dieses Kontrollpostens. Dann führt die Straße durch eine mit Schilf bewachsene Senke. Kaum windet sie sich dort heraus hat uns der böse Wind wieder gefunden und die Anstrengungen der letzten zwei Tage setzen sich ab diesen Moment fort. “Wenn das 80 Kilometer so anhält sind wir heute Abend am Ende!”, rufe ich.
Nach 36 Kilometer macht die Straße einen Knick in Richtung Nordosten. Jetzt weht der Wind nicht mehr von der Seite, sondern trifft uns frontal. Ohne Zweifel ist Seitenwind und schräg kommender Frontwind hart aber gegen den Dauersturm direkt anzuradeln ist kaum zu schaffen. Wir schalten auf den siebten Gang herunter. Dann auf den Fünften, Vierten und Dritten. Nur um überhaupt noch voranzukommen. Als würden wir eine nicht enden wollende Siebenprozent-Steigung erkämpfen, arbeiten wir uns Meter für Meter dahin. Jetzt heißt es das Hirn ausschalten und nur noch zu funktionieren. Treten, treten, treten. Das wir dabei nur sehr langsam vorankommen ist Nebensache. Hauptsache wir treten und geben nicht auf. Wir schwitzen wie Rennpferde beim Zieldurchlauf, wobei der Schweiß sogleich von Wind getrocknet wird. Trotz Sonnenschein ist es kühl. Stehen bleiben ist kaum drin. Unsere Oberschenkel leisten Unglaubliches. Ein Dank an einen gut funktionierenden Körper. Dank an eine Psyche die uns keinen Streich spielt und uns hier im offenen Gelände nicht im Stich lässt.
Mein Kopf ist leer. Ich sehe die verschiedenen Schattierungen und Musterungen des Asphalts an meinen Augen vorüber gleiten. Dunkel, hell, dunkel, hell. Dann wieder verschiedene Gegenstände die von den Autoreifen in den Bitumen gepresst wurden. Der Wind pfeift um den Uvexhelm, pfeift um den Aluminiumrahmen meines Hengstes. Schweiß rinnt mir über die Stirn in die Augen. Sie brennen. “Nicht aufhören. Nur nicht aufhören zu treten. Das bringt nichts. Ist noch keine Zeit für eine Pause. Hier können wir nicht bleiben. Kein guter Ort hier um zu pausieren. Aber wo? Wo ist ein guter Ort”, erwacht für wenige Momente mein Gehirn und sendet Informationen die ich aber zu diesem Zeitpunkt nicht wissen möchte. Weiter, weiter, treten, treten. Der Wind bläst. Er heult und singt sein Lied. Ein Lied von der ungeheuren Anstrengung gegen Windstärke sechs oder mehr zu fahren. Mehr? “Schade dass ich keinen Windmesser dabei habe”, erlaubt sich ein Gedanke in die Leere zu melden. “Wieso? Was soll ich hier mit einem Windmesser? Stoppt den Wind auch nicht”, hält ein anderer Gedanke dagegen. Treten, treten. Der Atem rasselt aber die Lungen funktionieren tadellos. “Macht einen guten Job. Einen echt guten Job”, flüstert ein Gedanke ein Lob an die Lungen. Dann ist wieder Stille. Nur der Atem fließt. Nicht hektisch. Er fließt im Rhythmus. Ein Atem einer zuverlässigen Leistungsmaschine. Immer weiter, weiter in den Wind. Gedankenlosigkeit. Ach wie schön. Schön an nichts zu denken. Nur der Wind spricht und singt. Ansonsten vergehen die Momente, die Augenblicke, die Sekunden, Stunden, die Zeit. “Was ist Zeit?”, fragt es in den ausgeruhten Gehirnwindungen. “Zeit sind Erlebnisse. Zeit ist Leben. Zeit ist sein. Zeit ist endlos”, höre ich es in mir. “Der Sturm kann doch nicht ewig so blasen? Er unterliegt doch auch der Zeit. Also kann Zeit nicht endlos sein.” “Doch, doch. Sie ist endlos. Der Sturm unterliegt nicht dem Gesetz der Zeit. Er findet nur statt. Er bläst und hört wieder auf. Bläst und hört wieder auf. Das hat mit der Zeit nichts zu tun. Der Sturm existiert unabhängig von Zeit. Die Länge seines Wirkens misst nur du als Mensch in Zahlen die du der Zeit zuschreibst. Sie wird von den Menschen strukturiert. Sie wird damit für dich begreifbar gemacht. Aber Zeit ist und bleibt endlos”, entflammt es sich in meinem Gehirn. Der Atem fließt. Das Herz schlägt seinen Rhythmus. Durch die Adern rauscht das Blut. Die Straße verändert ihre Schattierungen. Die Gedanken kommen wieder zum erliegen. Haben sich wieder schlafen gelegt. Ach wie schön ist es nichts zu denken. Wie schön ist es mal nur zu sein.
An einer Tankstelle halten wir an. Kaufen vier Liter Wasser um unsere Source-Wasserrucksäcke aufzufüllen. Huuuiiiiii! Heult der Wind um die Häuserecke und wirft Tanjas Rad auf den harten Steinboden. Sofort ist sie zur Stelle. Ihr fehlt die Kraft um es aufzurichten. Ein Tankwart bequemt sich nach reiflicher Überlegung ihr zu helfen. Ich kann nur tatenlos zusehen weil ich meine eigene Maschine vor dem Sturz bewahren muss. Während Tanja nun mein Rad hält untersuche ich ihres auf Schäden. Die Tretkurbeln haben nichts abbekommen. Der Lenker ist gerade und der Außenspiegel hat wie durch ein Wunder überlebt. Nur die Kette ist aus beiden Kettenblättern gesprungen. Ich führe sie wieder ein. Drehe eine Proberunde und überreiche meiner Frau zufrieden ihr Ross. Weiter geht es in den Wind. Immer weiter. Es ist bereist 15:00 Uhr. 50 Kilometer konnten wir bis dahin dem Sturm ohne Wolken abtrotzen. Noch 40 Kilometer, zeigt eine Richtungstafel am Straßenrand. Weiter, immer weiter geht es in den Wind. “Wird knapp”, meint Tanja. “Ja, doch wir können es schaffen”, antworte ich. Der Körper funktioniert noch. Schon seit sechs Stunden. Er wird auch weiter funktionieren. Der Atem fließt. Das Herz schlägt seinen Rhythmus. Das Blut rauscht durch die Adern. Welch eine Herausforderung und welche ein Gefühl fitt zu sein. Fantastisch. Der Blickwinkel ist ohne Zweifel wichtig. Nicht fluchen. Nicht gegen den Wind schimpfen. Was bringt es? Nichts. Und doch würde ich in so manchen Momenten gerne die Faust in den Himmel erheben und am liebsten diesen bösen Wind an der Kehle würgen. Doch was bringt es? Nichts.
Die Straße windet sich nach Norden. Der Wind trifft uns nun wieder von der Seite. Unsere Geschwindigkeit erhöht sich augenblicklich auf 15 Kilometer pro Stunde. Dann knickt die Fahrbahn wieder nach Osten. Wind von vorne. Ohne Gnade. Herausforderung. Eine Straußenfarm taucht am Wegrand auf. Wir verlassen das Bitumen und schießen ein paar Fotos. Woher nehmen wir die Energie? Weiß nicht. Nur das Foto möchte ich haben. Straußenfarmen gibt es bestimmt nicht viele in Russland.
Unser Tacho zeigt knapp 90 Tageskilometer. Wir können es fast nicht glauben. Trotz Wind. Trotz dem Sturm. Wir sind mit unserer Leistung zufrieden. Vielleicht gerade deswegen. Mit müden Gliedern fragen wir in einem Vorort vor Asov nach einem Gästehaus. “Njet. Das gibt es hier nicht. Nur in Asov. Bis zur nächsten Gastiniza sind es noch zehn Kilometer”, schockt uns die Aussage zwei junger Russinnen die mit sehr hohen Stöckelschuhen, in hübschen Kleidern steckend, am Straßenrand entlang stelzen. Nachdem wir die Fragen des Woher und Wohin geklärt haben mobilisieren wir unsere schwindenden Kraftreserven. Die Oberschenkel brennen, haben sich bis zum bersten aufgepumpt. Der Nacken meldet sich mit Verspannungen und die Handgelenke haben Schwierigkeiten den Oberkörper am Lenker abzustützen. Weiter geht es. Weiter in den Wind. Die letzten Kilometer. Hoffentlich. Nach dem Ortsschild erhebt sich die Straße noch mal zu einer letzten Herausforderung. Es geht nach oben. Langsam aber stetig strampeln wir die Anhöhe hinauf. Dann die ersten Häuser. Windschatten legt sich über uns. Die letzten Sonnen strahlen verglühen gerade. Wir halten und fragen nach der Gastiniza. “Bevor ich euch das sage müsst ihr mir erstmal euren Namen verraten”, meint ein netter aber etwas angetrunkener älterer Mann. “Tanja und Denis”, bringe ich noch freundlich über die Lippen. “Ah, das ist aber nett. Eine Hübsche Tanja hast du da dabei. Ich heiße Sergei”, antwortet er. Ich wundere mich nicht. Wird doch bald die Hälfte der russischen männlichen Bevölkerung so genannt. Der Mann greift mich freundschaftlich am Arm und will das Woher und Wohin geklärt haben. Dann hält ein weiterer Autofahrer an, um sich an dem Gespräch zu beteiligen. Tanja und ich sind völlig nass geschwitzt und beginnen zu frieren. Noch dazu gibt es in dem Ort Millionen von Stechmücken die sich gerade kamikazemäßig über uns stürzen. Kein Wunder, denn für die Stechmücken müssen unsere aufgeblasenen Muskeln ein Schlaraffenland sein. Nur einmal kurz den Stachel in das pralle Fleisch gestochen und schon schießt das leckere Blut in den Rüssel. “Ich halt es nicht mehr aus”, rufe ich Tanja zu. Mit kreisenden Armen setze ich mich zu Wehr, während uns die Herren mit Fragen bombardieren. “Wir müssen weiter”, sage ich dem Mann der sich mittlerweile mit einer Hand an meinem Lenker festhält. Er sieht mich an. Beginnt zu lachen und gibt ihn frei. “Spasiba i Doswidanje”, (Danke und Auf wieder sehen) sagen wir und bringen unsere Rösser auf trab. Die Moskitos zurücklassend. “Prijama, prijama!”, erklärt man uns immer wieder bis wir plötzlich vor einem großen heruntergekommenen Ostblockhotelbunker zum halten kommen. “Sieht teuer aus”, sage ich. Tanja bewacht die Räder ich checken den Laden aus. Schwer wie ein Mammut, zumindest fühle ich mich so, steige ich die breiten Treppen zum Empfang nach oben.
1.100 Rubel (32,- ?) inklusive Frühstück kostet das billigste Zimmer. Wir bleiben. Unsere Räder finden ein Plätzchen in der Gepäckaufbewahrung. Wir schaffen alles in den neunten Stock, mit Aufzug natürlich, und lassen uns auf die durchgelegenen Matratzen sinken. Glücklich sehen wir uns an. “Knappe zehn Stunden im Sattel und 98.61 Kilometer mit sturmartigem Seiten- und Frontwind. Nicht schlecht”, meine ich lachend. “Ja, fantastisch. Meine Oberschenkel passen jetzt allerdings in keine Hose mehr rein.” “Macht nichts. Deine Beine sehen wunderbar aus. Ich finde du hast die Schönsten auf der ganzen Welt.” “Meinst du wirklich?” “Meine ich wirklich.”