Von Null auf Hundertzwölf
N 44°34'22.2'' E 028°42'27.7''Am Morgen unseres Aufbruchs gen Donaudelta satteln wir unsere Räder in der Empfangshalle des Hotels. Gäste drehen sich verwundert nach uns um. Ist schon ein eigenartiger Anblick der in so einer glänzenden, sauber polierten Lobby nicht zu erwarten ist. Bisher hat man immer ein Plätzchen für unsere Räder gefunden. Draußen können wir sie unter keinen Unständen stehen lassen. Wir sind wirklich froh, dass die Menschen hier soviel Verständnis aufbringen und wir unsere Bikes bisher kostenlos überall unterstellen oder mitnehmen dürfen. Während wir auf die Rechnung warten bekommt Tanja einen vier Seiten langen Brief von der jungen Rezeptionistin Andreea überreicht. Tanja ist gerührt, hat sie in den vergangenen Tagen doch nur ein paar Worte mit ihr gewechselt.
Um 11:00 Uhr befinden wir uns endlich wieder auf der Straße. Gut gelaunt, kraftvoll und gespannt was uns Rumänien noch alles bieten wird, lassen wir Mamaia hinter uns. Der Verkehr ist Gott sei Dank nicht so schlimm wie bei unserer Ankunft. In der grottenhässlichen Industriestadt Navodari nehmen wir die Abzweigung die uns auf die verkehrsarme Landstraße führt. Vorbei geht es an Feuer spuckenden und rauchenden Schlöten, rostigen, zerfallenen Zäunen und Mauern. Zusammengebrochene Hallen liegen in ihren Einzelteilen auf der gepeinigten, von Abfall und Ölen durchtränkten Erde. Grau und unglücklich erscheinende Menschen schlappen in ihren Arbeitsuniformen über das Gelände. Apokalypse ist der einzige Ausdruck der hierzu passt. Einfach unvorstellbar das es so etwas direkt neben dem Hauptbadeort eines gesamten Landes gibt. Kein Zweifel, dass hier das Meerwasser verschmutzt sein muss. Wie verschmutzt und wie gesundheitsschädlich für die nahen Badegäste? Das will wohl keiner wissen. Vielleicht besser so. Zumindest für die wieder aufflammende Tourismusindustrie. Kaum lassen wir das verunstaltete und kranke Fabrik-Geschwür zurück empfängt uns die erste leichte Steigung. “Puh, die hört wohl nie auf!”, schnauft Tanja hinter mir. Auch mir kommt die kaum sichtbare Erhebung endlos vor. Zur Überprüfung schalte ich mein GPS ein. Zweifelsohne geht es höher und höher. “Reine Willenssache”, motiviere ich mich selbst und lasse die Tretkurbel im dritten Gang unermüdlich kreisen. Als hätten wir ihn gepachtet kommt nach einer Weile starker und stetiger Gegenwind auf. Auf der beachtlichen Höhe von 112 Meter erreichen wir die Kuppe des Mount Everest der hiesigen Schwarzmeer-Küste. Unglaublich wie kaputt so eine Bodenerhebung machen kann. “Wir sollten unser gesamtes Gerümpel ins Meer werfen”; fluche ich leise. Aber darüber habe ich schon zu genüge sinniert, mehr als ich hier zugeben möchte. Langsam geht es wieder hinunter. Der Gegenwind bremst uns erfolgreich, so dass wir trotzdem treten müssen. In unserer Karte kann ich die Höhenzüge nicht erkennen. Sie sind zu niedrig, um eingetragen zu werden. Wir können davon ausgehen das uns diese lästigen Landschaftswellen und der Küstenwind noch einige Zeit erhalten bleiben. Obwohl ich mir stetig Mut zuspreche sinkt meine Moral. Mein Körper beschwert sich und irgendwie muss ich zugeben, dass heute nicht mein Tag ist. “He! Zuversicht wo bist du hin?”, rede ich mit mir selber.
“Du selbst bist es der deine Zuversicht gestaltet und kein Anderer. Was hast du gelernt wenn dein Mut schon wegen kleinen Runzeln auf meiner Oberfläche zu schwinden beginnt?” “Ach, schön dich zu hören. Dachte schon ich habe keine Verbindung mehr zu dir.” “Warum? Nur weil du für ein paar Augenblicke nicht von mir hörst? Mach dir darüber keine Gedanken. Ich stehe immer in Verbindung mit dir ob du mich vernimmst oder nicht. Meine Kommunikation besteht nicht nur aus Sprache. Das weißt du. Es gibt für mich ungezählte Möglichkeiten mit dir Kontakt aufzunehmen. Wenn ich euch Wind schicke ist das eine der Varianten.” “Dann gehören die Runzeln auch dazu?” “Ja, richtig.” “Na schön. Sie sind trotzdem anstrengend. Mir wäre es lieber wir könnten über flaches Land und ohne Gegenwind radeln”, entgegne ich trotzig und warte auf eine für mich befriedigende Antworten von Mutter Erde. Leider höre ich nichts. Es bleibt einfach still und so trete ich meinen Bock weiter in den unaufhörlichen Wind die so genannten Runzel nach oben. Ich denke über die wenigen Sätze nach die ich gerade vernommen habe und frage mich was ich damit anfangen soll? Ich bin zu müde, um mir einen Reim daraus zu machen als mir ein Schildchen am Straßenrand ins Auge fällt. “Schau mal, in zwei Kilometer soll es ein Restaurant geben!”, rufe ich Tanja zu. “Guter Platz um eine Pause einzulegen”, antwortet sie. In dem Dorf Istria entdecken wir die Straßenkneipe namens Rustic. Wir halten an, bringen unsere Räder in den Innenhof und setzen uns im Schatten einer lieb gestalteten Terrasse. Ein gut aussehender freundlicher Mann fragt ob wir etwas zu Essen möchten. Wir wundern uns, dass es in so einem kleinen Dorf ein richtiges Restaurant gibt. Bisher haben wir auf unserer gesamten Tour durch Rumänien so etwas kaum erlebt. “Es tut mir Leid. Ich habe nur Pommes, Spiegeleier und eingelegte Gurken. Es gibt hier zu wenig Gäste, um mehr Vorräte zu lagern”, entschuldigt sich der Mann der eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem Schauspieler George Clooney hat. “Macht nichts. Dann bekommen wir je zweimal Pommes mit zwei Spiegeleiern”, antworte ich. Bis das Essen kommt sehe ich mir das Innere der Kneipe an. Staunend entdecke ich was man hier nie für möglich hält. Alle Räume sind in einem sehr guten Zustand und stecken voller landetypischer Antiquitäten. Uralte Bauernschränke, Tonkrüge in den verschiedensten Größen, Vasen, Töpfe, Seile, Wagenräder, Lampen, Musikinstrument, Fahnen und vieles mehr hängt an den Wänden oder schmücken absolut liebe- und geschmackvoll die Räumlichkeiten. Ich bin begeistert und froh hier nicht vorbeigeradelt zu sein. “Denis! Das Essen ist fertig!”, höre ich Tanja rufen. Sofort eile ich zur Terrasse und wieder bin ich verblüfft. Wir genießen die besten, von Hand gemachten Pommes, seit Jahren. Heißhungrig verschlingen wir das leckere Mahl. “Wenn du ausruhen möchtest könnten wir den Wirt doch fragen ob wir in seinem Garten zelten dürfen”, schlägt Tanja vor. “Was? Wir haben gerade Mal 44 Kilometer zurückgelegt”, antworte ich. “Habe ich nicht gesagt, dass du dir selbst die Zuversicht gestaltest? Das ich viele Möglichkeiten besitze um mit dir zu sprechen? Was glaubst du ist dieser Ort? Zufall?”, höre ich die Stimme von Mutter Erde in mir. “Ich sehe mir mal den Garten an”, antworte ich zu Tanja. Tatsächlich wirkt der Garten einladend und ist für unser Zelt geradezu geeignet. “Wenn uns George Clooney erlaubt hier zu nächtigen bleiben wir”, sage ich. “Gute Entscheidung”, antwortet Tanja.
Leistungsfähigkeit die alles in den Schatten stellt
Ich nutze den späten Nachmittag, um die heute fotografierten Bilder in den Laptop zu speichern und zu beschriften. Plötzlich sehe ich einen Radfahrer mit Ortliebtaschen vor dem Restaurant anhalten. “Da kommt ein Radler”, sage ich zu Tanja. “Guter Witz”, meint sie trocken. “Na schau doch, es ist wahr”, entgegne ich. Weil Tanja hinter einem Pfosten sitzt und keinen direkten Blick zum Eingang des Restaurant hat sieht sie den Mann im ersten Moment nicht der jetzt sein beladenes Gefährt in den Hof schiebt. “Mein Name ist Tonnis. Bin Schwabe wie man sicherlich hört”, begrüßt er uns. Tanja und ich betrachten ihn im ersten Moment wie eine Fata Morgana. Als stünde plötzlich das grüne Männchen vom Mars vor uns. “Wo kommst du denn her?”, frage ich nachdem ich meine Sprache wieder gefunden habe. “Och ich bin vor 17 Tagen in Budapest gestartet und fahre bis zum Delta”, antwortet er als wäre es das Normalste der Welt. “Darf ich fragen wie alt du bist?”, will ich im Laufe des Gespräches wissen. “Ja, komisch. Das interessiert jeden den ich treffe. Anscheinend eine ganz gewöhnliche Frage in meinem Alter. Nun, ich bin 76 Jahre alt.” “76?” prusten Tanja und ich völlig überrascht. “Ja, 76. Ich mache jedes zweite Jahr eine Langstreckentour mit dem Rad. Habe damit erst im Alter von 66 angefangen. Fahre seither jedes Jahr meine 3000 Kilometer. Wenn ich nicht on Tour bin trainiere ich fleißig Zuhause”, verblüfft uns Tonnis Schäffer. “Du bist wirklich in 17 Tagen von Budapest bis hierher geradelt?”, kann ich es kaum glauben. “Ja. Habe im Augenblick einen 75ziger Tagesschnitt.” “Machst du denn keine Pause?” “Nur wenn es regnet.” “Aber es regnet ja kaum.” “Eben, deshalb mache ich wenig Pausen.” Tanja und ich sehen uns an. Wir haben während unserer Reisen schon viele Menschen und viel Unglaubliches getroffen aber einen 76 Jährigen alleine auf dem Rad, mitten in der Pampa von Rumänien, das ist doch schwer nachvollziehbar. Beschämt denke ich an das Gespräch mit Mutter Erde und die Runzeln. “Tut dir nichts weh? Ich meine, was machen deine Knie? Dein Rücken?”, frage ich neugierig. “Och, es zwickt schon mal hier und da, aber ich versuche es zu ignorieren.” “Wie sind denn deine Erfahrungen mit der Bevölkerung?”, will Tanja wissen. “Im Regefall sehr gut. Habe aber eine unangenehme Begegnung mit Sinti gehabt. Muss ehrlich sagen das ich in Konstanza meine Reise fast abgebrochen hätte.” “In Konstanza?” “Ja. Kurz vor Konstanza begegnete mir eine Sintifamilie. Sie saßen auf dem Pferdewagen und bettelten um Geld. Ne, ihr bekommt kein Geld von mir, sagte ich. Der Mann griff daraufhin an meine Lenkertasche und hat mir die Karte heruntergerissen. So schnell konnte ich gar nicht schauen. Dann sind sie mit ihrem Pferdewagen ausgerissen und ich hinterher. Polizei! Polizei! Habe ich gerufen. Plötzlich hat der Mann die Karte vom Wagen geschmissen. Wenig später ist tatsächlich ein Polizeiauto vorbeigefahren. War Zufall. Denke der Mann hat das Polizeiauto gesehen. Stell dir vor. Stiehlt er mir doch glatt die Landkarte. Ihr wisst was es bedeutet ohne Karte zu radeln. Du hast keine Chance. Weißt nicht wo du bist und fragen kann man ja auch keinen. Zumindest wenn man die Sprache nicht spricht. Also, seitdem habe ich eine Heidenangst vor den Brüdern”, erzählt er. “So ein Erlebnis hat man nur einmal. Dir wird auf dem Weg bis zum Delta bestimmt nichts mehr Schlechtes widerfahren”, beruhigt ihn Tanja. “Hoffentlich”, antwortet er sich die Schweißperlen von der Stirn wischend.
Nachdem Tonnis seine Pommes mit Spiegelei verdrückt hat will er weiter. “Ich muss heute noch Baia erreichen. Da gibt es eine Unterkunft”, erklärt er. “Warum hast du es denn so eilig? Bau dein Zelt auf und ruh dich hier aus. Ist ein guter Ort”, schlage ich vor. “Nö, möchte weiter. Muss ins Delta und dann übermorgen mit dem Zug zurück.” “Hast du Zweitdruck?” “Nö, aber trotzdem”, antwortet er und ich frage mich welch Phänomen es wohl sein mag weswegen viele Rentner unter ständigem Zeitmangel leiden.
Wir verabschieden uns von Tonnis und wünschen uns gegenseitig eine gute und sichere Fahrt. Dann setzen wir uns wieder auf die gemütliche Terrasse und unterhalten uns über die manchmal unbeschreibliche Leistungsfähigkeit des Menschen. Am Abend errichten wir unser Kort (Zelt) auf der Wiese hinterm Haus. “Ich freue mich wenn ihr heute Nacht bei uns bleibt. Und… macht euch keine Sorgen wegen eurer Sicherheit. Ich werde heute hier im Haus schlafen”, sagt unser Gastgeber. Um neun Uhr ziehen wir uns zurück. Clooneys Doppelgänger fährt seinen Dacia in die Einfahrt damit der Weg zum Garten versperrt ist und schaltet eine Lampe an. “Somit habt ihr die gesamte Nacht Licht. “Macht euch keine Sorgen. Wenn irgendetwas sein sollte schlägt mein Hund an”, hier seit ihr sicher”, sagt er noch mal. Etwas verwundert über sein Sicherheitsdenken kriechen wir ins Zelt. “Hast du die Räder gut abgesperrt?”, fragt Tanja. “Habe ich”, gähne ich müde. Dann lausche ich dem Iiiaahhh eines Esels, dem Bellen der Hunde und dem lauten Grölen einer Feiergesellschaft die definitiv einen über den Durst trinken. Es dauert nicht lange bis Tanja und ich in einen tiefen, gut beschützten und erholsamen Schlaf fallen.