Vom dichten Hochnebel verschluckt
N 71°10’10.2’’ E 025°46’51.8’’Datum:
09.10.2020
Tag: 068
Land:
Norwegen
Ort:
Nordkap
Tageskilometer:
94 km
Gesamtkilometer:
6559 km
Bodenbeschaffenheit:
Asphalt
Brückenüberquerungen:
4
Tunneldurchfahrten:
3
Sonnenaufgang:
07:00 Uhr
Sonnenuntergang:
17:08 Uhr
Temperatur Tag max:
6°
Temperatur Nacht min:
2°
(Fotos zum Tagebucheintrag finden Sie am Ende des Textes.)
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Schon früh verlassen wir unseren einsamen Übernachtungsplatz und folgen der malerisch schönen Küstenstraße. Nach 50 Kilometern neigt sich die Straße nach unten und wird von einer Betonröhre verschluckt. Low Gear weist uns ein Warnschild daraufhin einen niedrigen Gang einzulegen. Wir befinden uns jetzt im 6875 Meter langen Nordkaptunnel, der nach einer fünfjährigen Bauzeit 1999 fertiggestellt wurde. „Im Vergleich dazu war der 63 Meter tiefe Nappstraumtunnel auf Lofoten Pillepalle“, meint Tanja, als es immer weiter ins Erdinnere geht. In einer Tiefe von 212 Metern unterm Meer fahren wir vom norwegischen Festland zur Insel Magerøya auf der sich das Nordkap befindet. Dann geht es wieder steil nach oben. Das Motorengeräusch der Terra wird von den massiven Betonwänden des Tunnels zurückgeworfen und klingt so, als würde ein afrikanischer Löwe laut aufbrüllen. Als uns der 110 Millionen Euro teure Unterwassertunnel wieder ins Tageslicht entlässt, sind Wolken aufgezogen. „Was sagt die Wetter-App?“, frage ich Tanja, die sogleich ihr Smartphone zückt, um die Daten abzurufen. „Für heute ist Sonnenschein und leichte Bewölkung vorhergesagt. Ab morgen soll es für die nächsten 10 Tage regnen oder sogar schneien.“ „Wenn wir Glück haben, erleben wir das Kap heute Nachmittag also noch bei gutem Wetter. Bin gespannt, ob die Vorhersage zutrifft“, antworte ich. „Wäre super, dann könnten wir unsere Bikes auspacken und eine Runde ums Kap drehen“, überlegt Tanja. „Hammer, wenn das zu dieser Jahreszeit klappen würde“, sage ich die Terra in einen weiteren Tunnel steuernd. Die zu dieser Zeit kaum befahrene schmale Küstenstraße schlängelt sich an der teils steilabfallenden, atemberaubend schönen, felsigen Küste entlang. Immer wieder kommen wir an Straßenarbeitern vorbei, die mit ihren großen Baumaschinen das Meisterwerk menschlicher Ingenieurskunst ausbessern oder erweitern. „Sagenhaft zu was der Mensch in der Lage ist“, meine ich nicht zum ersten Mal auf dieser Reise. Wir lassen das Fischereistädtchen Honningsvåg mit seinen 2465 Einwohnern rechts liegen, das bereits 1869 regelmäßig von Dampfschiffen der Hamburgroute angelaufen wurde und später auch Station der traditionelle norwegische Postschifflinie Hurtigruten wurde.
Unvermittelt windet sich die Straße nach oben in eine offene, baumfreie Landschaft mit einer subarktischen alpinen Vegetation, die trotz der kurzen Wachstumsperiode im Sommer mit ungefähr 200 Pflanzenarten vielfältig und abwechslungsreich ist. Obwohl wir uns circa 150 Kilometer nördlich der Baumgrenze befinden, sind wir vom Farbenspiel der niedrigen Pflanzenwelt begeistert. Flechten, Moose, Gräser dominieren das Bild. Hinter manchen Biegungen erscheint wieder saftiges Grün, das unvermittelt einem goldgelben, dann wieder einem bald rötlichen Braun weicht. Hinter der nächsten Straßenbiegung erstrecken sich erneut endlose grüne Wiesen über anmutig wirkende Hügelkuppen, in deren Tälern sich kleine Seen mit frischem, kaltem Wasser ducken. Urplötzlich wird alles um uns herum vom dichten Hochnebel verschluckt. Wir können kaum die Hand vor unseren Augen sehen. „Langsam!“, warnt Tanja, weil der schmale Asphaltstreifen vor uns wie von Geisterhand regelrecht verschluckt wurde. Erschrocken steige ich in die Eisen und bremse die Terra auf Schrittgeschwindigkeit ab. „Nebelleuchten einschalten!“, rufe ich das Steuer mit beiden Händen fest umklammernd, worauf Tanja blitzartig die nötige Taste am Armaturenbrett drückt. Nur ein Sekundenbruchteil später knickt die Verkehrsader nach rechts ab. „Puh, Glück gehabt“, schnaufe ich, da ich gerade noch rechtzeitig abgebremst habe, um die im diffusen Licht erscheinende scharfe Kurve zu erkennen. Dann reißt die Nebelwand wieder auf. Neben uns erscheint ein schwarzer Steinhaufen, auf dem sich frische gelbe Blumen, ein Kreuz und eine Laterne befinden. „Da ist sicherlich jemand verunglückt“, vermute ich. Als wäre der Nebel nur eine unreale Erscheinung gewesen, erscheint die Hochebene nur Augenblicke später wieder im wunderbaren warmen Sonnenlicht. „Puh, was für ein Wetterwechsel“, äußere ich mich überrascht. „Faszinierend“, ruft Tanja. „Da vorne ist das Nordkap!“, sage ich begeistert auf eine Schranke und ein paar kleine Häuschen vor uns deutend. „Eines der spektakulärsten Reiseziele Norwegens“, freut sich Tanja überschwänglich, als hätten wir den ganzen Weg von Deutschland bis hierher auf dem Sattel unseres Fahrrades oder E-Bike gesessen und das Kap mit unserer Muskelkraft erobert. Obwohl uns natürlich bewusst ist, dass es in der heutigen Zeit keine große Leistung ist, mit dem Wohnmobil zum Nordkap zu gelangen, fühlen wir uns trotzdem so, als hätten wir etwas Großartiges geschafft. Vor etwa einem Monat sind wir auf der Europastraße 6 unter dem hölzernen Torbogen durchgefahren und erreichten somit den hohen Norden. Das war für uns trotz aller bereits gemachten Erfahrungen in unserem Leben ein Höhepunkt, den wir nicht für selbstverständlich hinnahmen und jetzt erreichen wir 514 Kilometer nördlich des Polarkreises den auf dem Straßenweg äußersten Norden Europas. Viel kann uns Menschen widerfahren und oftmals kommt es anders als geplant. Ein Grund dafür, diesen Augenblick in vollen Zügen zu genießen und sich wie Gipfelstürmer zu fühlen. An der Schranke angelangt klatschen wir uns gegenseitig in die Hände. Dann lasse ich das Fenster herunter und begrüße den Deutschen namens Peter, der in dem beheizten Kassiererhäuschen sitzt und uns freundlich begrüßt. Da wir zu dieser Stunde die einzigen Gäste sind, plaudern wir ein wenig und erfahren, dass er schon seit vielen Jahren in dem von hier nur 34 Kilometer entfernten Fischereistädtchen Honningsvåg lebt. „Ich bin eigentlich der Buchhalter des Besucherzentrums, da aber wegen Corona die meisten der über 200 Angestellten aus aller Welt entlassen wurden, helfe ich hier aus und kassiere die Eintrittsgelder.“ „Wie viel Angestellte arbeiten hier zurzeit?“, möchte ich wissen. „Wir sind nur noch zu fünft.“ „Zu fünft?“, wiederhole ich erschrocken. „Schau dich um. Es gibt keine Besucher. Ihr habt Glück, das Nordkap so erleben zu dürfen. Seit der Eröffnung der Nordkapstraße im Jahr 1956 erlebte der Tourismus einen spürbaren Aufschwung. Der absolute Besucherrekord lag im besten Jahr bei ca. 280.000 und jetzt ist man hier nahezu alleine. Seit das Nordkap vom Tourismus erobert wurde, gab es so etwas noch nie“, meint der Buchhalter der Scandic Hotels Group, zu der auch das Besucherzentrum am Nordkap gehört. „Wir sind Journalisten und schreiben ein Buch über unsere Norwegentour. Weil wir viel arbeiten, würden wir gerne ein paar Tage bleiben. Ist das möglich?“, frage ich, weil wir davon gehört haben, dass das Eintrittsticket nur für 24 Stunden gültig ist. Peter zuckt daraufhin nur mit den Schultern. „Super, vielen Dank“, antworte ich, weil wir die Geste als ein Ja verstanden haben…