Skip to content
Abbrechen
image description
Russland/Begajewskij

Verkehrskreuz um Rostow am Don

N 47°19'15.0'' E 040°22'04.9''

In dieser Gastiniza, die in Wirklichkeit ein Hotel ist, bekommen wir bei grottenschlechten Service ein grottenschlechtes Frühstück. Eigentlich würden wir gerne auf das Frühstück verzichten aber es ist im Zimmerpreis enthalten. Die Bedienungen sind unmotiviert und gelangweilt. Es stört sie auch nicht als sie von uns erfahren dass wir kein Fleisch essen. Trotzdem bekamen wir vorgestern und gestern den obligatorischen Wurstteller. Wurst und Hühnchen werden in Moldawien, der Ukraine und in Russland oft nicht als Fleisch bezeichnet. “Wir sind Vegetarier. Bitte kein Fleisch, kein Huhn und keine Wurst”, erkläre ich der Bedienung wie jeden Morgen geduldig und freundlich, worauf sie mich gelangweilt ansieht. “Äh, haben sie verstanden? Kein Fleisch, kein Huhn und keine Wurst bitte”, wiederhole ich erneut, um sicher zu gehen. Sie nickt und zählt in schnellem Russisch verschiedene Gerichte auf. Obwohl wir die Dame kaum verstehen bestellt Tanja Kraut und ich Pfannkuchen. Nochmals rasselt sie daraufhin ihre Gerichte herunter. Es ist zum Haare raufen. Es gibt Menschen die wollen sich einfach keine Mühe geben. Da es zwecklos ist die unfreundliche Frau aufzufordern langsamer zu sprechen nicken wir. 20 Minuten später serviert sie einen Teller mit etwas Kraut und viel Wurst. “Keine Wurst. Bitte, bitte keine Wurst. Wir sind Vegetarier. Verstehen sie? Vegetarier essen keine Wurst. Bitte nehmen sie den Teller wieder zurück”, sage ich nun ärgerlich, mich aber noch immer beherrschend. Das Resultat ist verblüffend. Die Übellaunige dreht sich kommentarlos auf dem Absatz um und marschiert einfach davon. Es dauert nur den Bruchteil einer Sekunde. Ich springe auf, schnappe mir den Wurstteller und trage ihn ihr hinterher. “Bitte nehmen sie diesen Wurstteller zurück”, fordere ich sie auf. Sie bleibt stehen, nimmt mir den Teller aus der Hand und setzt ihren Sturm in die Küche fort. An diesem wunderschönen sonnigen Morgen lasse ich mich wieder in den Stuhl am Tisch sinken. “Wir lassen uns doch nicht die Laune wegen dem Essen verderben?”, meint Tanja. “Ach was, ich bin bestens gelaunt. Die lockt mich nicht aus der Reserve. Die doch nicht”, protzle ich vor mich hin. “Hi, hi, hi, du solltest aber mal dein Gesicht sehen.” “Hm, na ja, habe mich kurz geärgert aber jetzt bin ich wieder gut drauf”, antworte ich lächelnd. Dann kommt die feindselige Bedienung mit zwei Tellern durch die Tische jonglierend auf uns zu. “Na da bin ich aber gespannt”, meine ich erwartungsvoll. Uns fallen fast die Augen raus. Auf den Tellern schmiegen sich drei Scheiben fettige Wurst und zwei Scheiben Käse. “Bleib locker”, flüstert Tanja. “Ich bin locker”, zischele ich zurück. “Bitte keine Wurst”, sage ich trocken, nehme den Käse von den Platten und gebe ihr den Wurstteller zurück. Die Sauertöpfische nimmt ihn diesmal gleich entgegen und stürmt davon. Da sie aber auch keinen Ersatz für die Wurst serviert gehen wir im nächst besten Laden Joghurt und Kekse kaufen. Dann beziehen wir wieder die hübsche sonnenüberflutete Terrasse des Hotels, bestellen zwei Tassen Kaffee, die wir natürlich extra bezahlen müssen, und setzen unser Frühstück fort.

Weil wir unser gesamtes Hab und Gut erst aus dem neunten Stock mit dem Aufzug nach unten befördern müssen und unser Frühstückerlebnis viel Zeit in Anspruch genommen hat kommen wir heute erst um 9:30 Uhr los. Wir verlassen die Stadt Asov in Richtung Rostow am Don, der Stadt die während des 2. Weltkrieges zweimal von deutschen Truppen besetzt und dabei erheblich beschädigt wurde und heute über eine Pipeline mit den Erdölfeldern des Kaukasus verbunden ist. Die ersten Kilometer kommen wir recht gut voran. Der sturmartige Wind hat sich beruhigt und belästigt uns im Augenblick nur wenig. Als wir die Gebietshauptstadt des europäischen Teils Russlands zu unserer linken erblicken befinden wir uns wieder auf einer Art Autobahn. Das Verkehrsaufkommen steigert sich von Minute zu Minute und ist mit einer deutschen Autobahn durchaus vergleichbar. Immer wieder halten wir auf dem schmalen oftmals unterbrochenen Seitenstreifen, um uns zu orientieren. Seit heute besitzen wir keine europäische Straßenkarte mehr und müssen uns mit einem kyrillisch geschriebenen dicken russischen Autoatlas herumschlagen. “Keine Ahnung welche Richtung wir einschlagen sollen. Die eine Autobahn führt nach Norden. Genau in das Verkehrsmoloch dieser Millionenstadt und die andere nach Krasnodar in den Süden”, stelle ich fest. “Krasnodar? Das ist doch die Richtung aus der wir gekommen sind?”, fragt Tanja. “Genau und da wollen wir bestimmt nicht mehr hin. Wir müssen nach Wolgodonsk und Wolgodonsk befindet sich im Osten. Was machen wir denn jetzt bloß?”, frage ich verunsichert während sich der Verkehrswahnsinn dicht neben uns in großer Geschwindigkeit vorbeiwälzt. Etwas verzweifelt blicke ich auf die großen blauen Verkehrsschilder über uns. “Da hinten schiebt ein alter Mann sein Fahrrad in unsere Richtung”, ruft Tanja, um den Lärm der stinkenden Autos zu übertönen. Verwundert, was ein alter Mann auf dem Seitenstreifen einer Autobahn treibt, warten wir bis er uns erreicht. Als ich den etwa 70 Jährigen anspreche erschrickt er im ersten Augenblick. Klar rechnet er nicht damit, dass die zwei wie Alien aussehenden Wesen mit ihren Monsterrädern auch sprechen können, noch dazu in gebrochenem Russisch. “Fahrt in Richtung Krasnodar. Irgendwann kommt ein Kreisverkehr. Dort nehmt ihr die Straße nach Osten”, erklärt er nach einer kurzen Schrecksekunde. Während ich versuche seine Beschreibung zu verstehen fällt mein Blick auf sein schrottreifes, uraltes aus verschiedensten Teilen zusammen gebasteltes Fahrrad. In einem verrosteten Korb, den er mit verrostetem Draht auf den ebenfalls verrosteten Gepäckträger befestigt hat, liegen ein paar leere Dosen verloren herum. Offensichtlich sammelt er die von den Autofahrern weggeworfenen Getränkedosen, um irgendwo ein paar Rubel dafür zu bekommen. Viele der alten Menschen in Russland versuchen auf die unterschiedlichste Art und Weise ihre erbärmliche Rente aufzubessern und sind deswegen gezwungen bis zu ihrem Tod zu arbeiten. “Vielen Dank”, antworte ich. “Eine gute und sichere Reise”, entgegnet er jetzt friedlich lächelnd. Alsdann fädeln wir über die Zubringerstraße auf die Autobahn in Richtung Krasnodar ein. Um so schnell wie nur möglich den einspurigen Zubringer hinter uns zu bringen lassen unsere überbeanspruchten Beine die Tretkurbeln in einer irrwitzigen Geschwindigkeit kreisen. Dann befinden wir uns erneut auf dem Seitenstreifen der Fernstraße. Als auch hier die Fahrzeuge an uns vorbeirasen beginne ich mich in meiner Haut nicht mehr wohl zu fühlen. Die Gefährdung ist ohne Zweifel entschieden größer als auf normalen Verkehrsadern. Selbst auf dem Seitenstreifen einer deutschen Autobahn wären wir um einiges sicherer als hier denn ab und an löst sich der hiesige Pannenstreifen einfach in Luft auf. In solchen Augenblicken sind wir gezwungen unsere schneckenlangsamen Roadtrains auf die Hauptfahrbahn zu steuern. Irgendwie kommt mir dieser Moment wie russisches Roulett vor. Aber wir besitzen keine andere Chance. Dies ist der einzige Weg um Rostow am Don. Zumindest laut unserer Katastrophenkarte. Auch wenn wir uns in den vergangenen 5.300 Kilometern schon öfter von hohem Verkehrsaufkommen bedroht gefühlt haben kann ich mich einfach nicht daran gewöhnen. Das Einzige was uns in solch einer Situation immer wieder hilft ist die Vorstellung sich in einem goldenen Ei zu befinden. Ein fiktiver Raum in dem wir mental und emotional mit allem was ist verbunden sind und von allem Übel, auch den Autos, geschützt werden. Eigenartiger Weise scheint diese Vorstellung wirklich zu wirken. Selbst wenn der eine oder andere sagen wird das dies nur Glaube ist. Doch wie heißt es so schön: “Der Glaube versetzt Berge.” Und in diesem Fall bin ich mir sicher das er unser Leben schützt.

Zehn Kilometer später ist die Ausfahrt noch immer nicht in Sicht. Ein Lastwagen überholt uns gerade mit großem Sicherheitsabstand. Ich zucke vor Schreck zusammen als er zum gleichen Zeitpunkt von einem dahinrasenden PKW, der unter keinen Umständen bremsen möchte, bedrängt wird. Der Raser fährt dicht auf und als er nicht vorbeikommt quietschen und rauchen die Reifen. Dann heult der Motor hoch. Wie ein Rennfahrer drückt er sich an den Kleinlaster vorbei, nur um sich danach vor seiner Kühlerhaube zu setzen und nochmals scharf zu bremsen. Jetzt rauchen die Räder des bremsenden Kleinlasters. Er kommt ins Schlingern und kurz bevor er auf den wahnsinnigen PKW knallt gibt dieser mit seiner Höllenmaschine Gas und macht sich aus dem Staub. “Das war knapp!”, rufe ich und wünsche mir nichts sehnlicher als die Autobahn verlassen zu können. An einer Reparaturwerkstatt am Seitenstreifen fragen wir sicherheitshalber nach ob uns der alte Dosensammler auf die richtige Strecke geschickt hat. “Sie müssen umkehren”, hören wir entsetzt. Wir bleiben hartnäckig. Wollen unter keinen Unständen zurück, um dann in der Metropole zu landen. Minutenlang beugt sich daraufhin der Mechaniker über unsere Karte, bis er die Richtung dann doch bestätigt und uns empfiehlt in fünf Kilometer die Autobahn zu verlassen. In die Pedale tretend fluche ich vor mich hin. So wie es aussieht befinden wir uns auf einen 60 Kilometer weiten Umweg und das noch auf so einer schrecklichen Autobahn. “Verdammte russischen Karten!”, schimpfe ich. Tanja beruhigt mich. “Auch Umwege gehören zur Reise”, meint sie. Klar hat sie Recht. Auch Umwege sind ein Teil der Strecke. Doch auf einer Schnellstraße? Nein danke.

Tatsächlich finden wir die Abzweigung. Wir fragen einen Verkehrspolizisten der uns wieder auf eine große Ausfallstraße schickt. An einer heruntergekommenen staubigen Truckerbude legen wir nach über 50 Tageskilometern unsere erste Rast ein. Um sicher zu gehen fragen wir den Besitzer noch mal nach dem Weg. “Nein, nein auf dieser Straße seid ihr nicht richtig. Ihr müsst nach Rostow am Don zurück”, erschreckt er uns erneut. Wir fragen seinen Kollegen der wiederum unsere eingeschlagene Richtung bestätigt. Wir radeln weiter. “Laut GPS stimmt die Straße”, stelle ich beruhigt fest. Eine halbe Stunde später bin ich mir sicher. “Stimmt hundert Prozent!”, rufe ich Tanja freudig zu. “Na also. Sehr gut. Und was ist die Moral von der Geschichte?” “Wie meinst du das?” “Sich ärgern bringt nichts. Verschwendet nur die Energie.” “Ich und ärgern? Ist ein Fremdwort für mich. Habe mich nicht geärgert. Ärgere mich niemals!”, rufe ich über mich selbst lachend.

Um 17:00 Uhr fragen wir wieder einen Verkehrspolizisten der sich mit seiner Radarpistole auf Beutejagd befindet. “Eine Gastiniza? Da seid ihr vorbeigefahren. Die nächste kommt erst in 20 Kilometern.” Tanja und ich sehen uns erschrocken an. Unsere Tachos stehen bereits auf 87 Tageskilometern. “Das schaffen wir noch”, motiviere ich uns. Kaum lassen wir den Polizisten hinter uns meldet sich der böse Wind und lässt den Tag zu einer echten Herausforderung mutieren. Eine Stunde später reiße ich die rechte Hand zum Himmel. “100 Kilometer!”, rufe ich erfreut zum ersten Mal auf dieser Etappe diese magische Zahl auf dem Tacho zu lesen.

Es dämmert bereits als wir neben einem Dorf eine Kuhhirtin nach der Gastiniza fragen. Sie ruft einen gebrechlichen Mann zur Hilfe der hinkend über die Straße kommt. Dann gesellen sich noch ein paar Jugendliche mit ihren schrottreifen Fahrrädern dazu. Einstimmig schicken sie uns in die schmale Dorfstraße hinunter. “Immer geradeaus”, sagen sie. “Was meint dein Gefühl dazu?”, will Tanja wissen weil es mich in solchen Momenten meist gut berät. “Denke wir sollten in das Dorf radeln”, antworte ich zuversichtlich. Kaum haben wir die offene Hauptstraße verlassen dürfen wir uns in den Windschatten der kleinen Hütten und Häuser ducken. Schafe und Kühe werden auf den Wiesen und Feldern gehütet. Hunde bellen wenn sie die zwei eigenartigen Gespanne herannahen sehen. Ein Mütterchen schlurft auf den Stock gestützt über die schmale Fahrbahn. Freundlich heben wir die Hand. Scheu erwidert sie unseren Gruß. Die Sonne hat sich vor wenigen Minuten hinter der Horizontlinie verabschiedet und wirft ihr letztes Licht auf diese Seite der Erdkugel. Kinder spielen im vergehenden Tageslicht am Straßengraben, zeigen erregt in unsere Richtung und eilen heran. “Immer geradeaus”, weist uns ein Hirte den Weg mit bald ehrfürchtigem Blick. “Was aus Deutschland kommt ihr? Ist nicht wahr?”, wundert sich ein Tankwart. “Doch, doch”, sagen wir und fragen erneut nach dem Weg. “Dort vorne links, dann rechts”, erklärt er noch immer erstaunt. Kaum sind wir abgebogen überholt uns ein klappriger Lada. Es ist der Tankwart von eben. “Da vorne! Da vorne ist die Gastiniza!”, ruft er uns im Vorbeifahren zu. Ohne Zweifel hat er die Gelegenheit genutzt, um noch mal einen Blick auf die seltsamen Fremden zu werfen.

“Ja wir haben ein Zimmer!”, kreischt die ältere Besitzerin der Gastiniza mir freundlich ins Ohr. Außer vier Betten deren Matratzen eher mit Hängematten zu vergleichen sind, zwei kaputten Schränken, defekter Beleuchtung, sehr schmutzigen Wänden und einem großen Loch in der Fensterscheibe hat der Raum nichts zu bieten. Die Toilette ist einen Stock tiefer über eine schiefe Betontreppe zu erreichen. Wir schleppen unsere Bikes in den ersten Stock und stellen sie neben die Betten. Nach knapp 110 Tageskilometern speise ich noch die Bilder in den Laptop während Tanja zum duschen geht. Aus dem Nebenzimmer dringt lautes Gelächter. Die Inhaberin und ihre Freundinnen sitzen an einem Tisch und trinken Wodka. “Und ist das Wasser heiß?”, will ich wissen als Tanja mit rotem Gesicht wieder durch die knarrende Tür unser heutiges Heim betritt. “Das Wasser ist heiß aber zieh bitte deine Sourcesandalen nicht aus wenn du die Duschkabine betrittst.” “Warum?” “Ich wollte gerade den Duschraum verlassen da kam ein Frau herein. Völlig bekleidet. Verstehst du?” “Ehrlich gesagt nein.” “Na was macht eine angezogene Frau in einem Duschraum?” “Keine Ahnung?” “Eben, dachte ich mir auch. Wollte also wissen was sie da drin treibt und wartete einige Augenblicke. Dann hörte ich sie in die Dusche pullern.” “Ach was?” “Es sind die Frauen von nebenan. Die haben alle schon einen leichten Zacken in der Krone.” “Und du meinst die nutzen die Dusche als Toilette?” “Ja. Trotzdem, das Wasser ist heiß und wenn du nicht barfüßig hinein steigst tut es richtig gut.”

Wir freuen uns über Kommentare!

This site is registered on wpml.org as a development site.