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Tibet 1995-1996

Die schlimmste und gefährlichste Busfahrt unseres Lebens

(Auszug aus dem Tagebuch)

Mit wilden Gesten macht uns der Busfahrer verständlich, auf den vorletzten Sitzreihen Platz zu nehmen. Obwohl wir wissen, dass bei einer Überlandfahrt in alten Bussen die hinteren Reihen die unbequemsten sind, folgen wir den rauen Anweisungen des Chinesen und quetschen uns auf die viel zu schmalen und völlig durchgesessenen Plätze. „Setzt eure Mützen auf und vermummt euch mit euren Schals“, glauben wir seine weiteren Anweisungen zu verstehen. „Warum denn das?“, frage ich auf englisch, obwohl ich ahne, dass der unfreundliche Mann mich nicht verstehen kann. Er und sein Kassierer halten sich eine mit den Fingern symbolisierte Pistole an den Kopf und zeigen uns den Stern auf einer Mütze. Wir verstehen sofort und folgen auch diesmal wie auf Befehl.

Tanja und ich haben uns auf ein Abenteuer eingelassen, dessen Ausgang völlig ungewiss ist. Wegen der Reinkarnation des Panchen Lamas (des größten religiösen Führers in Tibet nach dem Dalai Lama) haben die chinesischen Behörden alle Landesgrenzen nach Tibet hermetisch von der Außenwelt abgeriegelt. Da die Chinesen den richtigen Panchen Lama verschwinden ließen, und, um mehr politischen Einfluss auf Tibet zu nehmen, einen eigenen Panchen Lama eingesetzt haben, rechnen sie mit Unruhen. Weil sie unter allen Umständen vermeiden wollen, dass dieser Coup an die Öffentlichkeit gerät, haben sie Tibet von der Außenwelt abgeschnitten. Da wir uns aber fest vorgenommen haben, unsere 30-jährige Expeditionsreise von Deutschland bis nach Südamerika ohne Flugzeug zu bewältigen, bleibt uns nichts andres übrig, als ab und zu auch Risiken einzugehen. Um von hier, dem nordwestlichen China, nach Nepal zu gelangen, müssen wir den Himalaja überqueren. Dazwischen befindet sich das nun abgeriegelte Tibet. Die einzige Möglichkeit für uns liegt darin, uns in diesem völlig heruntergekommenen Bus einschmuggeln zu lassen. Das ist der Grund, warum der Busfahrer und sein Kassierer umgerechnet 170,- DM pro Person – also den 12fachen Fahrpreis – abkassierten. Sollten wir bei diesem Abenteuer von der chinesischen Polizei entdeckt werden, riskieren wir im schlimmsten Fall eine Gefängnisstrafe oder bestenfalls den Rauswurf aus China. Wie sonst auch vertrauen wir auf unser Glück und dem übel gelaunten Busfahrer, der versprochen hat, uns nach Lhasa zu bringen. Sollten wir sämtliche Kontrollposten unbehelligt passieren, können wir uns in Tibet mit unseren chinesischen Visa relativ frei bewegen.

Zusammengekauert und eingemummt in winterlicher, chinesischer Militärkleidung, die uns auch als Tarnung dient, sitzen wir nun da und warten darauf, dass der alte Klapperkasten seine zweitägige Mammutfahrt endlich beginnt. Laut Aussagen anderer Reisender, die wir in den vergangenen Monaten getroffen hatten, wissen wir, dass eine der schlimmsten Busfahrten dieses Planeten auf uns wartet.

Verwundert beobachten wir, wie das jetzt schon ächzende Gefährt bis zum Bersten beladen wird. Selbst der Gang zwischen den Sitzreihen wird als Gepäckablage genutzt. Immer mehr Fahrgäste steigen ein, bis absolut jeder Platz belegt ist. Plötzlich kommt der Busfahrer wieder und gibt uns unmissverständlich zu verstehen, dass Tanja und ich nicht nebeneinander sitzen dürfen. „Polizei!“, scheint er auf Chinesisch zu schreien. Während Tanja sich jetzt mit einem Mönch und einer alten Frau einen Doppelsitz links vor mir teilt, setzt sich ein Tibeter neben mich. Sein überdicker Fellmantel und meine aufgeplusterte chinesischer Militärjacke tragen erheblich dazu bei, mir schon jetzt ein Zwangsjackengefühl zu verpassen.

Endlich, um 17:30 Uhr, rumpelt das museumsreife Fahrzeug los. Wir verlassen die Stadt Golmund in der Provinz Qinghai. Die Provinz ist geografisch ein Ausläufer des tibetischen Plateaus und besitzt den zweifelhaften Ruf, das Sibirien Chinas zu sein. Der Grund: Hier befindet sich ein Großteil der chinesischen Arbeitslager.

Wegen einiger kleiner Kontrollen, Tankstopps und Gründe, die für uns nicht ersichtlich sind, dauert es geschlagene zwei Stunden, bis wir die hässliche, unfreundliche Stadt hinter uns lassen. Wenn wir an Polizisten oder Kontrollpunkten vorbeifahren, weist uns der Fahrer an, uns zu ducken. Als sich der Bus um ca. 19:30 Uhr auf offenem Gelände befindet und die letzten Backsteinhäuser Golmunds immer kleiner werden, können wir endlich wieder aufrecht sitzen. Mein Rücken schmerzt jetzt schon höllisch und mir ist es ein Rätsel, wie wir die nächsten 1.166 Kilometer nach Lhasa überstehen sollen.

Die Fahrgäste scheinen gut gelaunt zu sein, denn die Tibeter beginnen zu singen. Manche von ihnen beten jetzt unaufhörlich ihre Mantras. Es dauert nicht lange, bis die Minderheit der Chinesen ebenfalls zu singen beginnt. Im Gegensatz zum tibetischen Gesang klingt der ihrige furchtbar falsch, vor allem ohrenbetäubend laut. Nur wenig später verstummen die Tibeter. Als hätte jeder Chinese ein Megaphon vor seinem Mund, schreien und unterhalten sie sich in einer Lautstärke, dass uns die Haare zu Berge stehen.

Schon eine Stunde später gestikuliert der Busfahrer wie wild, worauf wir uns hinter den Sitzen wieder klein machen. „Checkpost!“ hören wir einen tibetischen Passagier rufen. Erschrocken bücke ich mich hinunter. Kaum habe ich meinen Oberkörper auf die Schenkel gepresst, legt der Tibeter neben mir seinen dicken Pelzmantel über mich. In dem kleinen, nach ranziger Milch stinkenden Gefängnis harre ich der Dinge und beginne zu schwitzen. Es dauert nicht lange, bis ich Atemnot bekomme. So gut ich kann, ziehe ich die verwanzte Luft durch meine Lungen und frage mich, wie lange das mein Körper aushalten kann. Durch den Pelz dringen laute, befehlsroutinierte Stimmen. Soldaten oder Polizisten kontrollieren die Reisegenehmigungen und Papiere der Fahrgäste. “Was ist, wenn sie uns entdecken?”, frage ich mich ängstlich. Wie es wohl Tanja ergeht? Die Unwissenheit darüber, was da draußen vor sich geht, ist fast nicht auszuhalten. Angst beschleicht mich, kriecht mir in die überhitzten Knochen und ich beginne ein Vaterunser nach dem anderen zu beten. Was ist, wenn sie in den Bus kommen? „Mein Gott, ich will auf keinem Fall in einem Gefängnis landen“, denke ich. Nach meiner Schätzung sind schon mindestens 30 Minuten vergangen. Es kann nicht mehr lange dauern, bis ich mir vor Überhitzung den grausamen Pelzmantel vom Rücken reißen muss. Brooommm, brrrooomm, springt plötzlich der Dieselmotor wieder an. Holpernd und rumpelnd setzt unser Fahrzeug seine Fahrt fort. Es dauert nicht lange, bis das grinsende, freundliche Gesicht meines Nachbarn vor meinem verschwitzten Antlitz auftaucht und mich von seinem schützenden Mantel befreit. Er zeigt mir seinen nach oben gedrehten Daumen und freut sich mit uns, den ersten wichtigen Checkposten heil überstanden zu haben.

Die Nachbarin von Tanja zieht ihr mitleidig an der Mütze. „Du darfst sie ausziehen“, sagt sie wohl, worauf Tanja erleichtert die dicke Winterkappe von ihrem hochroten Kopf nimmt. Im Glauben, die größten Hürden hinter uns gelassen zu haben und ab jetzt freie Fahrt nach Lhasa zu besitzen, lächeln wir uns erleichtert an. Gut gelaunt beginne ich ein Gespräch mit meinem Nachbarn. „Wie heißt du?“, frage ich ihn auf englisch, was er offensichtlich falsch versteht und sofort seinen Sitzplatz für Tanja frei macht. Wegen der Sprachbarriere versuche ich ihm nicht zu erklären, was ich sagen wollte und bin froh, Tanja wieder an meiner Seite zu haben.

Ein Chinese neben uns raucht zu unserem Verdruss unaufhörlich übel riechende Zigaretten. Sein bellender Raucherhusten dröhnt schon in unseren Ohren. Immer wieder holt er mit einem kaum zu glaubenden „Ccchhhuud“ einen Teil seines Mageninhaltes nach oben und spuckt den grüngelben Eiter ungeniert neben Tanjas Fuß auf den Boden. Weil es im Bus keine Heizung gibt, gefriert das Zeug augenblicklich fest. Nur eine Stunde später befiehlt uns der Kapitän dieses dahinschlingernden Straßendampfers, wieder die alten Sitzpositionen einzunehmen. Erschrocken sehen wir uns an. „Meinst du, da kommt noch ein Kontrollposten?“, fragt Tanja. „Keine Ahnung. Besser wir folgen seinen Anweisungen“, antworte ich mit einem wachsend unguten Gefühl. Tatsächlich wird der Bus nur 10 Minuten später wieder gestoppt.

Nervenzerreißprobe

Schon seit einer halben Stunde kauere ich in der unbequemen, verkrümmten Haltung unter dem dicken Mantel meines Nachbarn. Diesmal habe ich den Fensterplatz bekommen. Wegen der enormen Kälte ist die Scheibe vereist. Vorsichtig blinzle ich durch eine Fellfalte auf das mit Eisblumen verzierte Glas, um zu sehen, was da draußen vor sich geht. Jedoch ist die Eiskruste so dick, dass rein gar nichts zu erkennen ist. Laute, aggressive Stimmfetzen dringen an meine Ohren. Einige Fahrgäste werden, sich lauthals beschwerend, aus dem Bus gezerrt. Mein Magen krampft sich zusammen. Eine Hitzewelle nach der anderen lässt mir den Schweiß aus den Poren fließen. Plötzlich bemerke ich, wie mein Nachbar aufsteht und seine Hand auf meinen Rücken abstützt. Was ist da bloß los? Mittlerweile sind bestimmt 45 Minuten vergangen. Eine befehlsgewohnte Männerstimme schmettert durch den Nachthimmel. „Oh Gott, sie sind im Bus“, schiesst es mir durch den Kopf. Die Polizisten scheinen jetzt Sitzreihe für Sitzreihe durchzugehen. Die bösen Stimmen kommen eindeutig näher. Panikartige Angst befällt mich und ich befürchte an meinem eigenen Schweißfluss zu ertrinken. In meinem Schädel hämmert es wie wild. Gedanken jagen mir durchs Gehirn und ich beginne mich zu verfluchen, mir eingebildet zu haben, dass unsere Fahrt nach Tibet unentdeckt bleiben könnte. „Was bin ich nur für ein Idiot!“ Der Polizist steht jetzt nur eine Sitzreihe vor mir und brüllt aus Leibeskräften. Ob er Tanja aufgespürt hat? Was für ein Erfolg muss es für einen chinesischen Polizisten sein, unter lauter Tibetern und Chinesen plötzlich einen Europäer zu entdecken, der ganz offensichtlich illegal über eine hermetisch abgeriegelte Grenze in eine der politisch sensibelsten Regionen Chinas einreisen will? Das dürfte für die hitzigen, profilneurotischen Beamten ein fantastischer Erfolg sein. Vielleicht bedeutet es für den Mann direkt neben mir die Beförderung? Meine Gedanken überschlagen sich, mein Rücken ist kurz vor dem Abbrechen und meine Nerven scheinen jeden Augenblick zu zerreißen. „Bitte, bitte“, flehe ich gen Himmel, „bitte lass´ uns hier heil rauskommen.“ Die unangenehme, scharfe Stimme schneidet weiterhin die dicke Luft. Wenn sie Tanja haben, werde ich mich ebenfalls zu erkennen geben. Ich muss ihr beistehen, denke ich und bin schon im Begriff den Fellmantel und die Decken, die man über mich gelegt hat, wegzuziehen. In letzter Sekunde halte ich mich zurück. Was ist, wenn der geifernde Polizist Tanja gar nicht entdeckt hat und ich grundlos aus der Versenkung auftauche? Ich würde uns ja glatt verraten. Was würde ich an ihrer Stelle tun, wenn sie mich erwischen sollten? Klar, auch sie würde sich zu erkennen geben, das Spiel wäre aus. Ich habe das Gefühl, mich übergeben zu müssen.

Meine Muskeln zittern. Mittlerweile dürfte über eine Stunde vergangen sein. Der Tibeter klopft mit seiner Hand auf meinen Rücken und drückt sich mit seinem Körper gegen mich. Das Ganze muss für einen Außenstehenden so aussehen, als wäre ich ein wilder Haufen alter, ranziger Decken. Auf einmal klingen die feindlichen Stimmen ab, werden leiser, und als der anlaufende Dieselmotor die Karosserie erzittern lässt, werde ich von einer Welle der Erleichterung druchflutet. Nur wenige Minuten danach befreit man uns von unserer Tarnung. Sofort blicke ich zu Tanja, die trotz ihres Lächelns so aussieht, als sei sie kurz vor einer Ohnmacht. „Das war knapp. Lange hätte ich es nicht mehr durchgehalten,“ stöhnt sie. “War’s dir auch so heiß?“, frage ich. „Heiß? Mein Gott, das ist gar kein Ausdruck. Ich bekam kaum Luft und dachte jeden Augenblick, die Besinnung zu verlieren. Der nette Mönch neben mir muss meine Notlage gespürt haben und hat zum Glück das Fenster einen Spalt geöffnet“.

Erst jetzt bemerke ich, dass einige Fahrgäste fehlen. Die Polizei hat sie offensichtlich mitgenommen. Obwohl alle Insassen hauptsächlich Tibeter sind und etwa ein Fünftel Chinesen, hatten einige von ihnen fehlerhafte oder keine Reisdokumente. Mir ist es ein Rätsel, wie wir unentdeckt blieben, aber wahrscheinlich hatten wir einfach nur Glück.

Mörderische Kälte – eine wahre TorTour

Weil es im Bus keine Heizung gibt, sind Stunden später unsere Füße zu Eis erstarrt. Draußen dürfte es mindestens minus 15 Grad kalt sein. Starker Wind bläst über das weite Land. Durch eine gebrochene Fensterscheibe vor uns zwängt sich ein grausig kalter Luftzug. Die tibetischen Mütter halten ihre Babys über den Gang der Sitzreihen. Ihr Urin plätschert auf den Blechboden, verschwindet unter dem Gepäck und ist nur Sekunden später gefroren. „Wenn wir nicht wollen, dass uns hier die Zehen abfrieren, müssen wir sie bewegen“. 300-mal krümme ich daraufhin die gefühllosen Zehenglieder, bis endlich wieder etwas Blut durch die verengten Adern pocht. Es dauert jedoch nicht lange, bis die Zehen wieder taub sind und ich gezwungen bin, das anstrengende Bewegungsspiel zu wiederholen. Es wäre schon toll, sich auf einer Busfahrt die Zehen abzufrieren. Ich kann ja verstehen, wenn Bergsteiger einen Zeh beim Gipfelsturm des Mount Everest verlieren. Aber wenn man auf einer Busfahrt seine Zehen verliert? Das wäre wohl eine Ironie des Schicksals. Obwohl: Im Reiseführer wird deutlich vor dieser Busfahrt gewarnt. Es soll keine Seltenheit sein, dass Menschen während dieser zwei bis drei Tage langen “TorTour” erfrieren. Um die Anstrengungen und die eisige Kälte besser ertragen zu können, pumpen sie sich mit Schlaftabletten voll und wachen dann nie mehr auf. Einige der Chinesen, die noch dazu absolut dürftig bekleidet sind, liegen tatsächlich völlig verkrümmt in ihren Sitzen und schlafen.

Manchmal vereinen sich die monotonen Fahrgeräusche mit entsetzlichem Würgen. Einer Chinesin direkt vor uns geht es definitiv nicht gut. Sie übergibt sich schon seit einer halben Stunde. Fetzen ihres Erbrochenen fliegen durch den eiskalten Fahrtwind in unsere Richtung. Kein Wunder, bei dieser Straße. Der Bus springt von einem Schlagloch zum anderen und schüttelt uns wie Fallobst durcheinander. Zu den Unannehmlichkeiten gesellen sich noch starke Kopfschmerzen, die wegen den anfänglichen Schwitzattacken höchstwahrscheinlich auf Flüssigkeitsmangel zurückzuführen sind.

Plötzlich beginnt direkt neben Tanja lautes Gezeter. Der kettenrauchende, spuckende Chinese schreit, als hätte ihn jemand angestochen. Wie ein Berserker brüllt er Tanja an. „Was um Gottes Willen ist denn jetzt los?“, rufe ich erschrocken. „Keine Ahnung. Ich habe ihm nur gesagt, er soll mir nicht ständig sein Knie gegen meinen Oberschenkel schlagen“, antwortet Tanja. Entsetzt muss ich mit ansehen, wie der aufbrausende Mann Tanja an der Jacke packt und aus ihrem Sitz zieht. Ich bin kurz davor, meine Faust in sein unansehnliches Gesicht zu versenken, als Tanja mich abrupt stoppt. „Ich mach das schon. Halt dich da raus ,“ keucht sie und beginnt ein lautes OM zu singen. „Oooohhhmmm! Oooohhhmmm! Oooohhhmmm!“, summt ihre Stimme durch den dahinbrausenden Bus. In der Zwischenzeit sind fast alle Fahrgäste hellwach. Die Tibeter sehen den immer noch laut schimpfenden Chinesen böse an. Fluchend lockert er seinen würgenden Griff und lässt Tanja wieder auf ihren Sitz sinken. „Puh, das hast du gut gemacht“, flüstere ich und frage mich, was wir auf dieser Höllenfahrt noch alles werden erleben müssen.

Wassermangel und schlechtes Essen

(Montag, 11.12. 1995)

Kurz bevor ich glaube, in die Hosen pinkeln zu müssen, hält der fahrende Alptraum für eine kurze Rast an. Es ist 10:00 Uhr am Morgen. Mit steifen Knochen und von den Erlebnissen der letzten 17 Stunden wie erschlagen, kriechen wir aus dem verbeulten Blechkasten. Wir befinden uns irgendwo in Tibet. Weit und breit ist nur karges, ödes Land zu sehen. Für die Schönheit dieser Landschaft haben wir kein Auge. Wir werden vielmehr von räudigen Hunden und Hochlandziegen empfangen. Sie suchen im Müll der einfachen Lastwagenkneipe nach Fressbarem. Riesige schwarze Raben, die aussehen wie vollgefressene Hühner, hüpfen auf der Straße hin und her.

Müde betreten wir das zugige Brettergestell der Raststätte, in der emsiges Treiben herrscht. Alle Fahrgäste beginnen irgendetwas für uns nicht Definierbares in sich hineinzulöffeln. Verzweifelt deuten wir auf eine Art Fleischklöße, die von all dem Undefinierbarem noch am appetitlichsten aussehen. Auf fettigen Tellern serviert uns die zahnlose alte Frau die Nahrung. Obwohl ich in den letzten 13 Reisejahren schon viel Verrücktes in mich hineinmampfen musste, dreht sich mir fast der Magen um und ich lasse den Teller unberührt stehen. Tanja ergeht es nicht viel anders. Gegen den Durst serviert man uns salzigen Tee mit ranziger Butter. Da wir vor dem trüben Wasser Angst haben (Bakterien), zwingen wir uns den Tee hinunter.

Unbefriedigt und immer noch unter starken Kopfschmerzen leidend, steigen wir wieder in den Bus. Nach dem Essen scheint das Rotzen, Kotzen und Husten der Fahrgäste seinen Höhepunkt zu erreichen. Oder liegt es daran, dass die meisten wieder wach sind? Die Stille der Nacht ist auf jeden Fall vorbei. Lautstark wird sich unterhalten und unendlich viel geraucht. Durch die Speiseabfälle im Gang, den gefrorenen Kinderurin und die menschlichen Ausdünstungen riecht es gottserbärmlich. Wenigstens legt der Fahrer etwa alle zwei Stunden eine Pinkelpause ein. Oder möchte er sich vorm Einschlafen retten? Mir ist es sowieso unverständlich, wie ein Mensch so viele Stunden ohne Pause hinterm Steuer sitzen kann. Zweifelsohne ist der Mann gedopt.

Plötzlich zischt es fürchterlich laut und der Bus hält aprupt an. Wir haben eine Reifenpanne. Kein Wunder bei der löchrigen Schotterpiste, die das Wort Straße mit Sicherheit nicht verdient. Während der Fahrer und sein Helfer den abgefahrenen Reifen mit einem anderen, ebenfalls abgefahrenen Reifen austauschen, sind viele Fahrgäste draußen auf dem windigen, offenen Gelände. Die meiste Fläche ist mit Schnee bedeckt. Es ist bitterkalt. Mein ehemaliger Nachbar, der mich mit seinem Mantel vor der Polizei geschützt hat, legt sich einfach flach auf den Rücken. Die Steine und der Schnee scheinen ihm nichts auszumachen. Ohne Zweifel haben diese Menschen eine andere Erdverbundenheit als die Chinesen oder wir Europäer, denke ich mir. Ich würde mich am liebsten neben ihn legen, um meinen Körper eindlich einmal wieder ausstrecken zu können.

Am späten Nachmittag erreichen wir erneut eine Raststätte. Diesmal haben wir die Auswahl zwischen einer völlig verschmutzten tibetischen oder absolut heruntergekommenen chinesischen Kneipe. „Ich kann nichts essen, mir ist schlecht“, klagt Tanja während ich einen völlig überteuerten Teller Reis mit Bohnen und Fleisch an den Tisch hole. Das Fleisch ist bei genauerer Betrachtzung pures Fett und die Soße ist so furchtbar scharf, dass ich mich am Ende mit dem blanken Reis begnüge.

Der Fahrer und sein Helfer nutzen die Rast, um den Reifen zu reparieren. Mit ihren Fingern und viel Spucke suchen sie das Loch im Schlauch. Sie sind stundenlang beschäftigt und ich kann mir gründlich die Beine vertreten. Mein tibetischer Retter kommt irgendwann zu mir und meint, ich solle hier nicht draußen herumlaufen. Er zupft mich am Ärmel und möchte mich in das stickige Restaurant ziehen. Als ich ihm mit Zeichensprache erkläre, draußen bleiben zu wollen deutet er auf meinen Schal, den ich mir als Tarnung um das Gesicht legen soll. „Ah, okay“, antworte ich ihm dankbar. Es wäre weniger gut, wenn mich hier ein Polizist entdeckt, denn noch sind wir nicht in Lhasa.

Kurz bevor es weitergeht, kommt der Helfer des Fahrers zu mir und versucht mir zu erklären, dass wir hier bereits im Randbezirk der Stadt Lhasa sind. Mit Gestik macht er mir verständlich, dass sie gleich unser Gepäck abladen werden. Im ersten Moment glaube ich an einen Scherz, doch der Mann lässt nicht locker, bis ich begreife, dass sie uns hier, mitten in der Pampa, tatsächlich aussetzen wollen. „Auf keinem Fall“, sage ich empört auf Deutsch, weil er außer chinesisch eh´ nichts versteht und meine Englischkenntnisse hier also völlig unnütz sind. „Ihr lasst das Gepäck mal schön auf dem Dach“, fluche ich laut, worauf der Mann mich einfach stehen lässt. Nach drei Stunden ist der Ersatzreifen geflickt und wir steigen ohne weitere Zwischenfälle in den Bus. Wieder werden wir eine weitere Nacht durchgeschüttelt. Unsere Kopfschmerzen steigern sich bis ins Unerträgliche, vermutlich eine beginnende Höhenkrankheit. Mittlerweile dürften wir uns auf 3.600 Meter befinden.

Die Frau vor uns übergibt sich wieder aus dem Fenster. „Wahrscheinlich ist es das Abendessen“, meine ich apathisch. Um von dem übel riechenden Sprühnebel so wenig wir möglich abzubekommen, halten wir uns die Hände vors Gesicht oder verstecken uns hinter unseren Schals. Leider hilft uns das wenig, denn aus welchen Gründen auch immer leert sie plötzlich ihren Mageninhalt in den eh schon verseuchten Gang. Selbst wenn wir eine Rast einlegen, bleibt die Erkrankte einfach sitzen und kotzt auf den Blechboden. Tanja kann immer wieder gerade noch rechtzeitig ihre Füße wegziehen …

In der Nacht wird die Stimmung zwischen den Tibetern und uns herzlicher. Ein Händler möchte uns ständig Schmuck und Glasperlen verkaufen. Er feixt und lacht und versucht uns auf wirklich lustige Weise von der hohen Qualität seines Bauchladens zu überzeugen. Als er an meiner dicken Winterhose zieht und mir unmissverständlich klar macht, ich solle sie ausziehen, bricht der gesamte Bus fast zusammen vor Lachen. Obwohl wir höchstwahrscheinlich alle unter der gnadenlosen Fahrt leiden, haben wir für einen Moment doch viel Spaß.

Der Schock sitzt tief

(Dienstag, 12.12.1995)

Als ich meine verschwollenen Augen öffne, bemerke ich einen fahlen Lichtstreifen am Horizont. Müde beobachte ich die eigenwillige Landschaft Tibets. Plötzlich wird es wieder laut im Bus. Die Menschen wecken sich gegenseitig auf, packen ihre kleinen Taschen zusammen und blicken gespannt aus dem Fenster. „Ich glaube wir sind bald da“, sage ich erwartungsvoll und blicke mehr auf als durch die verdreckte Scheibe. Immer mehr Häuser tauchen auf und ganz unerwartet sehe ich ihn. „Schnell, schau, da ist er!“ rufe ich, voller Freude auf den Potala, den Winterpalast des Dalai Lama blickend. „Wir haben es geschafft“, freut sich auch Tanja und gibt mir einen wunderbaeren Kuss.

„Was ist denn das? Sieht aus wie ein Checkposten. Sie mal die vielen Polizisten! Entsetzt schaue ich aus dem Fenster, während wir in den Busbahnhof von Lhasa einbiegen. Der Fahrer braucht uns diesmal nicht zu sagen, dass wir uns verstecken sollen. Sofort ducken wir uns und während viele Passagiere den Bus verlassen, kleben wir verzweifelt auf unseren Plätzen. Unter einer Decke kann ich draußen ein riesiges Getümmel beobachten. Mehrere Polizisten laufen um den Bus herum. Uns rutschen unsere Herzen in die Hosen. Wie sollen wir hier rauskommen ohne entdeckt zu werden? Und was, wenn man uns erwischt? „Die schicken uns glatt wieder zurück“, meine ich. „Oder sie sperren uns ein“, vermutet Tanja. Mir krampft sich wieder mein überforderter Magen zusammen. Kreidebleich beobachte ich möglichst unauffällig das Treiben außerhalb des Busses. „Sie laden das Gepäck vom Dach“, stelle ich fest. Gebannt verfolgen wir, wie unsere Rucksäcke vom Dach gehoben werden. Sollten sie jetzt gestohlen werden, wären wir absolut machtlos. Und wenn einer der Polizisten die Rucksäcke sieht, ist klar, dass da irgendwo Ausländer sind.

Vorsichtig hebe ich meinen Kopf, um zu sehen, was im Fahrgastraum geschieht. Als ich einen Polizisten erspähe, der sich nur wenige Meter neben uns mit dem Fahrer unterhält, klappe ich wie vom Pfeil getroffen nach vorne und kaure wieder hinter dem Sitz zusammen. „Sie sind ganz nah“, flüstere ich Tanja zu, damit sie sich um Gottes Willen nicht bewegt. Plötzlich packt mich eine Hand grob an der Schulter. „Das war’s“, sage ich resigniert und hebe meinen Kopf. Verblüfft sehe ich in das Gesicht des Fahrers, der uns befiehlt, sofort den Bus zu verlassen. Ohne zu zögern stehen wir auf und steigen langsam die Stufen ins Freie hinunter. Einige der tibetischen Passagiere und der Kassierer schaffen es, zwei Polizisten hinterm Bus zu beschäftigen, während uns führende Hände vor den Bus geleiten. Die Wintermütze tief in die Stirn gezogen und mit unserem dicken Schal vermummt, sind wir auf den ersten Blick von Einheimischen nicht zu unterscheiden. Alles geht jetzt blitzschnell. Unser Fahrer winkt einen Kleinbus herbei, der direkt vorm Führerhaus hält. Kaum gehen die Türen auf, schiebt man uns hinein. Andere Passanten werden grob zur Seite gedrückt. Wie von Zauberhand hieven helfende Hände unsere schweren Rucksäcke in den überfüllten Fahrgastraum und bevor sich die Türe schließen kann, schießt der Kleinbus davon.

„Haben wir es jetzt geschafft?“ fragt Tanja mit ungläubigen Augen. „Ich glaube schon“, sage ich, vor lauter Aufregung und Erschöpfung noch ganz schwindelig. „Ich hoffe, dass unser Aufenthalt nicht in der Art weitergeht“, meint Tanja, erschöpft lächelnd. „Meine Rede“. Die Erleichterung trägt mich wie auf Wolken.


Tibet 1995/1996

Tanja & Denis Katzer faszinierte die Landschaft mit ihren weiten, offenen Ebenen, ihren hoch emporragenden Bergen und ihrer hauchdünnen, kristallklaren Atmosphäre ebenso wie die würdevollen und zähen Menschen. Hingegen erinnerten sie die Bilder willkürlich zerstörter Klöster an die Tragödie der Besatzung und Unterdrückung.

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