Tausche Altlasten gegen Stricksocken und Hausmantel!
N 48°05'08.2'' E 44°11'34.1''Vieles geht mir beim Radeln durch den Kopf. Es ist immer wieder anders, von Reise zu Reise, von Expedition zu Expedition. Zum einen die Leichtigkeit des Seins, nur mit der Natur vereint mit Kamelen des Weges zu ziehen, durch Wüsten dieser Erde, dem Australischen Outback. (Red Earth Expedition 1999-2003) Dies ist natürlich in diesem Moment von der sehr romantischen Seite betrachtet, dürfen wir Naturgewalten und andere verschiedene Herausforderungen nicht vergessen. Im Outback errichteten wir am Ende des Tages unser Zelt an von uns gewählten Plätzen. Futter für die Tiere war ein wichtiges Kriterium. Schatten und viele andere Aspekte ebenfalls. Stempel und Registrierungen spielten zwar auch eine Rolle, aber in einem anderen Maß.
Im Hier und Jetzt radeln wir vorbei an Planwirtschaft. Es gibt oftmals, aus verschiedenen Gründen, nicht den geeigneten Platz, um ein Zelt aufzustellen. So sinniere ich, wie sehr es sich unterscheidet, in der reinen Natur unterwegs zu sein. Wo der Camper den Schutz der Natur suchen kann hin zu einer Reise in einer besiedelten Lebensform.
Es ist ein Geschenk so finde ich, Zeit zum Nachdenken zu haben. Aber auch die Zeit um Land und Leute auf mich wirken zu lassen. Manchmal würde ich mir noch mehr wünschen so gar nichts zu denken und einfach den Fluss des Fahrens zu genießen. Je mehr Kilometer wir an einem Tag zurücklegen, desto weniger erfasse ich natürlich von der Landschaft und von den Menschen.
Klar, ist es immer noch Hautnah, wenn Autofahrer freudig zuwinken und wir ihren Gruß erwidern. Weiter kreisen die Gedanken in meinem Kopf, dass es recht schade ist von einer Gastiniza zur anderen zu fahren. Wie sollen wir sehen, wie eine russische Familie lebt? Unter anderem ein wichtiger Grund unserer Reise.
Als wurde dieser Gedanke direkt erhört, fanden wir für die letzte Nacht tatsächlich keinen registrierten Übernachtungsplatz. Als ich Jurii fragte, ob wir unser Zelt aufstellen dürfen, dachte ich im ersten Moment nicht richtig gehört zu haben als er antwortete “In meinem Zuhause? Ja, das dürft ihr.”
Wirklich umwerfend ist die Gastfreundschaft dieser Familie. Jurii´s Frau Vala: ”Zelt aufstellen? Das kommt ja gar nicht in Frage. Wir haben genug Betten frei. Kochen werde ich auch sofort etwas für euch. Hebt eure Lebensmittel für die Weiterfahrt auf.”
Innerhalb kürzester Zeit fand ich mich in einem gemütlichen Hausmantel wieder, mit Füßen in dicke Stricksocken gesteckt. 64 Jahre später und nur etwa 80 Kilometer entfernt von dem Stalingrad, (heutiges Wolgograd) welches uns leider zur Zeit des 2. Weltkrieges bekannt wurde. Hier erleben wir als Deutsche von Russen so eine derartige Gastfreundschaft und Liebe, dass ich aufs Tiefste dankbar bin diese Zeilen schreiben zu dürfen:
Das die Welt im Wandel ist, dass so vieles nicht stimmt, was wir über andere Völker denken, was uns über andere erzählt wird und welche Altlasten sich in unserem Gedankengut eingenistet haben. Die tiefe Dankbarkeit, uns frei machen zu dürfen von Vorurteilen und Geschichten, die wir einst gehört haben. Hier und Heute dürfen wir neue, wunderschöne Völker verbindende Erlebnisse berichten und andere Menschen teilhaben lassen, um alle gemeinsam neues Gedankengut zu formen.
Großmutter Vala’s Kochkünste
Vala’s Frühstück ist einfach umwerfend. Die frisch gebackenen Krapfen sind echt der Hammer. Aber das selbst gemachte Pflaumenmus ist einfach unwiderstehlich. Ich könnte hineinspringen und mich darin wälzen. Heißhungrig essen wir alles durcheinander. “Esst nur, esst”, beginnt Vala uns sogleich aufzufordern mehr und schneller zu konsumieren. “Komm, komm Denis nimm doch noch mehr Krapfen.” “Ich kann nicht mehr. Mein Bauch platzt bald”, versuche ich mich zu wehren. “Ach du bist doch spindeldürr. Du musst auf jeden Fall mehr essen. Nimm noch von der Sahne. Das ist gut für dich. Auch du Tanja musst mehr essen. Ihr seid doch mit dem Rad unterwegs. Da benötigt man viel Kalorien. Ihr müsst essen”, treibt sie uns an und rückt dabei unaufhörlich die vollen Teller in Position. Tanja und ich geben unser Bestes bis unsere Bäuche keinen Bissen mehr zulassen. Dann hängen wir wirklich angeschlagen und überfressen in den Seilen und können uns kaum noch aus den Sitzen erheben. “Und wie weit ist die heutige Tagesetappe?”, will Tanja stöhnend wissen. “Na bis Wolgograd könnten es zwischen 80 und 100 Kilometer sein. Je nachdem wo wir eine Unterkunft finden”, antworte ich meinen vollen Bauch und die schmerzenden Oberschenkelmuskeln massierend. “Meinst du wir können fragen ob wir noch eine Nacht bleiben dürfen?”, fragt Tanja. “Ich denke wir sollten es versuchen.” “Aber auf der anderen Seite möchte ich mich nicht einfach selber einladen. Ist doch irgendwo unverschämt von uns”, beginnt Tanja zu zweifeln. “Ich frage einfach. Wir sehen schon wie die beiden darauf reagieren und machen unseren Entschluss davon abhängig”, schlage ich vor und äußere ganz vorsichtig unseren Wunsch ob wir noch einen Tag hier bleiben dürfen. Als Jurii versteht beginnt sein Gesicht vor Freude zu strahlen. “Aber natürlich dürft ihr noch bleiben. Das ist eine Ehre für uns. Ruht euch aus. Legt euch wieder hin. Wenn es euch nichts ausmacht kümmere ich mich jetzt um unsere Tiere. Wir sehen uns wieder zum Mittagessen”, sagt er und steht mit einem zufriedenen Gesichtausdruck auf und verlässt die Küche. Vala ist ebenfalls begeistert uns noch einen Tag bewirten zu dürfen. “Isst du Fisch?”, fragt sie Tanja freudig und begibt sich sofort in die Küche um ein weiteres Festmahl vorzubereiten.
Wieder sitzen wir da und sehen uns an. “Was für ein Geschenk. Welch eine Gastfreundschaft”, sage ich. Etwas verwirrt über die spontane Entscheidung jetzt nicht sofort die Räder laden zu müssen, um weitere 100 Kilometer in den Asphalt zu drücken, verharren wir noch einige Minuten in der Küche und genießen den Augenblick. Dann legt sich Tanja wieder auf den Diwan während ich ein wenig die Landkarten studiere.
Mittags werden wir wieder von Vala’s Kochkünsten in die Stühle gepresst. Es gibt wieder Bortsch mit Sahne, Kartoffeln in Cremsoße, gebratene kleine Fische, Pilze, Gurken, Eier, Weißbrot, Truthahnschlegel und zur Nachspeise Konfekt, Krapfen und Milchtee. Danach legen wir uns wieder auf das Kanapee und ruhen unsere geplagten Muskeln und jetzt auch Mägen aus. Um 17:00 Uhr fordert mich Tanja auf meinen bleischweren Körper zu erheben. “Komm lass uns ins Dorf gehen. Vielleicht können wir etwas für die Beiden im Magazin ergattern.” “Okay”, stöhne ich und erhebe mich schwerfällig. Es ist ein windiger Nachmittag. Der Staub weht über die Dorfpiste und verschleiert die Sonne. Spatzen sitzen in Gruppen auf dem Erdboden und schwirren bei unserem Näher kommen in die Luft nur um sich geschlossen auf ein Telefonkabel zu setzen. Enten schnattern und beschweren sich lauthals in ihrer Ruhe gestört zu werden. Sie watscheln über den Weg und setzen ihren gefederten Hintern in eine kleine Pfütze. Alte Häuser und eine ehemalige Fabrikanlage machen einen traurigen Eindruck auf uns. Etwas melancholisch werdend denke ich an Zuhause. Wie schön es dort ist und ich kann es kaum glauben als ich zum ersten Mal in meinem Reiseleben so etwas wie Heimweh verspüre. Dunkle Regenwolken wölben sich über die vergessene Siedlung und unterstützen meine Gefühle. Jurii hat uns erzählt das der Winter bald kommen wird. Das es hier zwischen minus 30 und 40 Grad kalt wird. Bei dem Gedanken alleine läuft mir der Schauer über den Rücken. Wir betreten das Magazin. Die Verkäuferin sieht uns verwundert an. Fragt uns wie es kommt das wir noch immer da sind. “Seid ihr bei Jurii zu Gast? Habt ihr eine Registrierung?”, will sie neugierig wissen. Als ich Registrierung höre erschrecke ich kurz. “Klar haben wir ein Visum”, antworte ich freundlich. Wir erstehen eine große Pralinenschachtel und eine edle Tafel Schokolade für Vala und für Jurii finden wir einen angepriesenen Exportwodka. Auch der kleine Enkel Costa geht nicht leer aus und bekommt von uns einen leckeren Fruchtsaft. Den Rucksack voller Schätze laufen wir durch das Dorf zurück zu unseren Gastgebern. Verwunderte Blicke der wenigen Menschen denen wir begegnen folgen uns. Als wir sie aber ansehen schauen sie schnell weg. Als hätten sie uns überhaupt nicht gesehen oder bemerkt, als würden wir zum Dorfbild gehören wie die verlassene Gastiniza. Wir grüßen trotzdem. Unser Gruß wird schüchtern erwidert. Der Wind weht uns den Staub in die Augen, fängt sich in den vielen alten Kabeln die über müden, schiefen Pfosten hängen. Die Stimmung an diesem spätherbstliche Tag in diesem Dorf ist nicht aufbauend. Mein Heimweh ist noch immer da.
“Ich habe für euch das Banja aufgeheizt”, empfängt und Jurii lachend als wir wieder sein Haus betreten. “Das ist ja wunderbar”, antworte ich und meine Stimmung hebt sich wieder etwas. Noch vor dem Abendessen genießen Tanja und ich die kleine Sauna und können uns den Straßenschmutz des vergangenen Tages vom Körper waschen. An diesem kühlem Abend ist es ein wunderbarer Ort um sich richtig aufzuwärmen. Wir kippen uns gegenseitig die Schüsseln mit heißem Wasser über den Kopf. Dann geht’s ins Haus zurück. Bevor wir uns aber an den Tisch setzen, um gemeinsam zu speisen, macht sich erstmal Jurii auf, um sein wöchentliches Bad in der Banja zu nehmen. Dann ist Vala dran und zum Schluss wird auch der kleine Costa gründlich abgeschrubbt. Dann ist es soweit. Alle frisch gewaschen und nach Seife duftend nehmen wir an dem runden Tisch neben dem Hitze speienden Ofen Platz. Obwohl ich kaum Hunger verspüre werden wir wieder angespornt unsere Mägen zu füllen. Wir stellen eine große Flasche Bier und eine Flasche mit leckeren Rotwein auf den Tisch. Vala holt sofort kleine Gläser für das Bier und für den Wein. “Was zu erst? Das Bier oder den Wein?”, fragt Jurii. “Wie du möchtest”, antworte ich. “Okay, dann erst der Wein. Nastrowjie”, prostet er uns zu und kippt sich in einem einzigen Schluck den guten Wein hinter die Kehle. “Nastrowjie”, sagt er sich wiederholend und das Bier folgt in gleicher Art und Geschwindigkeit. Nun, andere Länder andere Sitten, denke ich mir und tue es ihm mit dem Bier gleich. Den schweren Wein allerdings trinke ich dann doch Schlückchenweise und genieße seinen Geschmack. Es dauert nicht lange und die Flasche Wein ist hauptsächlich in Jurii’s Magen verschwunden. Er ist jetzt angeheitert und noch gesprächiger. Tanja und Vala haben sich ins Nebenzimmer zurückgezogen und sehen sich irgendetwas über Eiskunstlauf im Fernsehen an. Ich hingegen sitze mit jurii am Küchentisch und trinke Bier. Jurii hat auch extra eine Flasche teures Exportbier gekauft. Großzügig schenkt er nun mir das Glas voll. Wir unterhalten uns über den Kommunismus, über den Kapitalismus und die jetzige Politik. “Wir müssen uns selbst versorgen. Von unserer Regierung bekommen wir pro Person nur 3.000 Rubel (? 86,-) im Monat Rente. Das reicht nicht aus. Aber mit unseren Tieren, den Produkten aus dem Garten kommen wir schon zurecht. Ich bin mit unserem Präsidenten Wladimir Putin zufrieden. Den Kapitalismus finde ich nicht gut. Er ist genauso zum Untergang verurteilt wie unser Kommunismus”, erklärt er. “Nastrowjie”, prostet Jurii mir wieder lachend und mit zufriedenem Gesichtausdruck zu. “Nastrowjie”, erwidere ich und bedanke mich nochmals über seine Gastfreundschaft. Dann beginnt er über seine Vergangenheit zu erzählen. Darüber das er in Ostdeutschland drei Jahre als Soldat stationiert war. Das er in diesem Dorf geboren ist und seine Frau aus dem 20 Kilometer entferntem Nachbardorf stammt. “Wir sind Kalmücken, verstehst du?” “Kalmücken?”, frage ich. “Ja wir stammen von den Mongolen ab. Von Dschingis Khan wenn man es so sieht. Vom 15. bis zum 17.Jahrhundert lebten wir, die Kalmücken, ein nomadisches Leben und kämpften mit den Chinesen um Peking. Später zogen unsere Vorfahren in das osteuropäische Gebiet am unteren Lauf der Wolga. Aber der russisches Zar verfolgte uns und eine Gruppe mit etwa 300.000 Kalmücken flohen vor ihm nach China. Auf dem langen Weg wurden die Flüchtlinge von Russen und Turkvölkern überfallen. Nur ca. 100.000 von uns kamen im chinesischen Teil Turkistans an. Der damalige Kaiser Gaozong gab meinem Volk das Flussbecken des IIi wo wir uns niederlassen durften. Der andere Teil der Kalmücken blieb hier im Wolgagebiet wo wir noch heute leben”, berichtet er. Gespannt und vielfach nachfragend höre ich seine Geschichte. Dann wirkt der Alkohol und bleierne Müdigkeit lässt meine Aufmerksamkeit sinken. Bevor ich mich auf den Diwan zurückziehen kann nimmt mich Jurii am Arm und führt mich vor die Tür. Er deutet auf einen Eimer. “Wegen dem Bier verstehst du?” “Nein ehrlich gesagt nicht”, antworte ich. “Na wenn man soviel Bier trinkt muss man oft pinkeln. Du brauchst heute Nacht nicht bis in den Garten zur Toilette laufen. Pinkle in den Eimer hier. Das mache ich auch”, bietet er mir freundlich grinsend an. Tatsächlich dauert es nicht lange und meine Blase brüllt danach entleert zu werden. Müde tapse ich durchs Haus nach draußen. Kalter Regen empfängt mich. Als ich vom Plumpsklo zurückkomme bin ich tropfnass. Jurii wusste wovon er sprach. Klar, er hat Erfahrung und lebt hier schon sein gesamtes Leben. Der Eimer vor der Tür macht Sinn. Beim zweiten Mal freue ich mich nicht so weit durch den Regen gehen zu müssen und beim dritten Mal wird er zur Selbstverständlichkeit. Im Haus ist es affenheiß. Jurii hat es gut mit uns gemeint und den Ofen heftig angeschürt. Mein Thermometer zeigt 28 Grad Zimmertemperatur. Verwundert bin ich nur als ich an Vala`s Schlafraum vorbeilaufe. Ein Heizstrahler steht im Türrahmen und donnert seine zusätzliche Hitze hinein. Der kleine Costa, der bei ihr im Bett liegt, träumt unruhig. Kein Wunder, denke ich mir. Ihm ist bestimmt zu warm. Müde lege ich mich wieder auf das Sofa und falle in einen tiefen Schlaf.