Spielball der Naturgewalten
N 69°27’24.4’’ E 017°20’50.7’’Datum:
29.10.2020 bis 08.11.2020
Tag: 088 – 098
Land:
Norwegen
Ort:
Senja Steinfjord
Gesamtkilometer:
7491 km
Sonnenaufgang:
07:56 Uhr bis 08:44
Sonnenuntergang:
15:11 Uhr bis 14:24 Uhr
Temperatur Tag max:
8°
Temperatur Nacht min:
-5°
Wind- und Orkanböen:
80 km/h bis 120 km/h
(Fotos zum Tagebucheintrag finden Sie am Ende des Textes.)
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Mittlerweile sind wir seit über drei Wochen an unserem Traumplatz. Es ist November. Das Tageslicht hat sich auf knapp fünf Stunden reduziert. Weil es die Sonne kaum noch über die uns umgebenden Bergrücken schafft, haben wir das Gefühl, als würde es gar nicht mehr richtig hell. Ich nutze das wenige Tageslicht dafür, um mit Ajaci sein Lieblingsspiel „Fang den Ball“, spiele, während Tanja mit ihm mehrfach am Tag längere Spaziergänge am Strand unternimmt. Der Wind kommt und geht. Manchmal wandelt er sich in einen Sturm, manchmal in einen Orkan. Die Temperaturen schwanken zwischen minus 5° in der Nacht und plus 8° Grad am Tag. Manchmal wachen wir auf und der Strand und die Berge sind mit einer weißen frostigen Schicht überzogen. Manchmal wachen wir auf und die weiße Pracht ist von massivem Dauerregen weggespült worden. An manchen Tagen zeigt sich die Natur von ihrer lieblichen und an anderen Tagen von ihrer rauen Seite. Immer wieder ziehen schwere, dunkle Wolken über die Bucht, die sich ab und an mit einem heftigen Hagelschauer entladen und das Meer zum Kochen bringen. Kaum sind sie weitergezogen, wölbt sich ein Regenbogen von West nach Ost über den Steinfjord und wenn wir Glück haben, entdecken wir einen Seehund in den Wellen spielen. Es ist eine Welt der Gegensätze und obzwar wir uns manchmal wie ein Spielball der Naturgewalten fühlen, sind wir glücklich.
Auch wenn wir uns nicht bewegen und man meinen könnte, dadurch nichts zu erleben, erfahren wir genau das Gegenteil. Durch unseren Stillstand tauchen wir immer weiter in die Tiefe dieses wunderbaren Ortes ein. Ich habe das Gefühl, dass wir uns nicht horizontal, sondern vertikal bewegen. Stillstand ist für uns also eine Reise ins Innere unserer Mutter Erde und somit auch ins Innere unseres Seins. Es ist nicht zum ersten Mal, dass wir so eine Erfahrung machen dürfen. Auch während unserer Wüstendurchquerungen erlebten wir Ähnliches. Umso länger der Zustand der vermeintlichen Bewegungslosigkeit anhält, desto mehr wandelt er sich in eine Bewegung in eine andere, aber doch reale Welt. Ich sitze da, blicke aus dem Fenster auf die aufgewühlte See und spüre das Leben in mir pulsieren. Zu gerne würde ich hier einige Monate, vielleicht sogar den ganzen Winter verweilen, aber wie Tanja schon öfter gesagt hat, bekommt der Mensch nie genug. Dadurch, dass wir jetzt länger bleiben dürfen als geplant, möchte ich mit dem Zeitgewinn zufrieden sein. Und doch formt sich der Wunsch in mir einmal solange an einem wunderbaren Ort wie diesen bleiben zu dürfen, bis der eigene innere Drang mich auffordert weiterzuziehen.
Fynia und Elan besuchen uns immer wieder und bringen leckere Waffeln vorbei. Tanja geht mit ihnen immer öfter spazieren. So entsteht eine angenehme Verbindung aus der, wenn wir noch länger bleiben würden, eine Freundschaft entstehen könnte. „Stell dir vor, was mir Nora erzählt hat“, eröffnet Tanja ein Gespräch nachdem sie mit Ajaci in die Terra gekommen ist. „Du meinst Nora, die bei Wind und Wetter bald jeden Tag mit ihrem Pudel am Strand spazieren geht?“, frage ich, weil ich mit den Namen von Tanjas Bekanntschaften langsam durcheinanderkomme. „Genau die.“ „Ja und was hat sie erzählt?“, frage ich nach. „Ich weiß jetzt, warum sie uns gegenüber so scheu war. Sie hat Angst vor fremden Hunden, vor allem vor großen Hunden.“ „Warum? Hat sie schlechte Erfahrungen gemacht?“ „Ganz genau. Sie wurde von einem Terrier furchtbar gebissen und leidet noch heute unter der Verletzung.“ „Wie ist das denn geschehen?“ „Sie hat in den Müllcontainer neben dem Toilettenhäuschen ihren Abfall hineingeworfen, als ein frei laufender Hund um die Ecke kam und sich ohne Vorwarnung in ihren Unterarm verbiss. In ihrer Panik schlug sie auf den Hund ein, der ließ aber nicht locker. Sie brüllte vor Schmerz, bis zwei Passantinnen herbeieilten und mit vereinten Kräften versuchten, dem Hund das Maul aufzureißen.“ „Wow klingt beängstigend. Haben sie es geschafft?“ „Ja, der Hund hat dann etwas verdutzt geschaut und sich getrollt. Nachdem sein Herrchen wenig später aus dem Toilettenhäuschen kam, sagte er, dass sein Hund sehr friedlich sei und noch nie jemanden gebissen hatte.“ „Der Klassiker. Das sagen wir Hundebesitzer immer, aber ein Hund bleibt ein Hund. Wahrscheinlich dachte der Terrier seinen Platz verteidigen zu müssen.“ „Kann schon sein. Auf jeden Fall entschuldigte sich der Hundebesitzer mehrfach und fuhr Nora ins Krankenhaus. Seither verspürt sie eine Heidenangst vor fremden Hunden. Ajaci streichelt sie aber mittlerweile. Sie hat sich in ihn richtig verkuckt und meint, dass er ihr guttut.“ „Ajaci unser Therapiehund“, sage ich stolz ihm sein Fell streichelnd…