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Ostanatolien 1991

Am Ende der Welt

(Auszug aus dem Tagebuch)

Die raue Landschaft ist beeindruckend, ja wildromantisch. Sie stellt alles in den Schatten, was ich bislang in der Türkei gesehen habe. Das ist also das abgelegene Ostanatolien mit seinen kurdischen Einwohnern, die den Behörden in Ankara so viel Kopfzerbrechen bereiten. Jetzt, Ende November, ist es bereits bitter kalt. Große Schneefelder bedecken teilweise die Ebenen und vereinen sich an manchen Stellen mit den Flanken der bis zu 5000 Meter hohen Berge. Ewige Steinwüsten, rot glühende Felsen und unendlich viele Täler, in denen Menschen in einfachen Lehmhütten ärmlich leben und den Naturgewalten trotzen, prägen das Bild dieser Region.

Auf der anstrengenden Busfahrt – scheinbar bis ans Ende der Welt – haben mir die vielen, bis zu den Zähnen bewaffneten Soldaten Angst eingejagt. „Nicht fotografieren!“ riefen sie bedrohlich, als ich eine Gruppe teetrinkender Männer ablichten wollte. Die Missstimmung zwischen der hiesigen Bevölkerung und den Türken ist an allen Ecken und Enden präsent und spürbar.

Wispernde Mauern

Neugierig klettere ich durch den imposanten Ruinenkomplex des Ishak Palastes, der im 17. Jahrhundert von einem kurdischen Herrscher erbaut worden ist. Ich wandle fasziniert durch das alte Gebäude und die Moschee. Als sich der kalte Wind in den ehrwürdigen Mauerecken fängt, hört sich das an wie das Wispern unsichtbarer Stimmen aus vergessenen Zeiten. Weil sich hier im Winter keine Touristen aufhalten, bin ich mutterseelenallein. Mir ist ein wenig unheimlich zumute, trotzdem lasse ich mich von meinen Gefühlen nicht beeinträchtigen und genieße die Einsamkeit an diesem beeindruckenden Ort unweit der iranischen Grenze.

Auf einem Fleckchen Erde oberhalb des Palastes setze ich mich auf einen Stein und blicke in die Weite. Die Häuser von der Grenzstadt Dogubayazit ducken sich flach auf die braune Erde. Der berühmte Berg Ararat streckt seinen 5.165 Meter hohen Gipfel in den tiefblauen Himmel und lädt zu einer Besteigung ein. Leider ist es dafür zu spät, die Behörden haben wegen Wassermangel schon vor sechs Wochen die Führungen eingestellt.
Als die Sonne bereits sehr tief steht und die Mauern, Dächer und Kuppeln des Palastes in rotem Licht erglühen lässt, begebe ich mich auf den sechs Kilometer langen Rückweg zur Stadt.

Beinahe von Hunden zerfleischt

Ich bin gerade erst ein paar Minuten unterwegs, als ich aus der Ferne drei große Hunde in meine Richtung rennen sehe. Etwas verwundert behalte ich sie im Auge und folge der sich ins Tal windenden schmalen Straße. „Die haben es auf mich abgesehen“, sage ich zu mir. Verwirrt suche ich die Gegend nach möglichen Hundebesitzern ab, doch ich kann niemanden entdecken, der die jetzt immer lauter bellenden Köder zurückrufen könnte. Eilig greife ich in meine Hosentasche und zerre nervös die kleine Sprühdose mit dem Reizgas hervor. Aus Erfahrung reise ich schon seit Jahren nie ohne dieses Reizgas. Schon in Südamerika hat mir der Inhalt dieses Fläschchens das Leben gerettet. Kaum halte ich das Tränengas in meinen Händen, bin ich von den drei hochaggressiven Hunden umstellt. Obwohl mir das Herz fast in die Hose rutscht, bleibe ich stehen und blicke den zähnefletschenden Angreifern in die Augen. Die Hunde scheinen abzuwägen, von welcher Seite sie mich am besten angreifen können. Als hätten sie sich abgesprochen, umlaufen sie mich in einem Sicherheitsabstand von etwa 10 Metern. Ich muss mich ständig um die eigene Achse drehen, um keinen von ihnen aus den Augen zu verlieren. Plötzlich, als hätten sie ein Kommando bekommen, springen sie alle drei auf einmal los. Als das aus dem Fläschchen herausschießende Gas einen der großen Hirtenhunde trifft, heult er auf und bricht schlagartig seinen Angriff ab. Wie von der Tarantel gestochen schleudere ich meinen Körper um 180° herum und erwische in letzter Sekunde den zweiten Köder im Flug. Er fällt wie ein gefällter Baum kurz vor meinen Füßen auf den Boden und zieht sich ebenfalls winselnd zurück. Der Dritte von ihnen bricht daraufhin seine Attacke ab und trottet seinen Kameraden hinterher.
Ich bin verblüfft, die Tiere geben anscheinend nicht auf. Wie die Wölfe umrunden sie mich wieder und warten offenbar auf eine passende Gelegenheit, mich ein weiteres Mal anzufallen. Wegen des starken Windes scheinen sie nicht viel von dem Tränengas abbekommen zu haben, sonst hätten sie mit Sicherheit Fersengeld gegeben.

Mit wachsender Panik bemerke ich, dass das Fläschchen Tränengas fast leer ist. Einen zweiten Angriff werde ich kaum noch abwehren können. Meine Gedanken rasen, überschlagen sich. Irgendwo muss es jemand geben, der die Tiere auf mich angesetzt hat. Ohne Zweifel sind es gut ausgebildete Hirtenhunde, die wissen, wie sie ihre Beute jagen müssen, um sie zu schlagen. Aus Erzählungen und Erfahrung weiß ich, dass dies eine bewährte Möglichkeit ist, Touristen auszurauben. Wen will man zur Rechenschaft ziehen? Wer ist der Täter, wenn die Hunde, nachdem sie ihr Opfer zerfleischt haben, verschwinden? Wahrscheinlich wartet ihr Besitzer hinter einem nahen Felsen, bis es geschehen ist, um mir dann alles Verwertbare zu nehmen. Da ich mein Geld, die Traveller-Schecks, Pass und alles andere, was ich nicht in dem unsicheren, billigen Hotelzimmer lassen konnte, an mir trage, wird der verbrecherische Hundebesitzer ein ziemliches Vermögen machen.

Verzweifelt drehe ich mich mit den Hunden im Kreis. Ob das mein Ende ist? Geht es mir durch den Kopf. Bevor ich noch einen weiteren Gedanken fassen kann, greifen die grimmigen Vierbeiner wieder an. Geistesgegenwärtig bücke ich mich, hebe einen faustgroßen Stein und schleudere ihn mit der Kraft der Verzweiflung auf den ersten Angreifer. Der Stein trifft ihn mit voller Wucht an der Hüfte. Als hätte ihn eine Kugel getroffen, reißt er sein Hinterteil ein Stück zur Seite, worauf er unter schrecklichem Gejaule auf und davon rennt. Seine Artgenossen sind offensichtlich eingeschüchtert und rasen ihrem Leittier hinterher. Mit befreienden Schreien schleudere ich ihnen noch ein paar Steine nach, als urplötzlich ein Mann hinter mir auftaucht. Er grüßt mich freundlich. Noch voll unter Anspannung hebe ich ebenfalls meine Hand zum Gruß. Ob er der Hundebesitzer ist? Schnell sammle ich weiter Steine von der Schotterstraße und stecke sie mir in die Taschen. Der hagere, groß gewachsene Mann dreht sich noch mal nach mir um und verschwindet genauso, wie er gekommen ist hinter einem nahen Felsvorsprung…


Ostanatolien 1991/1992

Die raue Landschaft ist beeindruckend, ja wild romantisch. Große Schneefelder bedecken teilweise die Ebenen und vereinen sich an manchen Stellen mit den Flanken der bis zu 5000 Meter hohen Berge. Ewige Steinwüsten, rot glühende Felsen und unendliche Täler bilden für Tanja und Denis Katzer das Tor nach Persien.

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