Mit Gott unterwegs
N 51°50'17.8'' E 107°35'36.5''Tag: 83-84
Sonnenaufgang:
07:08 Uhr
Sonnenuntergang:
20:28 Uhr
Luftlinie:
40.71 Km
Tageskilometer:
68.47 Km
Gesamtkilometer:
13639.56 Km
Bodenbeschaffenheit:
Asphalt
Temperatur – Tag (Maximum):
14 °C
Temperatur – Tag (Minimum):
3 °C
Temperatur – Nacht:
-1 °C
Breitengrad:
51°50’17.8“
Längengrad:
107°35’36.5“
Maximale Höhe:
680 m über dem Meer
Maximale Tiefe:
440 m über dem Meer
Aufbruchzeit:
10.00 Uhr
Ankunftszeit:
17:30 Uhr
Durchschnittsgeschwindigkeit:
14,32 Km/h
Bei ca. drei Grad plus hängt dichter Nebel über dem Sporthotel. Es ist unangenehm nasskalt und Wasser tropft von den Dächern. Es dauert jedoch nicht lange und die Sonne bricht mit ihren scharfen Strahlen durch. Als wir unsere Pedale kreisen lassen, werden wir seit fünf Tagen zum ersten Mal wieder mit einem klaren, blauen Himmel beglückt. Schnell lassen wir das armselige Dorf hinter uns. Wir sind froh weiterreisen zu dürfen, wogegen die meisten Menschen hier in ihrem teils traurigen Schicksal der Armut gefangen bleiben. Der Meister ist uns wohl gesonnen und wir kommen ungebremst voran. Im Örtchen Tataurowo führt uns die Straße in Richtung Südosten. Wir lassen hier endgültig die Region des Baikals hinter uns. Hatten wir gehofft endgültig die Berge hinter uns gelassen zu haben, werden wir erneut von einem knapp 700 Meter hohen Pass überrascht. Kilometerlang geht es acht bis 12 Prozent in die Höhe. Mein Knie meldet sich. Ich beiße die Zähne zusammen und trete mein Ross weiter. Tanja schiebt. Oben angekommen liegen unzählige Münzen auf und neben der Straße. Um den Göttern zu ehren und für sich selbst Glück und Gesundheit zu wünschen, wirft nahezu jeder Autofahrer kleine Geldstücke aus dem Fenster. Für einige Menschen ist dies eine gute Möglichkeit, um ein wenig Geld zu verdienen. Kopf nach unten gebeugt suchen sie jeden Quadratmeter nach den besten und wertvollsten Münzen ab. Weil ich auf Tanja warte habe ich die Möglichkeit die Geldsammler zu beobachten. Seltsamerweise werden alle kleinen Geldstückchen wie 10 oder 20 Kopeken (Kaufkraft vergleichbar mit 10 oder 20 Eurocent) ignoriert. Wenn man bedenkt, dass hier mehrere Kilogramm an Kopeken herumliegen, ist das für mich nicht nachvollziehbar.
Für die Talfahrt ziehen wir uns einen Windstopper über. Nachdem wir auf der Strecke zwischen Krasnojarsk und hier 9.961 Höhenmeter überwunden haben, lassen wir nun unsere Sumobikes vom letzten Berg, vor der Stadt Ulan-Ude, ins Tal rollen. Wir treffen wieder auf die breite Selenga, die sich gemächlich in Richtung ihres Zieles, dem Baikal, schlängelt. Die Talsenke wird zusehend weiter. Viele Dörfer reihen sich an den Südhängen der auslaufenden Berge. Stählerne Eisenbahnbrücken führen über den Fluss. Ewig lange Güterzüge der Transsibirischen Eisenbahn donnern alle paar Minuten darüber. Manche der Loks ziehen mehr als 75 Waggongs voller Kohle, Gas oder andere Rohstoffe hinter sich her.
Plötzlich entdecke ich eine anfänglich nicht zu identifizierende Form, die uns auf der linken Fahrspur langsam entgegenkommt. “Das ist ein Langstreckenradler!”, erkenne ich erfreut, weil wir bisher kaum welchen begegnet sind. “Priwet”, (Hallo) begrüße ich den Russen, der sein schwer beladenes Rad gegen den Wind schiebt. “Priwet”, lacht er herzhaft, meinen Gruß erwidernd. “Menja sawut Nicolai”, (“Ich heiße Nicolai”) stellt er sich sogleich höflich vor. Sofort packt Nicolai einen russischen Autoatlas aus, um uns seine Route zu zeigen. “Ich komme vom Örtchen Naukam, dem nordöstlichsten Punkt Russlands, direkt an der Beringstraße. Von dort sind es nur noch 84 Kilometer bis nach Alaska.” “Oh Gott, das ist aber weit.” “Ja, 13.000 Kilometer. Ich werde jetzt bis nach Sankt Petersburg und dann nach Moskau reisen.” “Also eine totale Durchquerung deines Landes?” “Ja.” “Wie lange bist du denn schon unterwegs?” “ 2 ½ Jahre.” “Und was machst du im Winter?” “Genauso wie im Sommer. Ich schlafe im Zelt.” “Auch bei minus 40 Grad? Ist das nicht zu kalt?” “Ach was. Ich reise mit Gott. Mir ist nie kalt. Ha, ha, ha”, lacht der Vierundfünfzigjährige und deutet auf eine 50 × 50 Zentimeter große Ikone, die er vor seinem Lenker befestigt hat. “Ist doch sehr schwer mit der Ikone gegen den Wind zu radeln?”, frage ich, denn der Wind fängt sich in dem großen Bilderrahmen wie in einem Segel. “Ach nein. Sie hilft mir. Gott hilft mir immer und überall.” “Willst du Nicolai deine letzte Samba Schokowaffel von Rapunzel schenken?”, fragt mich Tanja, von seiner enormen Leistung angetan. “Aber natürlich”, freue ich mich über ihre Idee und hole die Kostbarkeit sofort aus meiner Lenkertasche. Während unseres Gespräches brausen die Autos dicht an uns vorüber. “Ach ihr! Passt doch auf! Na, nicht so dicht! Ja! Ja! Immer vorbeifahren! Ha, ha, ha!”, ruft Nicolai lachend und winkt oder schimpft auf die Autofahrer. Er grollt ihnen nicht. Ganz im Gegenteil hat er seinen Frieden mit den rasenden Blechhaufen geschlossen. Es ist absolut fühlbar, dass er hinter jedem Auto das Individuum Mensch am Steuer sieht. “Äh, hallo! Komm doch bitte mal her und mach ein Bild von uns!”, ruft er einen einsamen Wanderer zu, der gerade am Straßenrand entlang marschiert. Der Angesprochene unterbricht tatsächlich seine Wanderung, begrüßt uns freundlich und nimmt Nicolais und unsere Kamera, um den denkwürdigen Augenblick festzuhalten. “Schasliwa Putie, Da ßwidanja”, (Gute Reise, auf Wiedersehen) wünscht er uns allen und setzt seinen Marsch in Richtung Ulan-Ude fort. “Wir könnten auch noch ein Travellunchpackung entbehren”, schlägt Tanja vor, weswegen wir Nicolai noch eine unserer wertvollen gefriergetrockneten Fertignahrung schenken. “Aber nein. Vielen Dank. Ich habe doch schon den Riegel von euch”, versucht Nicolai bescheiden abzulehnen. “Das kommt mit großer Freude von Gott”, sage ich, worauf er die Packung gerne entgegennimmt. “Hier, da habe ich auch ein kleines Podarok (Geschenk) für euch. Das radle ich schon seit über 10.000 Kilometer mit mir”, erklärt er und reicht uns eine kleines Bildchen hinter dessen Plastikrähmchen Mutter Maria, Jesus und der heilige Nicolai zu sehen sind. “Aber das können wir doch nicht annehmen”, versuchen wir abzulehnen. “Ha, ha, ha, Aber klar könnt ihr das annehmen. Ich freue mich es euch geben zu dürfen. Wird euch Glück bringen und ebenfalls schützen”, meint er, worauf wir ihm eine unserer Autogrammkarten überreichen. “Vielen Dank. Das wird mir in Erinnerung bleiben”, sagt er, sie sofort wegsteckend. “Bevor wir gehen haben wir noch eine Kleinigkeit für dich”, meint Tanja, eine gelbe Glücksblume von ihrer Radbeleuchtung abziehend. Sofort nehme ich den Anlass war und stülpe sie über Nicolais Radbeleuchtung. “Das ist wirklich nett von euch”, strahlt er sich noch mal bedankend. Dann verabschieden wir uns und setzen unsere Radreisen in verschiedenen Richtungen fort.
Nach 65 Kilometern erreichen wir Ulan-Ude, die Hauptstadt der so genannten burjatisch-mongolischen Republik. Der Verkehr ist im Vergleich zu Irkutsk entschieden gelassener, obwohl auch hier knapp 400.000 Menschen leben. Wie bei fast allen größeren Städten in der Baikalregion, liegt der Ursprung von Ulan-Ude in einer Kosakenfestung, die 1666 mit ein paar Blockhäusern am Fluss Uda gegründet wurde. “Tühht! Tühht! Tühht!” hupt es bald unaufhörlich. Im Vergleich zum sonstigen Russland scheinen uns die Burjaten noch heftiger zu begrüßen als gewohnt. Sie winken ungestüm und lachen herzhaft. Wenn wir an der Ampel zum Stehen kommen, fragen uns die einen oder anderen nachdem Woher und Wohin. Es ist fast so wie in Kasachstan. Auch dort waren wir mit unseren Roadtrains bald immer die absolute Attraktion.
Mit burjatischen Symbolen verzierte Plattenbauten säumen die Hauptstraße. Kaum noch vorstellbar, dass hier einmal Ewenken aus der nahen Taiga anritten, um mit edlen Pelzen zu handeln. Oder das Chinesen teure Stoffe anpriesen und burjatische Viehzüchter Rinder- und Pferdeherden auf dem Marktplatz trieben. Im Zentrum finden wir eine ordentliche Unterkunft. Hier planen wir die Strecke bis zur Mongolischen- Russischen Grenze und unseren Abschied von einem der schönsten und landschaftlich spektakulärsten Ländern unserer Erde; Sibirien.