Krasnojarsk und wieder vom Himmel geschickte Helfer
N 56°00'52.3'' E 092°53'08.0''Tag: 121-122
Sonnenaufgang:
07:28 – 07:30 Uhr
Sonnenuntergang:
19:56 – 19:53 Uhr
Gesamtkilometer:
10845.80 Km
Temperatur – Tag (Maximum):
14 °C
Temperatur – Tag (Minimum):
3 °C
Breitengrad:
56°00’52.3“
Längengrad:
092°53’08.0“
Obwohl wir gestern einen aufregenden und anstrengenden Tag erlebten kann ich in dem fensterlosen Klosterkeller kaum schlafen. Alpträume plagen mich und Immer wieder wache ich schweißgebadet auf. Am Morgen fühle ich mich wie gerädert. Müde liege ich auf dem Brett, welches meine Matratze ist, schalte die Zimmerbeleuchtung an und starre zur schmutzigen Kellerdecke. Tanjas Bettgestell steht in einem winzigen Nebenraum. Sie scheint noch zu schlafen denn aus der offen stehenden Tür gähnt mich Dunkelheit an. Ich lasse meinen Blick über die orthodoxen Heiligenbilder schweifen, die überall an den Wänden hängen. Dann folgen meine Augen den unmittelbar neben mir verlaufenden Abwasserohren. Eine Nonne scheint ihre Hässlichkeit auch gestört zu haben, davon zeugt zumindest der darum gewickelte Gold bestickte Stoff. In bald regelmäßigen Abständen rauscht es laut. Da sich die Klostertoiletten direkt über uns befinden weiß ich warum zu dieser frühen Morgenstunde in den alten Leitungen Hochbetrieb herrscht.
Ich denke an das Kloster Marta si Maria in Moldawien, in dem wir uns so wohl fühlten, dass es uns selbst nach einmonatigem Aufenthalt schwer viel den hoch spirituellen, harmonischen Ort mit seinen wunderbaren Menschen wieder zu verlassen. Auch im Kloster Iwerekiie von Samara fühlten wir uns nach kurzer Zeit wie Zuhause, denn die Nonnen hatten uns schnell als Gäste akzeptiert und ins Herz geschlossen. Und jetzt liegen wir hier völlig unklösterlich neben Abwasserohren in einem schmutzigen Keller. Aber was habe ich mir erwartet? Jedes Klosters ist anders und nicht überall ist das Geld vorhanden, um für Gäste eine menschenwürdige und schöne Unterkunft zu bauen. Abgesehen davon sind wir an dem heiligen Ort mitten in der Nacht angekommen und haben trotzdem ein Bett zum Schlafen bekommen. Wahrscheinlich ist dieser Keller mit seinen vier kleinen Räumen, der auch gleichzeitig Lagerstätte für Bilderrahmen ist, der einzige Gästetrakt des Klosters.
Trotz meiner Einsicht und Verständnis für unsere Situation überfällt mich augenblicklich eine melancholische Stimmung. “Ob es daran liegt hier unten kein Tageslicht zu sehen? An dem Schmutz? An der Überanstrengung der letzten Tage? An dem abrupten Ende unserer Etappe? An der aufkommenden Furcht diese Welt hier verlassen zu müssen, um in die Welt meines Heimatlandes wieder einzutauchen? Habe ich Angst vor dem so genannten Weltensprung, der jedes Mal mit großer Anstrengung verbunden ist? Ich weiß es nicht. Meine Gedanken beginnen sich wieder zu überschlagen, sich selbstständig zu machen. Um ihnen nicht zu viel Macht über mich zu geben stehe ich auf, öffne die Tür zu einem Nebenraum, drücke mich an Bilderrahmen und einem alten, eisernen Bettgestell, auf dem jetzt unser schmutziger Anhänger liegt vorbei, um das in der hintersten Ecke des Kellers befindliche Waschbecken zu erreichen.
Ein paar Hände kaltes Wasser im Gesicht vertreiben die aufkommende Schwermut. Als ich mich wieder durch die vielen Bilderrahmen in meinen Schlafraum geschlängelt habe kommt Tanja aus dem winzigen Kelleräumchen. “Hast du auch so schlecht geschlafen?”, fragt sie müde. “Ja”, antworte ich freudlos. “Ich denke wir sollten so schnell als möglich unsere Sachen packen, diesen tristen Keller verlassen und unsere Heimreise organisieren”, meint sie. “Ja das sollten wir”, antworte ich noch immer recht tranig.
Nachdem wir uns mit einem Travellunchessen gestärkt haben stürzen wir uns in die Arbeit. Ich wasche die total verschmutzten Ortliebsatteltaschen im Waschbecken des Lagerraumes, säubere unsere Zargesbox, die Used-Anhänger und Fahrräder vom Lehm und Matsch, während sich Tanja um die Logistik kümmert. Das heißt sie schreibt detailgenau auf welches Kabel, welches Hemd, Ersatzteile und Werkzeug hier bleibt und was wir nach der Winterpause von Deutschland mitbringen müssen, um unsere Reise durch Sibirien und die Mongolei fortsetzen zu können. Wir sind gerade in unsere Arbeit vertieft als das Handy klingelt. Es ist Katya, die Freundin von Jenya. “Mein Kirchenchor hat eine Stadtrundfahrt organisiert. Wir wollen die schönsten Kirchen Krasnojarsk besichtigen. Wenn ihr Lust habt könnt ihr mit. Es kostet euch nichts”, lädt uns die nette Frau ein. Obwohl ich eigentlich nicht in der Stimmung bin jetzt Kirchen zu besichtigen flüstert mir mein Gefühl diese Einladung anzunehmen.
Es ist schon eigenartig wohin es einen Reisenden immer wieder verschlägt. Nur wenig später sitzen wir mit gläubigen orthodoxen Menschen in einem großen Bus und werden durch die Millionen Metropole Sibiriens gefahren. Das Wetter ist wie gewohnt schlecht. Nur ab und zu spitzt die Sonne mal kurz durch die dicken Wolken. Der Bus fährt uns über Hügel und durch Täler. “Wusste nicht das Krasnojarsk von Bergen umgeben ist”, sagt Tanja aus dem Fenster sehend. “Ich auch nicht. Obwohl, soweit ich mich erinnere liegt das Sajangebirge nicht weit von hier entfernt und auch das Mittelsibirische Bergland muss hier seine Ausläufer haben.”
Krasnojarsk hat viel zu bieten
Katya ist eine junge hübsche und sehr intelligente Frau die perfekt Englisch und Deutsch spricht und sich große Mühe gibt uns etwas über die Vergangenheit von Krasnojarsk zu berichten. “Unsere Stadt wurde bereits im Jahre 1628 als Kosakenfestung gegründet. Sie ist also eine der ältesten Städte Sibiriens und heute eines der größten Industriezentren der Region”, erklärt uns Katya auf dem Weg von einer Kirche zur anderen. “Warum hat sich diese Stadt zu einem Industriezentrum entwickelt. Sie ist doch weit weg von Moskau und Europa?”, frage ich. “Das ist einer der Gründe. Nach der Entdeckung von nahe gelegenen Goldvorkommen sowie dem Bau der Transsibirischen Eisenbahn wuchs die Stadt im 19. Jahrhundert schnell. Dann wurden während des zweiten Weltkrieges Teile der Rüstungsindustrie hierher verlegt. Die Produktion war hier vor den Nazis sicher. Als militärischer Stützpunkt war die Stadt sogar noch bis vor wenigen Jahren für Ausländer geschlossen. Man brauchte für den Besuch eine Sondergenehmigung. Heute aber ist das vorbei und ihr könnt euch frei bewegen. Mittlerweile leben hier knapp 1 Millionen Einwohner. Wie ihr sicherlich wisst hat unser Krasnojarsk einen Ruf Verbannungsort für viele politische Gefangene gewesen zu sein. Das ist Gott sei Dank ebenfalls Geschichte und hat mit unserer heutigen Stadt nichts mehr zu tun.” “Mit deinen Kenntnissen solltest du Reiseleiterin werden”, lobe ich. “Durch meinen Job als Dolmetscherin habe ich viele ausländische Gäste betreut. Da lernt man das eine oder andere über seine Stadt.” “Macht dir das Dolmetschen Spaß?” “Es hat mir schon Freude bereitet. Ich habe allerdings trotz sehr gutem Verdienst erst vor kurzem damit aufgehört.” “Warum?” “Ich möchte etwas Nützliches tun. Versteht ihr? Ich möchte mit meiner Arbeit Menschen helfen und nicht nur das Sprachrohr eines Vorgesetzten sein. Deshalb habe ich aufgehört und lerne jetzt als Krankenschwester. Es gibt für mich nichts Besseres als anderen Menschen helfen zu können. Wenn mich so ein bedürftiger Mensch dankbar ansieht ist das für mich die größte Bezahlung die ich mir nur wünschen kann. Ich fühle mich dann wirklich gebraucht. Seht mal! Dort drüben befindet sich die viertgrößte Brücke der Transsibirischen Eisenbahn”, setzt sie ihre Stadtrundführung fort. “Sie ist 934 Meter lang und führt über den Jenissej, dem wasserreichsten Fluss Russlands. Es gibt für Touristen viel zu sehen. Zum Beispiel dürfte euch als Reisende doch das historische und ethnographische Museum interessieren. Aber das können wir uns ja ansehen wenn ihr nach eurer Winterpause wieder hier seid. Da braucht ihr ein paar Tage Zeit. Ich würde euch gerne das südlich von hier gelegene Freilichtmuseum von Schuschenskoje zeigen. Es war von 1897 bis 1900 der Verbannungsort von Lenin. Ach wir haben so viel anzusehen. Habt ihr gewusst, dass man vor nicht all zu langer Zeit in der Nähe der Stadt Überreste eines 12.000 Jahre alten Mammuts gefunden hat? Bislang hatte man sie nur im russischen Norden gefunden. Ganz toll finde ich unseren im Jahre 1925 gegründeten Nationalpark “Stolby“ nicht weit von hier. Es ist ein Kletter- und Wandergebiet. Stolby bedeutet “Säulen” und kommt von den bis zu 100 m hohen rötlichen Granitfelsen, die der Bergtaiga einen zusätzlichen, einzigartigen Reiz verleihen. Das solltet ihr euch unbedingt ansehen”, schwärmt Katya und berichtet weiter von einem ehemalig geheimen, von der Außenwelt abgeschirmten Wasserkraftwerk, welches der größte unterirdische Industriekomplex der Welt sein soll. “Der Ausflug zum Krasnojarsker Stausee am Jenissei ist ein beliebtes Ausflugsziel der Krasnojarsker und würde euch bestimmt gefallen. Allerdings macht es nur Freude wenn das Wetter schön ist. Jetzt ist es zu kalt. Jenya und ich sind übrigens froh das ihr eine Radpanne habt. Es würde keinen Sinn ergeben bei diesem schlechten Wetter weiterzufahren. Wir hatten einen sehr schlechten Sommer mit maximalen Temperaturen von 25 Grad. Viele sprechen davon, dass es bald schneien wird. Ich weiß nicht ob ihr wisst was das bedeutet. In der Übergangszeit zwischen Herbst und Winter kommt es oft vor das starker Regen von einer Sekunde auf die andere gefriert. Auf Deutsch heißt das glaube ich Blitzeis. Richtig?” “Richtig”, antworte ich an die daraus resultierende Gefahr denkend. “Ihr habt ja gesehen wie viel Kreuze an der Straße stehen. Viele dieser Menschen verunglücken auch im Winter. Ihre Autos und Reifen sind nicht für Blitzeis ausgerüstet. Abgesehen davon ist bei beginnendem Schneefall oftmals kein Durchkommen möglich. Nicht auszudenken wenn ihr zu dieser Zeit im Mittelsibirische Bergland unterwegs seid. Ein Wunder das euch gerade rechtzeitig die Panne geschehen ist. Also ich denke ihr seid von Gott beschützte Menschen”, sagt sie noch als der Bus am Wahrzeichen der Stadt, der Kapelle von Paraskewa-Pjatniza, hält.
Bei Nieselregen und etwa 2 Grad verlassen wir den Bus, um der Kapelle einen Besuch abzustatten. Da sie auf einem Berg steht haben wir einen fantastischen Blick über die Stadt und auf den gewaltigen Jenissej. Nach zwei Stunden Besichtigungstour von Kirchen und Friedhöfen verlassen wir die Gruppe und machen uns mit der Hilfe von Katya und Jenya auf ein Flugticket für uns zu kaufen.
“Was? Sie wollen Fahrräder mitnehmen. Na das geht nicht”, meint die Frau im Ticketbüro. “Aber wir machen das nicht zum ersten Mal. Soweit wir wissen nehmen alle Airlines Räder mit. Bei Lufthansa gelten sie als Sportgeräte und kosten nicht mehr als maximal 30 Euro pro Rad. Zumindest war es so als wir letztes Jahr von Samara nach Deutschland und wieder her geflogen sind”, erkläre ich. “Es tut mir leid. Die Lufthansa fliegt nicht von Krasnojarsk. Hier können sie nur mit Sibirien Airline oder Aeroflot reisen”, schockt uns die hilfsbereite Frau. “Aber was machen wir dann mit unseren Rädern? Wir müssen sie unbedingt mitnehmen”, sage ich zu Katya die wiederum alles übersetzt. Die Ticketverkäuferin setzt alle Hebel in Bewegung. Sie ruft ihre Vorgesetzten an, wird abgewimmelt und versucht es erneut an anderer Stelle. “Seit es Sibirien Airlines gibt wurden von hier noch nie Fahrräder ausgeflogen. Sie können alles mitnehmen, Surfbretter, Golf- und Taucherausrüstungen aber Fahrräder? Das scheint schwer zu sein”, meint sie mit der Schulter zuckend. “Das ist Russland”, meint Jenya ebenfalls mit der Schulter zuckend. Nach 2 ½ Stunden sind wir erfolgreich und bekommen zweit Tickets ausgestellt. “Sie dürfen ihre Räder mitnehmen. Allerdings gelten sie als Übergepäck und nicht als Sportausrüstung. Das bedeutet sie müssen 5 Euro pro Kilogramm extra zahlen. Leider kann ich ihre Räder nur bis Moskau buchen. Dort müssen sie sie wieder in Empfang nehmen und erneut die Gebühr bezahlen”, erklärt sie. “Wow, das ist aber teuer”, beklage ich mich. “Tut mir leid, anders geht’s nicht.” “Sind sie sich sicher, dass man uns am Eincheckschalter des Flughafens keine Probleme bereitet? Wer weiß ob unsere Räder dann nicht doch abgelehnt werden?”, möchte Tanja wissen. “Ich habe mit einem Mann namens Alexej gesprochen. Er weiß, dass sie kommen”, beruhigt uns die Verkäuferin. “Ich werde euch begleiten. Im Notfall kann ich übersetzen und euch helfen. Vielleicht hat mein Vater auch Zeit. Er besitzt einen Kombi und kann euch und eure Räder zum Flughafen bringen”, schlägt Katya vor. Wieder ist es kaum zu glauben. Wieder wird uns völlig unerwartet zur rechten Zeit geholfen und wieder habe ich das Gefühl Katya ist ein vom Himmel geschickter Helfer. “Das können wir doch nicht annehmen. Du musst doch in die Schule”, meint Tanja. “Ich schaffe es schon noch rechtzeitig und wenn nicht ist es auch nicht so schlimm”, sagt sie voller Überzeugung.
Auf dem Rückweg ins Kloster klingelt Jenyas Mobiltelefon. “Nicht sehr gute Neuigkeiten”, meint er als er das Gespräch beendet. “Warum nicht?”, frage ich wegen Schlafmangel, der Besichtigungstour und der Aufregung mit dem Flugticket hundemüde. “Die Oberin des Klosters hat angerufen und gesagt das sie morgen Handwerker bekommt. Ihr müsst also das Kloster verlassen.” “Okay, dann ziehen wir in eine Gastiniza. Würdest du uns helfen unsere Ausrüstung hinzufahren?”, möchte ich wissen. “Kein Problem”, antwortet er.
Als wir 30 Minuten später im Kloster ankommen treffen wir die Oberin. Wir fragen noch mal wann wir den Keller verlassen sollen. Plötzlich ändert sich die Situation erneut und wir dürfen bis zu unserem Abflug bleiben. Auch unsere Anhänger und Ausrüstung dürfen wir bis zum kommenden Jahr im Keller einlagern. Obwohl wir das Hin und Her nicht verstehen fragen wir nicht nach und überreichen der Oberin eine Spende für ihr Kloster. “Besser so. Wenn wir nicht umziehen müssen sparen wir uns viel Arbeit und Zeit”, meint Tanja.