Keine Energien in die Vergangenheit verschwenden
N 52°07'43.2'' E 107°13'58.0''Tag: 82
Sonnenaufgang:
07:07 Uhr
Sonnenuntergang:
20:32 Uhr
Gesamtkilometer:
13571.09 Km
Temperatur – Tag (Maximum):
9 °C
Temperatur – Tag (Minimum):
4 °C
Temperatur – Nacht:
-2 °C
Breitengrad:
52°07’43.2“
Längengrad:
107°13’58.0“
Es ist manchmal nicht erklärbar warum wir Menschen das eine oder andere erleben müssen. Auch ist es kaum planbar wohin einem der Fluss des Lebens gerade spült. An dem Tag meines Sturzes war ich guter Dinge. Meiner Ansicht nicht überanstrengt, nicht in Gedanken versunken, in keiner Weise gestresst und fühlte mich in meiner Mitte. Also kein Anlass oder Grund einfach mal vom Rad zu fallen. Und trotzdem ist es geschehen. Da Tanja und ich uns aber sicher sind, das alles was geschieht im Leben einen Sinn ergibt, auch die von uns als negativ bezeichneten Geschehnisse, muss mein Sturz eine Aussage in sich tragen. Hier in unserem netten, sympathischen Sporthotel, besitzen wir die Zeit, um Teile unserer bisher wunderbaren und interessanten Reise Revuepassieren zu lassen.
“Vielleicht liegt nicht hinter jedem Geschehnis eine Ursache”, denke ich und grüble. “Vielleicht solltest du nicht so viel grübeln”, höre ich die Stimme der Mutter Erde. “Stimmt, das gefällt mir auch nicht. Aber das Grübeln und denken kommt, ob ich will oder nicht. Irgendeinen Grund muss doch dieser Sturz gehabt haben?” “Hast du schon mal daran gedacht, dass man nicht alles hinterfragen kann? Das du Ereignisse wie den Sturz einfach akzeptierst? Akzeptierst ohne dir oder jemanden anderem die Schuld dafür in die Schuhe schieben. Nimm ihn als Tatsache und versuche den daraus resultierenden Schmerz anzunehmen. Bekämpfe ihn nicht, sondern schenke ihm seinen Raum den er benötigt, bis er sich von selbst verzieht. Hast du darüber nachgedacht, das genau darin die simple Botschaft liegt?” “Du meinst der Sturz ist geschehen weil er geschehen ist. Einfach nur so? Und die Lernaufgabe für mich könnte sein, solche Ereignisse einfach gelassen hinzunehme, ohne sie zu hinterfragen?”, wundere ich mich. “Wäre doch eine plausible Möglichkeit?” “Hm, ist kein schlechter Gedankenanstoß. Das würde bedeuten, alles was geschieht zu akzeptieren, ohne es groß zu hinterfragen. Darin könnte tatsächlich eine Leere stecken. Wenn man das schafft, lebt es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit leichter. Aber ich kann doch nicht alles akzeptieren ohne Fragen zu stellen? Es gibt doch Begebenheiten in unserer Welt die man einfach hinterfragen muss?” “In der Tat. Es gibt vieles was man hinterfragen kann. Das ist eine weitere Aufgabe. Zu unterscheiden was du hinterfragen sollst und was du als unabänderlich erkennst. Dein kleiner Unfall ist unabänderlich, eine Tatsache die nicht mehr rückgängig zu machen ist. Egal ob du nachdem Warum und Wieso fragst, dein Knie ist geschwollen und du hast ein Schleudertrauma erlitten. Das ist Fakt. Jetzt geht es darum keine Energie in die Vergangenheit zu stecken, sondern sie dahin zu lenken, so schnell als möglich gesund zu werden. Alles andere wäre Zeitverschwendung und somit auch Verschwendung deiner dir zu Verfügung stehenden Energie. Verstehst du das?” “Ja, ja. Absolut. Aber wenn ich analysiert habe warum das eine oder andere geschieht, kann ich eine Wiederholung verhindern.” “Nun, lass uns zum Ausgangspunkt unseres Gespräches zurückkehren. Dein Sturz ist geschehen weil er eben geschehen ist. Das heißt es gibt keine Begründung für einen erneuten Sturz dieser Art. Deshalb macht es keinen Sinn Gedanken über das Warum und Wieso zu verschwenden. Das leuchtet dir doch ein?” “Absolut. Das bedeutet also, dass uns Menschen Ereignisse widerfahren, die unabänderlich sind, die wir nicht beeinflussen können. Wenn wir Menschen etwas für uns Unangenehmes erleben, ist es meist klüger dies hinzunehmen, das Beste daraus zu machen, anstatt Energien in die Vergangenheit zu stecken. Denn, Vergangenheit ist unabänderlich. Habe ich das so richtig verstanden?” “Genau. Dass ist zumindest ein wichtiger Aspekt. Natürlich können wir das Gespräch weiter und weiterführen. Es wird sich dann aber immer mehr verwinkeln und für dich im Augenblick einen unverständlichen Ausgang nehmen. Deswegen ist es besser erstmal diese Erkenntnis zu verinnerlichen, bis dir eine andere Lebensaufgabe begegnet, die du gerne hinterfragen möchtest. Jetzt genieße euren Aufenthalt hier, den wir euch geschenkt haben, und tanke Energie für die weitere Reise”, lausche ich der Stimme von Mutter Erde.
In der Tat ist dieser Ort wie ein wundersames Geschenk. Der Chef dieses staatlich geführten Hauses ist ein Doktor, der jeden Tag von kranken Menschen aus der Gegend besucht wird. Er ist, genauso wie sein Personal, äußerst zuvorkommend und nett. Für meine Genesung ist der Platz perfekt. Es ist eine Art Gesundheits- und Kurzentrum der Region. Für Kinder wird Therapiereiten angeboten. Für Sportler gibt es Trainingsmöglichkeiten unter ärztlicher Betreuung. Laut Aussage des Chefarztes Wala ist das Selengadelta mit heißen Heilquellen beseelt, die man nach der Perestroika schloss und jetzt wieder für Kurgäste ins Leben gerufen werden. Abends spaziere ich an das Ufer der Selenga, die sich durch die hügeligen Steppenlandschaften der Mongolei bis hierher geschlängelt hat, um unweit von hier in den Baikal zu münden. Ich genieße den glühenden Sonnenuntergang bis mich die Moskitos vertreiben. Die Tage vergehen schnell. Wir schlafen bis acht oder neun Uhr morgens, frühstücken ausgiebig, widmen einige Zeit dem Schreiben oder Lesen, dann lassen wir uns von der blinden Tonja eine Stunde massieren und philosophieren viel. Heute hat man extra für mich die Banja (Sauna) angeheizt. Weil Tanja sie nicht gut verträgt werde ich sie alleine genießen. Meinem Hals geht es schon wieder viel besser und die Schwellung ist aus dem Knie gewichen. Bis nach Ulan-Ude sind es nur noch 65 Kilometer. Das sollte kein Problem bedeuten. Von dort ist die Mongolische Grenze nur noch 200 Kilometer entfernt. Wenn alles im Fluss bleibt, erreichen wir sie genau zum richtigen Zeitpunkt. Leider hat sich im Augenblick der sibirische Sommer völlig verabschiedet. Die Temperaturen sind von 25 Grad auf 4 Grad gefallen und nachts hält Väterchen Frost zum ersten Mal das Zepter in der Hand. Mit zwei Grad minus ist er noch gnädig mit uns, jedoch können die Temperaturen in dieser Region weiter schnell und drastisch fallen.