Je genauer du planst, desto eher trifft dich der Zufall…
N 52°07'43.2'' E 107°13'58.0''Tag: 78-81
Sonnenaufgang:
07:01 Uhr
Sonnenuntergang:
20:41 Uhr
Gesamtkilometer:
13571.09 Km
Temperatur – Tag (Maximum):
4 °C
Temperatur – Tag (Minimum):
4 °C
Temperatur – Nacht:
3 °C
Breitengrad:
52°07’43.2“
Längengrad:
107°13’58.0“
Tanja
Am Tag unserer Ankunft erkunde ich noch die Ortschaft um Wein für meine Geburtstagsfeier einzukaufen. Im ersten Landen gibt es nur begrenzt Lebensmittel und Bier. Die freundliche Verkäuferin schickt mich weiter. Der zweite Laden ist geschlossen. Den dritten Laden zeigt mir ein Junge. Er führt mich an hohen Bretterzäunen, an denen sich links und rechts der Müll häuft, vorbei. Dann an einer schaurigen, alten Steinhausbaracke. Kurz denke ich mir noch: “Wo der Kleine mich wohl hinbringt?” Da sehe ich das Geschäft schon vor mir. “Findest du den Weg alleine zurück?”, fragt er. “Danke ja”, verabschiede ich mich. Meine Einkäufe erfolgreich im Rucksack verstaut, laufe ich wieder an der alten schaurigen Steinhausbaracke vorbei. Drei Frauen und ein Mann sitzen wie Hühner auf der Leiter und winken mich heran. Artig trete ich ein paar Schritte auf sie zu und stehe Rede und Antwort. 100,- Rubel möchten sie haben, sagt die Dürre. Der Mann schnippt sich mit dem Zeigefinger gegen die Kehle, das Zeichen für Trinken, und sagt: “Wodka!” Meine Antwort ist “Dankeschön, auf Wiedersehen”, und ich lasse die lachende Gesellschaft hinter mir.
Am nächsten Tag ist schnell klar, dass mir Laden eins und zwei nicht ausreichen. Das erste Lebensmittelgeschäft hat nur eine sehr begrenzte Auswahl, das Zweite ist wieder zu. Somit laufe ich zu den hohen Bretterzäunen, an denen sich links und rechts der Müll häuft. An der alten, schaurigen Steinhausbaracke, stelle fest, dass der Dorfladen drei für heute geschlossen ist. Dieser war der Einzige, in dem ich gestern Tomaten, Gurken und Käse gesehen hatte. “Welch ein Jammer”, denke ich mir. Drei junge Frauen kommen mir entgegen. So manche Erfahrung hat mich in meinem bisherigen leben gelehrt, dass es nicht immer auf das Äußere der Menschen ankommt. Teilweise mögen sie Angst erregend oder verschlagen aussehen, doch trotzdem sind sie freundlich und oftmals sehr hilfsbereit. Irgendetwas hält mich für den Bruchteil einer Sekunde zurück, dann frage ich die Drei doch, wo ich Tomaten herbekommen könne. Erst von Nahen sehe ich, dass die Aufgeweckte der drei Frauen blau geschminkt und nicht geschlagen ist. Sehr freundlich schickt sie mich zu anderen Geschäften weiter und stellt Fragen woher ich komme und wohin wir Reisen. Die anderen Magazine (Lebensmittelgeschäfte) aufzusuchen ist mir gerade zu aufwendig und ich gehe in Richtung unserer Unterbringung zurück.
Im Geschäft eins bekomme ich frisches Brot. Kaum die kleine Holzhütte verlassend, höre ich: “Ksss! Kssst!” Eine ältere Frau auf ihrem Fahrrad deutet zu einem schönen Haus gegenüber. “Dort bekommst du Tomaten.” Ich wundere mich woher sie weiß, dass ich Tomaten suche? Ein altes Mütterchen sitzt in verschmierten Mantel vor der Tür. Sie versteht meine Frage nach Tomaten nicht, ist aber sichtlich über meinen Besuch angetan. Kurz darauf läuft sie quietschendlaut rufend auf eine ebenso alte Passantin zu, um mit ihr ein langes, sich im wortlaut immer wiederholendes Gespräch zu beginnen. Als ich vor mir die zwei kreischend, miteinander unterhaltenden, zahnlosen Sibirierinnen sehe, gebe ich den Wunsch nach Tomaten auf. Kurz danach tritt die Tochter des Hauses nach außen, macht eine kreisende Handbewegung an der Schläfe ihrer Mutter (das internationale Zeichen um dem anderen zu verstehen zu geben, dass die Person ein wenig irre ist) und es klappt doch noch mit dem geplanten frischen Salat.
Fast an unserer Unterbringung angekommen, ruft es: ”Madam! Frau!” Die drei jungen Frauen von vorhin kommen mir hinterher gerannt. “Hast du Tomaten gefunden?”, fragen sie. “Ja, danke”, antworte ich. Die drei haben eine Ausstrahlung, die ich nicht deuten kann. “Es ist nicht nur der Alkohol der sich in ihren Gesichtern und Augen wieder spiegelt”, denke ich mir. Die Schuhe der Dorfbewohnerrinnen sind kaputt und sie tragen abgewetzte abgerissene Kleidung. Die Aufgeweckte tauscht ein paar Freundlichkeiten, um nun auf den Punkt zu kommen. Ihre Freundin hat wunderschön gestrickte Socken zu verkaufen. Die Reise wird kalt auf dem Fahrrad und ich sei in Sibirien. Für nur 100,- Rubel (2,27 Euro) könne ich sie haben. Ich lasse mir die Socken zeigen. Überprüfe mein Gefühl, was es spricht hier meinen Geldbeutel rauszuholen. Gefühl sendet an Hirn: “Das ist okay. Kannst du machen”. Ich lobe sie für ihre hübsche Arbeit und kaufe die Socken ab. “Sie werden mich immer an diese Ort in Sibirien erinnern”, sage ich.
“Heute gehe ich gleich vormittags zum einkaufen”, erkläre ich Denis. “Glaubst wohl weniger Betrunkene zu treffen”, antwortet er mich kennend und von seiner Schreibarbeit aufblickend. Als ich unsere Unterkunft verlasse, eilt eine ganze Schulklasse mit Jungen und Mädchen aus dem Haus gegenüber. Alle sind in Festtagskleidung. Die Jungen mit langen schwarzen Hosen und weißen Hemden. Die Mädchen tragen schöne Zöpfe mit Tüllbändern, weiße Blusen und Röcke. Manche auch schwarze Jeans mit modernen Gürteln. Drei der Grazien versuchen es mit hochhakigen Schuhen, wobei es bei zweien recht gut klappt. Die Dritte lässt sich von ihren Freundinnen, die flache Schuhe tragen, stützen. Ich schätze ihr Alter auf 10 oder 12 Jahre. Mein Weg führt mich vorbei an dem Mütterchen mit den Zahnlücken und dem verschmierten Mantel. Sie kreischt mir freudig grüßend entgegen. Laden eins hat heute leider wieder nicht das gewünschte. Wenig später rennen Ziegen wie wild hinter mir her. Ich wundere mich. Gestern wirkten sie noch so umgänglich und recht zahm. Heute hingegen glaube ich, sie wollen mich auf ihre Hörner packen. Kurz darauf erkenne ich den großen weißen Hund hinter ihnen dem es ein Vergnügen bereitet die Tiere zu scheuchen.
Lebensmittelgeschäft zwei ist geschlossen. Kaum habe ich die hohen Bretterzäune an dem sich der Müll links und rechts häuft erreicht, höre ich ein lautes würgendes Geräusch. In dem Moment, als ich um die Ecke biege, sehe ich wie sich ein in schwarz gekleideter Mann grausig übergibt. Unauffällig versuche ich mich vorbei zu stehlen. Fast die alte schaurige Steinhausbaracke erreicht, spricht mich der Mann, der sich soeben noch übergeben hat, tatsächlich an. Ich eile weiter, als hätte das Ganze nichts mit mir zu tun. Doch dann vernehme ich ein lautes und entschiedenes “Deutsche!” Somit ertappt muss ich anhalten. Sein Erbrochenes läuft ihm aus den Mundwinkeln. Seine Hände sind verschmiert und seine Augen tränen. Höflich stehe ich ihm Rede und Antwort. Als seine wenigen Deutschkenntnisse verbraucht sind kann ich wieder auf “nichts verstehen” machen. Dem Himmel sei Dank, lässt er mich weiter meines Weges ziehen. Nachdem ich eine Kleinigkeit im Lebensmittelgeschäft drei ergattert habe, überlege ich mir, wie ich an der alten schaurigen Steinhausbaracke vorbeikomme ohne den Mann zu treffen, der sich gerade übergeben hat.
Wieder torkelt mir ein Betrunkener entgegen, lässt mich aber in Ruhe. Leute auf Fahrrädern betrachten mich neugierig. Endlich erreiche ich das kleine Geschäft Nummer vier. Auch hier kann ich ein Wenig erstehen. Auf dem Rückweg steuern zwei Frauen zielstrebig auf mich zu. Die erste Frage ist. “Hast du einen Mann?” Die Zweite ist: “Wie heißt er?”, womit sie wahrscheinlich Frage eins überprüfen möchte. Nun bauen die Zwei sich vor mir auf. Ich muss nicht einmal mein Gefühl befragen als ein nach 50,- Rubel (1,13 Euro) fragt. Die innere Signallampe steht auf rot und alle Alarmglocken schrillen. Eine der beiden sieht uralt aus, obwohl ich sie gerade mal auf Anfang 20 schätze. Mich unangenehm angrinsend, entblößt sie ihren abgebrochenen Schneidezahn. In der einen Hand eine Zigarette, in der anderen ein Einmachglas mit einer cognacfarbenen Flüssigkeit. Logischerweise ist es kein Cognac. Benzin kann es auch nicht sein. Wieder ist es nicht nur Alkohol, der sich in ihren Gesichtern, Augen und Körperhaltung zeigt. Die Sprecherin fordert nun erneut die 50 Rubel. Mir ist klar, hier auf keinen Fall zu zeigen wo mein Geld steckt und gebe ihr zur Antwort, dass ich kein Geld für sie habe. “Wieso? Du kommst doch gerade vom Einkaufen. Da hast du sicherlich Geld dabei.” Ich laufe weiter und verabschiede mich mit meinem gewohnten Spruch: “Dankeschön, auf Wiedersehen”. “Dankeschön kommt erst wenn du mir das Geld gegeben hast”, fordert die Sprecherin härter. Als sie beginnt mich vom Weg abzudrängen, laufe ich geradeaus weiter. Wie ein Ozeandampfer. Sicher ihr kein Geld zu geben und auch nicht weiter in diesen angehenden Konflikt einsteigen zu wollen. Ich vermute es sind die Mensche auf der Straße, die mich retten und die Situation nicht zur Eskalation bringen. Wären wir unbeobachtet gewesen, weiß ich nicht wie diese Geschichte weiter verlaufen wäre. Die schrille Alte ohne Zähne im verschmierten Mantel empfinde ich auf dem Heimweg fast wie eine rettende Insel. “Und wie war’s?”, fragt mich Denis als ich unser Zimmer betrete. “Je genauer man Plant, desto eher trifft dich der Zufall. Heute war der schlimmste Einkaufstag. Ich gehe Maximum noch bis Laden eins oder zwei!” Ab diesem Zeitpunkt beschließen wir, dass mich Denis beim Einkaufen begleitet.
Denis
Tuberkulose, eine ernste Bedrohung für die Dorfbevölkerung
Wir besuchen das nahe Sanatorium in dem an Tuberkulose erkrankte Kinder behandelt werden. Die Chefärztin Tatjana führt uns in den Aufenthaltsraum der Kleinkinder. “ßdrastwuitsche”, (Hallo) rufen sie im Chor enthusiastisch. “ßdrastwuitsche”, antworten Tanja und ich ergriffen. Wir hören das in vielen Dörfern Sibiriens bis zu 80% der Bevölkerung an Tuberkulose erkrankt ist. Das die Seuche lange Zeit als besiegt galt und heute die bewährten Antibiotikas nicht mehr helfen. In Fachkreisen geht man sogar davon aus, dass die Seuche, die während der industriellen Revolution in den europäischen Arbeitslagern entsprungen ist, bald nach Westeuropa zurückehren könnte. “Verantwortlich für die epidemieartige Ausbreitung in der ehemaligen Sowjetunion sind die schlechten hygienischen Verhältnisse, die schlechte und einseitige Ermährung und der enorme Alkoholkonsum der Eltern. Die Seuche wütet dort, wo immer Menschen unter elenden Lebensbedingungen zusammengepfercht leben. Es ist hauptsächlich ein Leiden der Armen”, erklärt die Chefärztin. “Viele der Kinder sind hier zwischen drei und sechs Monate. Danach dürfen sie wieder zu ihren Eltern zurück”. Das sie sich dort erneut anstecken oder der Erreger sich durch die Behandlung im Körper verkapselt hat, um dann wieder auszubrechen, ist wahrscheinlich. “Wenn die Tuberkulose dann wieder ausbricht ist es möglich, dass die gleichen Medikamente nicht mehr helfen. Auch nicht den Menschen die sich bei ihm anstecken.”
Wir hören, dass die Tuberkulose unter den Infektionskrankheiten weltweit der größte Killer ist. Die Weltgesundheitsordnung (WHO) hat Zahlen veröffentlicht die davon sprechen, dass die Schwindsucht mit zwei bis drei Millionen Toten jährlich, mehr Menschen dahinrafft als Malaria und Aids zusammen. “Wir benötigen hier entschieden mehr finanzielle Mittel”, sagt die Chefärztin und wir können ihr ansehen, welch harten Job sie mit ihren zwei Kolleginnen und Schwesternteam hat, um die 85 kranken Kinder in ihrem Sanatorium gesund zu pflegen. Nach einer Statistik der Weltbank kostet es durchschnittlich 50,- Euro um einen Tuberkulose-Kranken das leben zu retten.
Wir verabschieden uns wieder. Draußen ist es mit 3 Grad schon recht kalt. Der Wind weht um die einfachen Holzhütten des Kindersanatoriums. Wir reichen der Chefärztin 50, Euro. “Kaufen sie den Kindern etwas womit sie Freude haben”, sagen wir, um zumindest ein bisschen was getan zu haben. Dann begleite ich Tanja zum Laden Nummer eins, um ein paar Lebensmittel zu kaufen. Ein Mann wirft faustgroße Steine nach einer Ziegenherde die in seinem Garten eingedrungen ist, um sich an dem Gemüse zu laben. Da wir direkt am Zaun vorbeilaufen, müssen wir darauf achten von keinem der Steine getroffen zu werden. Plötzlich nimmt der anscheinend verzweifelte Mann einen Holzprügel, treibt eine der Ziegen in die Enge und drischt erbarmungslos auf sie ein. Schon nach dem ersten Schlag geht sie in die Knie und schreit fürchterlich um ihr Leben. Der zweite Hieb haut sie regelrecht von den Beinen und nach dem dritten und vierten Schlag ist sie verstummt. “Was Menschen alles tun wenn sie um ihr Überleben kämpfen”, sage ich. So schnell als möglich lassen wir den schrecklichen Ort hinter uns, um zu unserem Sporthotel zu eilen.