Ist das schon die Grenze des Machbaren?
N 52°00'53.2'' E 048°47'15.1''Nieselregen, zwei Grad, dichter Nebel ist die Analyse meines ersten Blickes aus dem Fenster und auf das Thermometer. Heute führt uns die Straße wieder hauptsächlich gen Osten. Also gehört der obligatorische Gegenwind zu erweiterten Herausforderung. Noch dazu das er auch heute wieder beißend kalt ist. Nach einer Stunde legen wir eine kurze Verschnaufpause ein. Tanja muss einen ihrer Überschuhe noch mal richtig anziehen. In der Kälte ist das Material steif und widerspenstig geworden. Ich schlüpfe ebenfalls aus meinen Handschuhen, um ihr zu helfen. Es dauert nicht lange und unsere Finger sind taub vor Kälte. Als wir dann unsere Hände wieder in die nass geschwitzten Handschuhe flüchten lassen, werden sie nicht mehr warm. Um erneut einigermaßen auf Temperatur zu kommen lassen wir die Tretkurbel rasant kreisen. Es dauert 30 Minuten bis sich unsere Körper erwärmen und die Finger spürbar sind. Unglaublich. Wie muss sich das bei minus 20° C anfühlen? Ist Radfahren unter solchen extremen Temperaturen dann noch möglich? Möglich vielleicht aber die Gefahr sich dabei Nasenspitze, Hände oder Zehen abzufrieren ist sehr groß. Zur Vorbereitung unserer Reise habe ich in einem Buch gelesen, dass sich ein Radfahrer, der seine Tour zum Ende des russischen Winters begann, die Zehen erfror. Nach den Erfahrungen der letzten Tage wundert mich das nicht mehr.
Der kalte Ostwind bläst uns jetzt eine Mischung aus Niesel- und Eisregen ins Gesicht und ist kaum noch auszuhalten. Die Füße werden nicht mehr warm und die Finger bitzeln. Während einer kurzen Verschnaufpause denken wir darüber nach ob jegliches Weiterfahren noch vernünftig ist oder ob der Zeitpunkt gekommen ist die Tour bei der nächst Besten Gelegenheit abzubrechen? “Es macht keinen Sinn sich zum Schluss noch die Finger abzufrieren”, meint Tanja. Nur wie sollen wir dann nach Samara kommen? Vielleicht gibt es die Möglichkeit unsere gesamte Ausrüstung und die Räder bei einer Raststätte auf einen Lastwagen zu laden? Wir radeln weiter. Werfen uns mit aller Kraft gegen den Eiswind. Er hat eine Kategorie erreicht die ich tatsächlich als gefährlich einstufe. In solch einem Moment darf nichts Unvorhergesehenes geschehen. Alles muss nach Plan laufen. Kein Unfall, kein Stolpern oder schnelles Wegrutschen. Der Begrenzungsstreifen ist von Schmutz verschmiert und spiegelglatt. Wir versuchen ihn zu meiden. Wenn wir ein Stück Schokolade essen müssen wir sie erst im Mund zergehen lassen. Einfach drauf beißen ist nicht leicht weil sie wie Eis im Mund bricht. Nach 40 Kilometer treffen wir auf eine Raststätte. Aus gefroren stellen wir unsere Räder davor ab und flüchten uns nach drinnen. Wir essen eine Suppe, Tee und Schokolade. Dann schlüpfen wir wieder in unsere nasse Kleidung und arbeiten uns Kilometer für Kilometer weiter gegen den Wind und den Eisniesel. Mein Knie beginnt sich wieder zu melden. Es sendet unmissverständliche Signale sich ausruhen zu wollen. Der Gedanke daran hier im offenen Gelände jetzt ein Notcamp aufschlagen zu müssen und im Zelt zu schlafen mobilisiert meine Kraftreserven. Trotzdem bin ich es heute der immer langsamer wird. “Komm lass und die Anhänger tauschen. Mir geht es gut. Ich schaffe das”, bietet mir Tanja an. “Nein danke. Es geht schon”, meine ich und beiße die Zähne zusammen. “Jetzt sei nicht so stur. Halt an!”, fordert mich Tanja etwa 17 Kilometer vor dem Ort Pugatschöw auf. “Okay”, gebe ich nach und bremse meinen Bock. Wir tauschen die Hänger und weiter geht’s. Jetzt erstmal bergauf. Durch die leichtere Last verfliegt der Schmerz sofort. “Es geht wieder!”, rufe ich Zuversicht fassend. Wie eineiige Zwillinge radeln wir durch die triste Gegend. Tanja mit meinem schweren Anhänger voraus. Ich in ihrem Windschatten. Dann erreichen wir die Peripherie der Stadt. Verdutzte Gesichter sind wir mittlerweile gewohnt. Hier allerdings zieht unsere Ankunft bald eine Schneise des Erstaunens durch die Menschen denen wir begegnen. “Immer gerade aus. Dort ist die Bahnhofs-Gastiniza”, erklärt man uns.
Es dämmert wieder als wir unsere Räder nach sieben Stunden und 82 Kilometern gegen den Eiswind, um 16:30 Uhr an das Treppengeländer des völlig kaputten Hauses stellen. Ein betrunkener Mitarbeiter des Bahnhofhotels öffnet mürrisch den zweiten Teil der Eingangstür mit Hammer und Zange. Jetzt können wir unsere Räder in den Vorraum rollen. Wegen dem angehenden Winter wurde sie bereits zugenagelt. Dann führt mich eine junge, sehr gut gekleidete Frau in den zweiten Stock, um mir das Zimmer zu zeigen. Nach insgesamt bald einem Jahr in osteuropäischen Ländern bin ich viel gewohnt aber dieses Zimmer schlägt dem Fass den Boden aus. Es ist einfach nicht zu glauben was man hier noch als Gästezimmer für Geld vermietet. “Normalna”, (normal) sagt die hübsche Frau in ihrer aufreizenden Kleidung als ich die Matratzen prüfe. Ich sehe sie an und frage mich ob es auch normalna ist das die Matratze unter dem Bettbezug von unzähligen alten Blutflecken regelrecht durchtränkt ist. Ob man hier jemanden umgebracht hat? Geht es mir durch den Kopf. Dann werfe ich einen Blick unter das andere Bettlaken. Auch diese Matratze ist mit alten getrockneten Blutflecken übersät. Also ein Doppelmord, denke ich wieder. “Normalna, wir nehmen das Zimmer”, antworte ich weil wir keine andere Chance haben.
Als wir unser gesamtes Hab und Gut in das Etablissement geschleppt haben lass ich mich in dem vielleicht 50 Jahre alten Sessel nieder. Wir beide sind so müde, dass sich unsere Stimmung dem Zimmer angepasst hat. Erschöpft starre ich auf die ebenfalls 50 Jahre alte, vergilbte Tapete die einer der letzten Gäste in seinem Rausch zum Teil von der Wand gerissen hat. Traurig hängt sie nun in Fetzen über Tanjas Bett. Mit 17 Grad ist es in dem Raum ausnahmsweise mal nicht überheizt, denn die Heizung funktioniert nur bedingt. Wir frieren und wissen nicht ob unsere Radkleidung bis morgen trocknen wird. Duschen ist unmöglich. Ersten gibt es keine und wenn es eine geben würde gäbe es kein heißes Wasser. ”Pass bloß auf wenn du das Kabel deines Laptops in die Steckdose steckst”, warnt mich Tanja. “Warum?” “Na bei der Dose kann man bestimmt leicht einen Schlag bekommen.” “Stimmt”, antworte ich freudlos und ohne jeglichen Spaß in der Stimme.