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Rumänien/Maikäfer-Camp

Hügel ohne Ende

N 44°30'02.4'' E 028°21'47.6''

Müde und gerädert verlassen wir unsere Schwitzkammer. Tanjas Körper, vor allem ihre Augen, sind richtig verschwollen. Nach einer kurzen Dusche frühstücken wir in dem einfachen Restaurant. Möchte Omelett ohne Käse. Bekomme Omelett mit Käse. Dafür ist das Brötchen aus vergangener Zeit. Eine völlig zerlumpte Romni sieht uns vom Zaun aus beim Essen zu. Ich belege eines der Brötchen mit Käse, hole das T-Shirts aus dem Anhänger, welches wir von dem Fernsehsender Antenne 1 in Calarasi geschenkt bekommen haben, und gebe es ihr. “Lei”, sagt sie und macht das Zeichen für Geld.

Trotz der anstrengenden Nacht sind wir frohen Mutes und Energiegeladen. Wir wollen uns durch den gestrigen Verkehr und solchen Unterkünften nicht ins Boxhorn jagen lassen. Zuviel haben wir in den letzten Jahren erlebt, um uns davon nachhaltig beeinflussen zu lassen. Situationen kommen, Situationen vergehen. Am Ende sind nicht selten die unangenehmsten Erfahrungen das Pfeffer und Salz einer Geschichte. Auf die Balance kommt es an. Sie macht unser Leben unterm Strich lebenswert. Was wäre schon ein Leben ohne Pulsschlag, ohne Höhen und Tiefen. Es wäre kein Leben mehr, denn unser Leben braucht wie der Strom die Spannung um fließen zu können. Wie viel Spannung und wie stark die Steigung oder das Gefälle können wir oftmals selbst bestimmen. Und wenn ich schon von Gefälle spreche geht es gerade tatsächlich steil bergab. Auf einer kleinen Nebenstraße brausen wir johlend vor Freude in ein Tal bis auf ca. sieben Höhenmeter zu einem kleinen Seitenarm der Donau hinunter. Ein Honigverkäufer sitzt am Straßenrand und bietet seine Ware an. Wir stoppen, schießen ein paar Bilder und führen rudimentäre Kommunikation. Dann geht es weiter. Diesmal bergauf, steil bergauf. Die Karte verspricht auf den kommenden 80 Kilometer Hügel. Ohne Zweifel hätten wir die Weinstraße nehmen sollen. Was soll’s, jetzt sind wir hier. Die Hügel waren uns einfach bestimmt. Wir können ihnen nicht entfliehen. Zum ersten Mal auf dieser Etappe müssen wir den ersten Gang einlegen. Bei einer Steigung von acht Prozent schnaufen wir für mehrere Kilometer den Hügel hinauf. Unsere gut trainierten Muskeln lassen uns nicht im Stich. Wir schaffen es ohne ein einziges Mal des Absteigens die gesamte Ausrüstung nach oben zu bringen. “Meinst du wir befinden uns hier oben auf einem Plateau?”, fragt Tanja hoffend. “Glaube ich nicht”, enttäusche ich sie. Schon kurze Zeit später geht es wieder bergab. Unsere schwer erarbeiteten Höhenmeter werden in einer berauschenden Talfahrt verschleudert. An einem Magazin legen wir eine kurze Rast ein. Die Chefin bereitet uns einen starken und sehr leckeren Kakao. Den besten seit wir mit den Rädern unterwegs sind. Die Stimmung in der kleinen Kneipe ist fantastisch. Wir filmen und fotografieren. Fröhlich recken die Gäste ihre Gesichter in die Kamera. Porträts zu fotografieren ist in Rumänien eine wahre Freude. Nach unserer Rast schrauben wir uns wieder bis auf 270 Höhenmeter hoch nur um sie sofort wieder in Geschwindigkeit zu setzen. Im Laufe des Tages machen wir bestimmt über 1000 Höhenmeter. Leider kann ich mit unserer jetzigen Technik nicht die zurückgelegten Höhenmeter einer Tagesetappe festhalten. Die Sonne scheint mit ca. 48 Grad vom Firmament. Ca. 36 Grad im Schatten. Gott sei Dank haben wir heute Rückenwind. Berge mit Gegenwind sind der Killer. Mit ca. 4,5 Stundekilometer treten wir unsere Bikes nicht selten für 20 Minuten nach oben. Die Belastung wird für uns von Stunde zu Stunde größer. Immer wieder begegnen wir Hirten die am Straßenrand sitzen und ihre Herden bewachen. Ich frage einen nach dem Weg. Freundlich erklärt er mir in seiner Sprache wohin wir müssen. Am Nachmittag drehen sich unsere Reifen durch ein gemütliches Dorf. Wir entdecken einen des üblichen Magazins. Es gibt keine Gäste. Eine Frau sieht uns verwundert zu wie wir unsere Roadtrains an ihren Zaun lehnen. Mit Zeichensprache machen wir ihr verständlich dass wir hungrig sind. Sofort erhellt sich ihr Gesicht und sie führt uns in ihre heiligen Räume. In der dunklen Halle sind etwa 10 Bierbänke aufgereiht. Der Boden ist nass und es riecht wie in einem Männerpissoir. Wir sollen uns hier drin hinsetzen und uns ausruhen. “Wir sitzen lieber draußen”, sagen wir und lassen uns auf den zerbrochenen Stühlen nieder. Die Frau bringt ein Weißbrot. Legt es auf den schmutzigen Tisch. Es ist das rumänische Weißbrot welches von der Bäckerei bis zu seinem Konsument durch tausend Hände geht. “Es leben die Abwehrkräfte”, sage ich zu Tanja. Tanja packt einen der wenigen Aufstriche aus die wir dabeihaben und beschmiert das Brot. Wir trinken Wasser und lassen uns den Leckerbissen munden. Enten watscheln über die verschmutzte Dorfstraße. Ein Schöpfbrunnen zeigt wo die Menschen hier ihr Wasser her bekommen. Kanalisation gibt es hier noch nicht und es wird bestimmt auch noch lange dauern bis die EU-Anbindung solch einen Luxus in die abgelegenen und armen Dörfer bringt. Als wir bezahlen wollen beschummelt uns die Gastwirtin um 30 % des Preises. Wir sehen es gelassen, deuten auf die einzelnen Artikel die wir gekauft haben und auf den Preis der mit einem vergilbten Etikett dort zu lesen ist. Die Frau lächelt, zuckt mit der Schulter und gibt uns das richtige Wechselgeld. “Versuchen kann man es ja”, lese ich in ihrem Gesichtsausdruck. Wir fahren weiter. Wieder den Berg hinauf, steil bis die Muskeln fast platzen. Dann wieder runter, nur um gleich wieder nach oben zu treten. Wau, was für ein anstrengender Tag. “Wir hätten die Weinhügelstraße an der bulgarischen Grenze nehmen sollen”, geht es mir durchs Gehirn.

Ewige Felder ziehen sich bis zum Horizont über die Hügel. Sie wirken unendlich. Hier ist sichtbar, dass etwa 65 Prozent der Gesamtfläche Rumäniens als Weide- und Ackerland genutzt wird. Rund 42 Prozent der Erwerbstätigen sind in der Landwirtschaft beschäftigt. In den achtziger Jahren legte Nicolae Ceau?escu den Schwerpunkt auf die Forcierung der industriellen Entwicklung. (Das ist unter anderem der Grund warum wir bisher so unzählig viele verfallene Fabriken gesehen haben.) Die Nötigen Verbesserungen und Investitionen auf dem Agrarsektor kamen deshalb zu kurz. Die verfehlte Wirtschaftspolitik führte in dieser Zeit sogar zu einer Nahrungsmittelknappheit.

Bis zum nächsten Motel sind es weitere 50 Kilometer. Unmöglich für uns. In einem Dorf kaufen wir Wasser, um uns später irgendwo in die Büsche zu schlagen. Durch die ewigen Felder finden wir aber keinen einzigen Flecken für unser Zelt. Es ist fast zum verzweifeln. Es gibt keine Wälder. Anscheinend für den Ackerbau alle abgeholzt. Wir fahren die Hügel rauf und runter. Immer wieder stoppen wir um die Landschaft zu inspizieren. Doch es ist kein Ort zu entdecken wo wir uns ungesehen verstecken können. “Wir sollten an einem Bauernhof fragen”, schlägt Tanja vor. “Ja, denke das machen wir”, antworte ich. In Panteleimon fragen wir am Ortseingang. Der Mann nickt mit dem Kopf und deutet zu seinem Nachbarn. Wir holpern über den Schotter und Lehmpfad zu dem Haus. Es sieht freundlich aus und verstrahlt eine gute Atmosphäre. Ich lehne mein Rad an den Zaun und warte ein paar Augenblicke. Ein Mann, seine Frau und ein kleiner Junge kommen heraus. Sie sehen uns fragend und etwas verschreckt an. Mit Zeichensprache versuche ich zu erklären was wir wollen. Als ich das Wort “Kort” ausspreche, was übersetzt Zelt heißt, nickt das Ehepaar freundlich. Sofort zeigen sie uns ihren Innenhof in dem wir unser Kort aufstellen dürfen. Wir sind richtig erleichtert, sind wir ja schon über acht Stunden unterwegs. Unsere Kräfte sind aufgebraucht und uns kommt der unebene Lehmboden des Innenhofs wie ein Paradies vor. Zum ersten Mal haben wir bei einem Bauern in Rumänien um einen Übernachtungsplatz gebeten und sogleich einen bekommen. Fantastisch.

Bei armen Bauern zu Gast

“Ihr könnt gerne im Haus übernachten”, verstehen wir nachdem das Eis gebrochen ist. “Nein danke, wir schlafen im Zelt”, antworten wir mit ausladender Gestik. Niko, der Hausherr, bringt mir sofort einen Hammer für die Zeltheringe. Tanja geht mit Marianna zum Dorfbrunnen, um aus etwa 30 Meter Tiefe frisches, kühles und klares Trinkwasser zu holen. Wir fühlen uns hier auf Anhieb sehr wohl. Die Familie lässt uns in Ruhe unser Lager aufschlagen. Es ist nicht wie während unserer Pakistan- oder Indienreise wo sich innerhalb weniger Minuten die Ankunft der Fremden herumspricht und sich das gesamte Dorf um einen versammelt, um jede Handbewegung zu beobachten und zu kommentieren. Hier werden wir einfach in Frieden gelassen. Nach einem harten und anstrengenden Tag ist diese Art von Gastfreundschaft ideal. Natürlich wissen wir jetzt noch nicht ob das in Rumänien so üblich ist aber die letzten Erfahrungen tendieren in diese Richtung.

Tanja kocht uns auf dem Primuskocher Nudeln von Rapunzel. Kohlenhydrate sind genau das was unser Körper jetzt am meisten benötigt. Während meiner Aufzeichnungen lasse ich meinen Blick über das Anwesen schweifen. Ohne Zweifel sind unsere Gastgeber arme Leute. Alles ist regelrecht vom Zerfall bedroht. Das Dach des Lehmhauses ist an mehreren Stellen provisorisch mit Lumpen geflickt. An einer Stelle ist ein verrosteter Topf über eine Öffnung gestülpt. War vielleicht mal eine Art Kamin. Der etwa acht Jahre alte Junge spielt neben uns. Er klettert in einem Schuppen die kaputte und mehrfach reparierte Holzwand hoch, springt wieder hinunter und klettert wieder rauf. Dann schiebt er mit sichtbarer Freude seine kleine Schwester in einem klapprigen Kinderwagen über den gekehrten Lehmboden des Hofes. Niko, der Hausherr, streut Hühnerfutter in einen alten Blechnapf. Die kleinen Küken kommen angewuselt und hauen ausgehungert ihre Schnäbelchen in die Schüssel. Die Henne ist mit einem Fuß an einen Pfosten gebunden. So ist gewährleistet das die Küken nicht abhauen. Ein paar Enten werden von Marianna in einen kleinen Verschlag gebracht. Rostiges Zaungeflecht ist die Tür. Ein junger Hund, er sieht aus wie eine eigenwillige Pekinesenmischung, springt um uns freundlich herum. Ein anderer bellt aus einem weiteren Hof. Niko bringt das einzige Pferd von der Weide und bindet es neben dem Wachhund im anderen Hof. Wahrscheinlich bewacht der Hund das Pferd. Zumindest kommt es mir so vor. Als die Sonne sich langsam verneigt und der Abendwind uns mit einem kühlen Hauch erfrischt krabbelt Tanja in unser Fjällräven-Zelt. Ich hingegen bekomme kaum genug von diesem idyllischen Ort. Mit der Filmkamera laufe ich noch ein wenig herum. In den Bäumen brummt es urplötzlich als wären dort Millionen Bienen eingefallen. Ich untersuche das Phänomen genauer und entdecke zu meiner Freude Tausende, ja Abertausende von Maikäfern. Sie brummen was das Zeug hält. Manche von ihnen glauben sogar ich sei ein Baum. Ihre wilden Flügelschläge umflattern mich laut. Sie kreisen schwerfällig um meinen Kopf. Lassen sich in meinem Haar nieder. “Maikäfer”, flüstere ich andächtig. Als Kind habe ich sie immer gefangen und in einer Schuhschachtel gehalten. Ich hatte sie in meinem Zimmer fliegen lassen und sie gehegt und gepflegt bis sie dann irgendwann gestorben sind. Heute gibt es bei uns in Deutschland kaum noch Maikäfer. Ich habe schon lange keine mehr gesehen. Ob die bei uns ausgestorben sind? Hier scheint die Welt noch in Ordnung zu sein. Hier draußen auf dem rumänischen Land, weit weg von allem was Hektik und Stress verbreitet. Ich wandle noch ein wenig umher. Genieße den letzten Hauch des schwindenden Lichtes und krabble hochzufrieden mit diesem anstrengenden aber wunderschönen Tag zu Tanja ins Zelt.

Tanjas Gedanken:

Bei den freundlichen Farmern angekommen, glaube ich unser Glück kaum zu fassen. Welch wunderbares Geschenk, am Ende dieses Tages dürfen wir Zeit mit den Menschen hier verbringen und bekommen einen schönen und sicheren Platz in ihrem Hof. Oft denke ich über das Lebensglück der verschiedenen Menschen nach denen wir so auf unseren Reisen begegnen. In den unterschiedlichsten Lebenslagen, Glaubensrichtungen und natürlich auch unterschiedlichen finanziellem Stand. Ich tauche mehr in diesen Gedanken ein und stelle für mich fest, dass wir in unserer westlichen Gesellschaft schon sehr geprägt sind und das Glück oftmals mit Finanzen und Hab und Gut gleich setzen. Natürlich ist mir klar, dass es im Winter hier mit Sicherheit kein Vergnügen ist und eine Krankheit eine Katastrophe für die Menschen sein kann. Während ich da sitze und das zu Hause von Marianna und Niko erleben darf legt sich ein Mantel von unfassbarer Liebe um mich als ich den beiden in ihre Gesichter sehe. Ich glaube ich habe in meinem ganzen Leben noch nie einen Menschen gesehen, der in diesem Moment so viel Liebe ausstrahlt wie Marianna als sie mich anlächelt und ihre kleine Tochter zeigt…Manchmal wünscht man sich ein Moment würde nie aufhören… Später schlafe ich glücklich mit dem Ohm der Maikäfer ein.

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