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Hongkong 1995

Schlangen wie glühendes Magma

(Auszug aus dem Tagebuch)

Auf dem Victoriapark angelangt, verfolgen wir das einmalige und sensationelle Schauspiel des Sonnenuntergangs über der Sechsmillionenstadt Hongkong, die sich wegen offensichtlichen Platzmangels mehr in den Himmel erhebt als in die Breite. Das goldene Licht des untergehenden Sonnenballs lässt die aus Beton, Stahl und Glas erbauten Häuserkonstruktionen in unwirklichem, benahe romantischem Glanz erscheinen. Wie betäubt bestaunen Tanja und ich das Bild einer unwirklichen, unirdischen Zukunftsvision. Mit dem letzten Strahl der Sonne gehen vereinzelt die ersten künstlichen Lichter an. Und dann, je mehr die Dunkelheit der Nacht das Licht des Tages in sich aufnimmt, beginnt ein unvergleichlicher Akt, der in dieser Form wohl kaum ein zweites Mal auf Erden zu beobachten ist.

Wie bei einem gigantischen Feuerwerk springen immer mehr Lichter an. Erst noch recht verhalten, aber dann sich überschlagend, tauchen kleine und große Lichtquellen auf – an allen Ecken und Enden, in allen Höhen und Tiefen. Ihre Farbenvielfalt stellt die eines gewaltigen Jahrmarktes in den Schatten. Durch den Dunst und die Dunkelheit wirken die immer neu aufflammenden Lichtformen wie ein bunter Farbkasten, dessen Pigmente ineinander verschwimmen. Als würde eine außerirdische Macht mit einem Pinsel die gähnende Nacht beklecksen. Gebannt beobachte ich ein Purpurrot, das an einem unter uns liegenden Wolkenkratzer hochklettert. Weiße Punkte sprenkeln einen überdimensionalen Würfel. Sie scheinen sich ins Unendliche zu vermehren. Das Weiß wandelt sich unerwartet in Safrangelb und strahlt ins Nichts, bis es sich mit dunklem Karmesinrot vermischt, das von einer riesenhaften Leuchtreklame strahlt. Aus einem entfernten Winkel des Lichterinfernos glüht es apfelgrün, dann himmelblau, das sogleich in ein grelles Lila übergeht. Vor unseren Augen beginnen die Farben dieser Traumwelt miteinander zu tanzen, zu flimmern, zu springen, zu hüpfen und zu fließen. Nur breite und schmale Streifen – eines rauchschwarz, eines grauschwarz und eines blauschwarz – trennen und vereinen die millionenfachen Lichtquellen wie von Geisterhand. In den Schluchten und Tiefen der allumfassenden Schwarzfärbung fließen endlos lange Fluten wie glühendes Magma dahin. Unaufhaltsam und immer länger werdend, winden sich die feurigen Lindwürmer mit ihren tausend Augen um die kahlen Stahlbetonwände. Wir erblicken das erwachende Nachtleben der Weltmetropole Hongkong…

Glibberwürmer auf dem Löffel

Unsere Sinne solcherart befriedigt, treten wir den Rückweg nach Kowloon an. Hungrig suchen wir ein chinesisches Restaurant auf. Tanja bestellt sich freundlich lachend eine „hot-and-sour-soup“. „Guten Appetit“, wünsche ich ihr, als die Kellnerin Tanjas Lieblingssuppe in einer riesigen Schüssel serviert. Tanja bringt sie heraus und kostet den ersten Löffel. „Hmmm, sehr gut“, höre ich und freue mich, dass es ihr so gut schmeckt. Auch ich löffle eine Suppe, die meinen Geschmacksnerven allerdings gar nicht bekommt. Obwohl ich nicht besonders wählerisch bin und schon viel Undefinierbares gegessen habe, muss ich aus meiner Suppe geschmacklich widerliche, durchsichtige Streifen herausfischen. Ich weiß, dass es keine Würmer sind, jedoch habe ich schon so viel schlimme Geschichten über die Essgewohnheiten der Chinesen gehört, dass es mir jetzt beim Anblick dieser ekelhaften Dinger regelrecht den Magen umdreht. Lustlos stochere ich in meiner Suppe herum und finde neben wabbeligen, weißen Fettstücken große glitschige Pilze oder zumindest so etwas Ähnliches. Wenn ich sie in den Mund nehme, stellen sich glatt meine Haare zu berge. Angewidert und so unauffällig wie möglich lasse ich das ungenießbare Glitschding aus meinem Mund wieder auf den Löffel gleiten und lege es zu den bereits aussortierten, durchsichtigen, wurmähnlichen Streifen und den weißen Fettstückchen am Tellerrand. Während der weiteren Suche in meiner teuren Familienschüssel werde ich immer öfter fündig. Beim Anblick des auf dem Unterteller befindlichen Abfallhaufens bildet sich mehr und mehr Schweiß auf meiner Stirn.

Aus den Augenwinkel beobachte ich Tanja nicht ganz mitleidslos. Mit zufriedenem Gesichtsausdruck schöpft sie aus der großen Schüssel in ihre kleine Schale, so wie es bei den Chinesen üblich ist. „Schmeckt es dir wohl nicht?“, fragt sie, als sie mir beim Herumstochern zusieht. „Überhaupt nicht. Selten so eine üble Suppe bekommen“, antworte ich missmutig. „Aber sie sieht doch ganz gut aus“, meint sie genüsslich kauend. „Gut? Sie sieht scheußlich aus und schmeckt mindestens genauso wie die schrecklichen Dinger da“, antworte ich und deute mit meinem Löffel auf den Tellerrand. „Magst du etwas von meiner Suppe?“, fragt sie in mütterlichem Ton. „Gerne!“ Während sich Tanja kurz mal entschuldigt, mache ich mich heißhungrig über ihre hot-and-sour-soup her. Doch bereits nach zwei Löffeln entdecke ich auch in ihrer Suppe diese wunrmähnlichen, weißen Streifen, von denen ich einen glatt aus Versehen herunterschlucke. Mit wachsendem Ekel fühle ich, wie das Ding durch meinen Rachen die Speiseröhre hinuntergleitet und im Magen aufklatscht. Schaudernd schiebe ich Tanjas Familienschüssel zu ihrer Tischseite und spüle meinen Rachen mit einem kräftigen Schluck Bier. Wenige Minuten später setzt sich Tanja wieder an den Tisch. Verwundert sieht sie mich an. „Bist du schon satt oder schmeckt dir auch meine Suppe nicht?“ „Hmm, ich glaube ich bin satt“, schwindle ich, um ihr nicht den Appetit zu verderben. Verblüfft beobachte ich, wie sie mit dem gleichen Heißhunger wie vorher einen Löffel nach dem anderen zwischen ihren Zähnen verschwinden lässt. „Was siehst du mich so komisch an? Wenn du noch Hunger hast, dann bestell dir halt etwas anderes“, schlägt sie vor. „Nein, nein, ich bin voll“, meine ich kleinlaut und bin mir unschlüssig, ob sie die Dinger in ihrer Suppe nun entdeckt hat oder nicht. Meine Neugierde steigt nach einer Weile ins Unermessliche und ich muss es einfach wissen. „Sag mal“, beginne ich zurückhalten lächelnd. „Machen dir die glitschigen Dinger in deiner Suppe gar nichts aus? Schmecken sie dir am Ende noch?“ „Welche glitschigen Dinger?“ fragt sie mit vorwurfsvollem Ton. Als sie einen weiteren Löffel voll Glibberwürmer in den Mund schieben will, hält sie plötzlich in ihrer Bewegung inne. Ihre Augen fokussieren einen der ekelhaften, hässlichen Glitschis, der es sich gerade auf ihrem Löffel bequem macht. Langsam setzt sie den Löffel ab, entfernt den Glitschi und meint: „Das sind ja wirklich ekelhafte Glibberwürmer.“ „Find ich auch“, bestätige ich, und da Tanja immer noch isst, möchte ich nicht weiter mit ihr darüber sprechen. Nach wenigen Minuten hat sie einen ähnlich großen Abfallhaufen auf ihrem Tellerrand liegen. Auf einmal legt sie ihren Löffel auf den Unterteller und sagt: „Ich glaube, das war meine erste und letzte hot-and-sour-soup in Hongkong.“ Da wir in wenigen Wochen nach China reisen, um die Taklamakan zu durchqueren, fragt Tanja: „Glaubst du die essen solche Glibberwürmer auch in China?“ „Keine Ahnung. Aber lass uns besser den Laden verlassen. Alleine der Geruch ist hier nicht nach meinem Geschmack“, drängle ich, worauf mir Tanja uneingeschränkt Recht gibt…


Hongkong 1985/1986/1995

Aufregendes Hongkong. Metropole der Superlative. Atemberaubende Skyline. Hektisches Treiben vereint die einzigartige Mischung aus Alt und Neu, fernöstlicher und westlicher Kultur. Hongkong ist für Tanja & Denis Katzer immer wieder eine aufregende Zwischenstation.

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