Haben es Walfänger verdient, auf den Grund des Meeres geschickt zu werden?
N 69°19'28.8" E 16°07'05.7"Datum:
02.10.2020
Tag: 061
Land:
Norwegen
Ort:
Andenes
Tageskilometer:
0 km
Gesamtkilometer:
5444 km
Bodenbeschaffenheit:
Asphalt
Sonnenaufgang:
07:11
Sonnenuntergang:
18:31
Temperatur Tag max:
14°
Temperatur Nacht min:
9°
Aufbruch:
10:30
Ankunftszeit:
18:00
(Fotos zum Tagebucheintrag finden Sie am Ende des Textes.)
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Auf dem Rücken des dahindümpelnden Wales erkenne ich auf der längsgefurchten Haut ein paar Buckel und Zacken. „Was für ein wunderbares, urzeitlich aussehendes Wesen“, geht mir ein Gedanke durchs Gehirn. Immer wieder stößt das riesige Tier seine feuchte Atemluft in den Himmel. Sein Anblick wirkt beruhigend auf mich. Ich denke an Thomas Nickerson, der als 14-jähriger Schiffsjunge auf dem mit 20 Mannschaftsmitgliedern besetzten 28 Meter langen Walfangschiff Essex anheuerte und Zeuge wurde wie am 20. November 1820 ein Pottwal die Essex angriff und versenkte. Nickerson war einer der fünf Männer, die das Unglück nur überlebten, weil er mit seinen Kameraden die Toten aufaß. Später konnte er über die Katastrophe berichten. Ich blicke auf das gewaltige Tier unter uns und frage mich, ob sein Kollege vor 200 Jahren sich an den Menschen gerecht hatte? Gerecht dafür, dass seine Art auf brutalste Weise von uns Menschen nahezu ausgerottet wurde? Fakt ist, dass Wale wegen ihres großen Gehirns und ihres komplexen Sozialverhaltens als besonders intelligent gelten. Also könnte der Angriff auf das Walfangschiff Essex ein geplanter Akt der Verteidigung gewesen sein. Irgendwie schade, dass sich die Wale nicht zusammengetan haben, um sich und ihre Sippe vor dem Erzfeind Mensch zu schützen. Meiner Ansicht nach hätte es jeder Walfänger verdient, auf den Meeresgrund geschickt zu werden, denn abgesehen vom Menschen haben gesunde Wale kaum Feinde. Nur kranke oder schwache Tiere müssen sich vor Orcas und großen Haien in Acht nehmen. Interessant für mich ist das Pottwalverbände ihre Kälber und geschwächte Kameraden einkreisen, sie also in ihre Mitte nehmen, um sie mit ihren Körpern vor Angreifern zu schützen. Forscher haben beobachtet, dass Bullen, die als Einzelgänger unterwegs sind, einer in Not geratene Gruppe von Weibchen und ihren Jungtieren zu Hilfe eilen, um sie zu behüten. Man nimmt an, dass sich die Tiere über große Strecken mit ihren akustischen Signalen warnen oder um Hilfe rufen. Es ist bekannt, dass die Walfänger auch Jungwale harpunierten, um ihre Eltern anzulocken. Wer weiß, ob das die Crew der Essex getan hat und der Walbulle nur seine Sippe verteidigte?
Faszinierend ist ebenfalls, dass sich ein einzelnes Tier für einen schwächeren oder verletzten Kameraden als Schutzschild einsetzt, um ihn vor einem angreifenden Orca mit seinem Körper zu schützen oder ihn wieder in die Mitte der Gruppe zu geleiten. Dabei bleibt die Schule grundsätzlich zusammen, selbst wenn sie sich dabei opfert. Nach dem Motto einer für alle und alle für einen. „Und solche Brüder und Schwestern der Menschheit schlachten wir einfach so ab? Das ist Mord“, denke ich. Der Mensch macht sich seine eigenen Gesetze, die genau auf ihn zugeschnitten sind. Dabei ist es bis heute erlaubt, Tiere ungesühnt und ungestraft zu quälen, in furchtbaren Massenzuchten einzusperren und zu ermorden. Wenn man in Betracht zieht, dass das reiche Japan am 30. Juni 2019 aus der internationalen Walfangkommission ausgetreten ist und gegenwärtig wieder im großen Stil diese Geschöpfe abschlachtet, könnte ich mir die Haare raufen. Vor allem wenn man bedenkt, dass alleine im 20. Jahrhundert circa drei Millionen Wale erlegt wurden. Eine Zahl, die mit dem normalen Verstand nicht mehr zu greifen ist. Einige Länder deklarieren ihren Walfang heute unter dem Deckmantel der Wissenschaft und Island und Norwegen betreiben sogar kommerziellen Walfang. Die norwegische Regierung subventioniert sogar die jahrzehntelange Walfangtradition. Derzeit ist eine Fangquote von 1.000 Zwergwalen im Jahr erlaubt. Auch wenn man glaubt Zwergwale sind recht klein, können sie bis zu knapp 10 Meter lang werden.
„Taucht!“, ruft es über die Bordlautsprecher. Aus meinen Gedanken gerissen hebe ich die Kamera ans Auge, um die imposante, in der Mitte tief eingekerbte Fluke, die wie zwei aneinander liegende rechtwinklige Dreiecke aussieht, sich senkrecht in die Höhe stellt und nahezu geräuschlos im Nordmeer verschwindet. „Seltsam, dass die Wale das Kommando „Taucht“ verstehen und auch wirklich befolgen“, sagt eine ältere Dame neben mir. Wäre es mir nicht übel, würde ich fragen, ob die in bester Outdoorbekleidung angezogene Touristin mich auf den Arm nehmen möchte. So aber sage ich gar nichts, setze mich wieder auf die Holzbank, ziehe mir die wärmende Decke um die Schultern und verharre stocksteif. Zum Glück ist der Kapitän mit den zwei Walsichtungen zufrieden und steuert die M / S Reine wieder gen Festland. Nach über fünf Stunden fährt das Walausflugsboot wieder in den kleinen Fischerhafen von Andenes. Das Meer ist hier noch genauso glatt wie heute Morgen. Als wir von Bord gehen, treffen wir auf Stefan. „Geht es dir wieder besser?“, fragt er mitfühlend. „Besser als draußen auf hoher See“, antworte ich. „Meine Frau Nathalie und ich würden euch gerne zum Abendessen einladen. Habt ihr Lust?“ „Oh, das ist sehr nett“, antworte ich, bin mir aber nicht sicher, ob mir nach Essen und Kommunikation zu Mute ist. „Sobald du festen Boden unter den Füßen hast, geht es dir schnell wieder besser“, sagt er, als könne er Gedanken lesen. „Also um 18:30 Uhr?“ „Okay gerne“, antworten wir.