Gut oder Böse?
N 51°50'17.8'' E 107°35'36.5''Tag: 85
Sonnenaufgang:
07:12 Uhr
Sonnenuntergang:
20:25 Uhr
Gesamtkilometer:
13639.56 Km
Temperatur – Tag (Maximum):
20 °C
Temperatur – Tag (Minimum):
12 °C
Temperatur – Nacht:
2 °C
Breitengrad:
51°50’17.8“
Längengrad:
107°35’36.5“
Weil in sechs Tagen unser russisches Visum ausläuft müssen wir uns langsam sputen die Grenze zu erreichen. Trotzdem wollen wir der Hauptstadt von Burjatien nicht einfach den Rücken zukehren ohne etwas gesehen zu haben. So besichtigen wir bei strahlend blauem Himmel und angenehmen 27 Grad in der Sonne das sehenswerte Freilichtmuseum und bewundern dort im Zoo die einzigen lebenden Braunbären, die uns während der gesamten Russlandreise zu Gesicht gekommen sind. Wir statten dem erst 1990 erbauten buddhistischen Tempel einen Besuch ab, beobachten buddhistische Mönche bei der Erstellung eines großen Mandalas und führen interessante Gespräche mit ihnen. Am späten Nachmittag fahren wir mit dem Bus in die Innenstadt. “Tourist?”, werden wir immer wieder einmal angesprochen, nicht ohne zu bemerken, mit welch besonderen Betonung man hier dieses Wort ausspricht. Es schwingt fast etwas Bewunderndes, Sehnsuchtsvolles, Leidenschaftliches mit. Es ist ein Klang in diesem Wort, der uns immer wieder daran erinnert, welches außergewöhnliche Geschenk es ist als Reisender unterwegs sein zu dürfen und die Welt mit eigenen Augen zu sehen. Die meisten Sibirier kommen ihr gesamtes Leben nicht in den Genuss ihre Region zu verlassen, geschweige denn, ein fremdes Land besuchen zu dürfen.
Weil Tanja vor unserer Weiterreise noch mal in einem Internetkaffee die Post checkt, nutze ich die Zeit, um das Leben und Treiben auf dem Platz der Räte zu genießen. Mitten im Zentrum sitze ich auf einem Mauerchen, die Abendsonne im Rücken, und blicke auf den gigantischen Kopf von Lenin, dem man hier zu seinem 100. Geburtstag ein außergewöhnliches Denkmal gesetzt hat. Zu dieser Stunde trifft sich hier die Jugend. Skateboardfahrer, Breakdancer, die vor dem Leninkopf ihre Saltos schlagen, und Radfahrer die auf ihren kleinen Bikes atemberaubende Kunststücke vorführen, geben dem einst kommunistisch geprägten Platz einen Hauch von Freiheit und Unbeschwertheit. “Njet! Paschalusta! Upuskat!” “Nein! Bitte! Lass mich los!”, höre ich plötzlich ein Jungen gotterbärmlich jammern. Ein Mann hat den etwa Dreizehnjährigen am Kragen gepackt und schleift ihn erbarmungslos über den Platz. “Lass mich bitte los!”, ruft und flennt der Bub so herzerweichend, das ich dem ungleichen Paar mit den Augen folge. “Was ist da los? Warum hilft dem Jungen keiner? Jemand muss doch einschreiten”, denke ich mir und würde am liebsten aufspringen, um ihm zur Hilfe zu eilen. Der junge Gefangene windet sich mit allen Kräften, um sich aus dem offensichtlich eisernen Griff zu befreien. Der Mann hält ein Handy in der anderen Hand und versucht ständig jemand anzurufen. “Neiiiin! Neiiiin! Neiiiin! Ich will nicht!”, brüllt der Kleine. Ich sehe über den Platz ob jemand Notiz von der Situation nimmt. Jedoch scheint es keinem zu interessieren. “Mache ich einen Fehler wenn ich eingreife? Ich bin Fremder. Weiß eigentlich gar nicht worum es geht. Vielleicht ist der Bengel ein Strauchdieb? Hat er versucht dem Mann etwas zu stehlen? Wer weiß? Nach seiner armseligen Kleidung zu urteilen könnte es ein Junge aus dem Armenviertel sein”, überlege ich und komme zu dem Schluss mich besser nicht einzumischen. Der Mann hat den wehrlosen Knaben unterdessen in den Schatten einer Baumallee neben dem Leninkopf gezerrt. Mittlerweile haben sich tatsächlich ein paar Jugendliche um den vermeintlichen Kidnapper versammelt. Der hält sein zappelndes Opfer noch immer am Kragen. Einer der Kumpanen reicht dem Gepeinigten jetzt eine Zigarette, die er sich sofort anzündet. Das Gezeter hört kurz auf. “Na wie hast du die Zeit verbracht?”, lenkt mich Tanjas Stimme unerwartet ab, die gerade aus dem Internetkaffee zurückgekommen ist. “Ja, ein interessanter Ort. Aber dort drüben beobachte ich schon seit geraumer Zeit eine ungute Situation”, sage ich zur Baumallee deutend. Doch auf einmal ist niemand mehr zu sehen. “Seltsam, gerade eben war da noch ein Mann der einen Jungen festhielt. Wollte ihm schon helfen aber ich war mir nicht sicher wer der Gute und wer der Böse war. Oder, ob sie beide nicht sauber waren. Seltsamerweise hat keiner der hier Anwesenden darauf reagiert. Als wäre der schreiende Jugendliche nicht da gewesen? Als wäre er Luft gewesen? Eine Fiktion einer anderen Welt? Ist schon eigenartig was man alles erleben kann. Anscheinend liegen hier das Positive und das Negative ganz dicht nebeneinander. Nur, wer weiß ob der Hilfsbedürftige nicht doch der Übeltäter war? Vielleicht war der Mann sein Vater? Ach ich werde es nie herausfinden”, meine ich grübelnd.