Gefährliches Spiel
Bei Perth — 11.01.2000
Wie bald jeden Tag wehen kräftige Windböen über das nahe steppenähnliche Land und wirbeln den feinen, schwarzen Staub in rasenden Fontänen durch die Luft. Mit unangenehmen Pfeifen verfangen sie sich in den Ecken und Kanten unseres Wohnwagens und blasen die trockene feine Erde in jede Ritze unserer Behausung. Es rüttelt erschreckend als eine weitere Böe unter unser Vorzelt fährt und es kann nur eine Frage der Zeit sein bis es in Fetzen zerrissen wird. Unseren Kamelen macht der heiße Wind nichts aus. Im Gegenteil, er vertreibt er die lästigen Stechfliegen, die ihnen bis zu hundert Millimeter Blut pro Tag abzapfen. Sie suhlen sich in den Sandkuhlen und dösen schwanzwedelnd vor sich hin.
Es ist 17:00 Uhr, ich stelle meine Schreibarbeit für heute ein, mache mich auf, um unsere Jungs von der Weide zu holen und um sie zu einer kleinen Einzäunung zu führen die sich direkt neben unserem Wohnwagen befindet. Es ist eine recht umständliche Prozedur die ich hier mit wenigen Sätzen erklären möchte: Wieder einmal haben wir unsere Basis verlegt und befinden uns an einem neuen Ort. Hier gibt es nur ein großes Freigehege auf denen zwei Kamelherden ihren Auslauf finden. Tagsüber sind die Tiere des Kamelmannes in einer Einzäunung die für Touristenritte benutzt wird und das ist der Grund warum wir unsere fünf Expeditionsmitglieder während dieser Zeit ins Freigehege geben dürfen. Am Abend haben dann die Kamele des Farmbesitzers den wohlverdienten Auslauf im Freigehege und unsere fünf müssen in das Nachtquartier neben dem Wohnwagen. Unser tägliches Problem liegt darin, dass wir unsere neuen Expeditionsmitglieder an Inspektor Gadgets Herde vorbeiführen müssen und das geht nur, wenn wir sie durch eine dunkle Scheune zerren. Leider hassen Kamele alles was dunkel ist wie die Pest, denn sie fürchten sich vor nichts mehr als vor unheimlichen Winkeln, Ecken und von Menschen gebauten Gebäuden. Natürlich wäre es leichter sie einfach durch das Territorium ihrer Artgenossen zu bringen, doch würden sich die zwei Gruppen höchstwahrscheinlich gegenseitig beißen und im Extremfall verletzen. Da die Scheune der einzige Ausgang ist bleibt uns also nichts anderes übrig als das gefährliche Spiel täglich zu wiederholen.
Weil Tanja beim Einkaufen ist, frage ich einen Arbeiter der Farm ob er mir hilft Sebastian, Hardy, Kadesch, Istan und Jafar durch die Scheune zu führen. “No Problem!”, antwortet er. Ich öffne das Scheunentor und er geht mit dem mutigen Hardy voraus. Obwohl Hardy sonst ein Faulpelz ist und alles was nach Arbeit riecht verabscheut, geht er zwar mit steifem Hals, aber ohne Probleme zu bereiten durch die etwa 20 Meter lange Scheune. Ich folge dem hilfsbereiten Arbeiter mit dem ängstlichen Sebastian. Er verdreht wie immer die Augen und sobald sein schwerer Körper das dunkle Innere betritt hebt er seinen Kopf hoch in die Luft und beginnt wie eine Holzmarionette dahinzustaksen. Nur das kleinste ungewohnte Geräusch kann ihn veranlassen in Panik zu verfallen, um sich zu treten und wie ein Irrer auf das andere Tor der Scheune zuzurasen. Ich bin mir jedes Mal der enormen Gefahr bewusst, von ihm gegen die Wand gequetscht oder getreten zu werden und extrem angespannt. “Ruhig Sebastian, ganz ruhiiig. Du machst das gut. Bist ein guter Junge!”, Beruhige ich ihn. Wie in Zeitlupentempo, den Kopf langsam nach rechts und links wendend, ob nicht doch irgend ein Geist hinter einem der vielen Stalltüren, Strohballen, Schubkarren und anderen grotesk aussehenden Gegenständen hervorspringt, schreitet er wie in Zeitlupe an den für ihn beängstigenden Stellen vorbei. Ich versuche seinen hoch erhobenen Kopf mit Hilfe der Führungs- und Nasenleine zu mir herunterzuziehen. Sollte er aus irgend welchen Gründen plötzlich erschrecken, habe ich so die Chance ihn unter meiner Kontrolle zu halten. Der Kamelmann läuft bereits mit Hardy durch den Ausgang auf der anderen Seite der Scheune, als Sebastian und ich gerade die Hälfte des Weges zurückgelegt haben. Plötzlich bricht hinter uns ein tiefes Dröhnen und entsetzliches Getrampel aus. Ohne nur die kleinste Chance einer Reaktion zu geben, reißt Sebastian seinen Kopf nach oben, schlägt vor Entsetzen mit seinem rechten Hinterbein aus und trifft mit der gnadenlosen Kraft eines Kamelbullen einen eisernen Stuhl, wobei dieser meinen Oberschenkel nur knapp verfehlt. Nur Bruchteile von Augenblicken danach bewegt sich sein großer Körper in explosionsartiger Geschwindigkeit nach vorne. Durch den gewaltigen Ruck sind mir die Führungs- und Nasenleinen durch die Hand geglitten. Ich habe keine Zeit nur eine Sekunde über das Brennen in meiner Handfläche nachzudenken, bekomme aber glücklicherweise die Enden der beiden Leinen gerade noch zu fassen und kann es so, unter einem gewaltigen Adrenalinausbruch, irgendwie fertig bringen mit Sebastian die Flucht nach vorne anzutreten. “Raus hier Denis!!!”, höre ich die Stimme des Kamelmanns, brüllen und merke nicht mehr wie ich in schauriger Angst um mein Leben laufe. Nahezu gleichzeitig verlasse ich mehr fliegend als laufend mit Sebastian an meiner Seite die Scheune. Nur einen Atemzug später bricht der riesige Kadesch, sowie Istan und Jafar schnaubend vor Entsetzen durch das Scheunentor und rasen ins Freie. “Das war knapp, hätte nicht viel gefehlt und sie hätten dich überrannt.”, sagt der freundliche Mann lachend während mir die Knie fast den Dienst versagen. Sofort laufen wir den drei Ausreißern hinterher und bringen es fertig ihnen den Weg zur gefährlichen Hauptstraße abzuschneiden. Mittlerweile haben sie sich wieder beruhigt. Da sie wissen dass Fressenszeit ist, spazieren sie, als wäre nie etwas gewesen, von selbst in ihr Nachtlager. Klar, Kamele sind Herdentiere. Kadesch, Istan und Jafar haben ihre Kameraden durch die Scheune laufen sehen und sie hatten Angst allein zurückbleiben zu müssen. Sie sind ihnen nachgerannt und haben dabei sogar ihre Angst überwunden. Es gibt nichts schlimmeres für ein Kamel als alleine sein zu müssen.
Was der Herdentrieb anrichten kann bestätigt eine Geschichte die der Kamelmann Inspektor Gadget in einem Buch über Indien gelesen hat. Man hat vor vielen Jahren eine Eisenbahnlinie durch die Wüste gebaut. Als dann die ersten Züge die Wüste durchquerten ist eine Kamelherde in Panik geraden. Der Zug trennte die Herde in zwei Hälften. Das Tragische war, dass die andere Hälfte der Herde ihren Artgenossen nachgerannt ist und dabei ein Kamel nach dem anderen vom Zug getötet wurde.