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Abbrechen

Die Unendlichkeit unseres Geistes

N 23°22’47.8’’ E 140°05’02.2’’

Trocken-Camp — 30.09.2002

Wieder verbrachte ich eine furchtbare Nacht. Mit steifen Gliedern liege ich in meinem Schlafsack und frage mich wie ich es fertig bringen soll den heutigen Lauftag zu überstehen. „Jetzt steh auf. Komm aufstehen. Du musst heute weiter. Laufen ist angesagt. Du kannst dich doch nicht von einer Rast zur anderen durch Australien schmuggeln,“ spricht es zu mir. „Kann ich doch. Ich kann tun was ich will. Ich kann liegen bleiben so lange ich will. Du hast mir überhaupt nichts zu befehlen.“ „Na dann brennt dich die Sonne zusammen. Du weißt wie sich das anfühlt. Das Laden wird zur Qual. Also steh endlich auf. Mach schon.“ „Na dann brennt es mich halt zusammen. Ich kann einfach nicht. Jetzt lass mich zufrieden. Schalt endlich ab.“ „Es wird nicht nur heiß sondern auch sehr windig. Staub wird über deinen Schlafsack wehen. Fliegen werden dich auffressen. Schwitzen wirst du und am Schluss musst du doch aufstehen.“ „Ahhh, jetzt lass mich doch in Ruhe. Hast es wieder geschafft. Mein Gott, nicht einmal hier in der Wildnis kann man ungestört liegen bleiben,“ fluche ich jetzt leise und schwinge meine lahmen Knochen über das Bettgestell. „Was hast du gesagt?“ ,fragt Tanja im Halbschlaf. Ach nichts,“ antworte ich etwas brummig. „Aber du hast doch etwas gesagt?“ „Ich habe mit mir selbst gesprochen,“ krächze ich mit heißerem Hals.

Nachdem wir 3 ½ Stunden später gefrühstückt, gepackt und die Kamele geladen haben lege ich mich auf den Boden in die Seitenlage. Ich winkle mein rechtes Knie über das ausgestreckte linke Bein und atme tief ein und aus „Jetzt,“ sagt Tanja und drückt mir die rechte Schulter auf die Erde, während sie mit der anderen Hand das angewinkelte Bein ebenfalls nach unten drückt. Es kracht befreiend und meine unteren Rückenwirbel befinden sich wieder in einem schmerzfreien Zustand. Bevor ich aufstehe wiederholen wir die gleiche Technik, nur das Tanja diesmal die linke Schulter und das linke Knie nach unten drückt. Wieder kracht es wie in einem alten Gebälk. Seit vielen Jahren nutzen wir diese erfolgreiche Methode, um verschobene Rückenwirbel wieder in die Reihe zu bekommen. Es funktioniert fast immer, außer die Verspannungen haben sich zu einer Entzündung ausgeweitet.

Um 08:15 verlassen wir das trockene Wasserloch in Richtung Osten. Der Wind erhebt sich trotz des heutigen wolkenlosen Himmels zu regelrechten Sturmböen und weht uns ins Gesicht. Willy Willys wirbeln über die Stein und Staubwüste. Mit eilenden Schritten überqueren wir die ausgetrocknete Haut der Mutter Erde. Wäre ich mir nicht sicher in diesem Augenblick nicht zu schlafen würde ich glauben auf dem Mond zu marschieren. Die Trostlosigkeit der Mondlandschaft zeigt uns mit jedem Meter ihre Erbarmungslosigkeit, zeigt uns ihr Potential der Hoffnungslosigkeit. Mit Gliederschmerzen, Hals und Kopfweh schleiche ich über das heiße Gestein. Rücken, Knie und Fersenschmerzen zwingen meine Gedanken in eine freudlose, düstere Aussichtslosigkeit. Nicht zum ersten Mal beginnt in mir die Frage nach dem Sinn aufzukommen. Eine Schwärze breitet sich aus die mich traurig und mutlos werden lässt. Ich hadere mit mir und blick immer wieder zu Tanja. Auch sieh hängt ihren Gedanken hinter her. Auch sie leidet unter Kopf, Knie und Kreuzschmerzen. Wir sind zu müde, um uns zu unterhalten. Zu kraftlos, um das Geheule des sich uns entgegen werfenden Windes mit unseren Stimmen zu durchbrechen.

Meter für Meter geht es weiter, immer weiter ohne zu glauben dem Ziel nur ein bisschen näher zu kommen. Fragen nach dem Ziel kommen auf. Wo ist es? Was ist es? Werden wir es erreichen? Wann werden wir es erreichen? Ist das Ziel die Ostküste? Oder ist es der innere Reifeprozess? Ist es vielleicht die Kombination aus Beidem? Sind wir zufrieden wenn wir es erreichen? Was kommt danach? Geht es dann weiter? Wie geht es dann weiter? Sind diese Fragen wichtig? Muss ich sie mir überhaupt stellen? Sind unsere Körper dann stark genug, um uns in eine neue, für uns unbekannte Welt zu tragen? Ist unser Geist stark genug? Haben wir nach Australien genug Energie zu Verfügung, um den nächsten Traum zu erfüllen? Wollen wir wirklich mit dem Fahrrad durch Russland und China? Fragen über Fragen schleudert es durch mein Gehirn. Wehen von rechts nach links. Wiederholen sich, drehen sich im Kreis, um unbeantwortet wiederzukehren. Alles schüttelt sich durcheinander. Ernährung, Philosophie, Spiritualität, Rettung der Mutter Erde, Religion, Politik, Medien, Krieg und Frieden, Wachstum und Überlebenschance der Menschheit. Alles Themen die wir hier in der Einsamkeit Australiens bald jeden Tag präsentiert bekommen. Fragen, Antworten und noch mehr Fragen. Emotionale Tiefen im krassen Kontrast zu Glückseeligkeit. Bewusstheit und Entdeckung des eigenen Körpers. Entdeckung des Schmerzes. Überwindung des Schmerzes. Was steckt hinter Schmerz? Will er uns etwas sagen?

Entdeckung der Unendlichkeit unseres Geistes. Gespräche mit der Wüste, der Mutter Erde, dem Höheren Selbst, dem Überbewusstsein und Selbstgespräche wechseln sich bald täglich miteinander ab. Es ist wie in einer Waschmaschine, einer Schleuder die alles Unwichtige aus unseren Gehirnen herauspresst, bis bloß noch die Essenz übrigbleibt. Doch was ist die Essenz? Die Gedanken bündeln sich, fließen durch einen Trichter, sind sichtbar und verständlich bis die Antworten zum greifen nahe sind. Bis sich alles von selbst erklärt, nur um wenig später mit neuen ungelösten Fragen aufzuwarten. Es ist eine sich wiederholende Schleife die sich letztendlich nie ähnelt. Es ist ein Abenteuer der Superlative nach Antworten und Lösungen der vielen Frage zu jagen. Es ist das wahre Abenteuer. Das Abenteuer um zu sich selbst zu finden, unser tiefstes Inneres zu erforschen. Ein Abenteuer aus den ewigen Gründen der eigenen Psyche eine Brücke zum Rest der Welt zu schlagen, denn alles ist miteinander verbunden. Nichts ist voneinander getrennt. Es ist ein Weg der in die Unendlichkeit des Universums führt. Ein Weg zum Zentrum von allem was ist, ein Weg zum Allumfassenden, ein Weg zu Gott…“

Denis! Denis träumst du? Da kommt ein Auto!“ „Was?“ ,antworte ich aus meiner Gedankenspirale gerissen und blicke zur Seite. In einem Abstand von ca. 100 Meter überholt uns ein Roadtrain auf der kargen Ebene, die so weit wie tausend Autobahnen ist „Das ist Robert!“ ,rufe ich als der Viehtransporter in einer Staubexplosion vor uns anhält.

„Na das ist ja eine Überraschung,“ begrüßen wir unseren ehemaligen Gastgeber. „Ja, hätte auch nicht gedacht euch schon wieder zu  sehen. Ich muss ein paar Rinder aus einer der östlich gelegenen Einzäunung holen.“ erklärt er. „Na dann sehen wir uns wieder wenn du heute Abend zurückfährst?“ ,frage ich. „Nein, muss die Rinder in Boulia abliefern und fahre über die Nordsüd Strecke zurück. Ihr kommt ja gut voran. Wie geht es euch?“ „Oh, ehrlich gesagt geht es mir gar nicht gut. Ich fühle mich recht schwach,“ antworte ich. „Hast du Hals und Kopfschmerzen?“ „Ja.“ „Ah, dann hast du dir einen Virus eingefangen. Angus und Clara leiden seit gestern unter den gleichen Symptomen.“ „Gut zu wissen. Ich dachte schon ich werde zu alt für so einen Trip,“ antworte ich jetzt lachend. Wir unterhalten uns noch ein paar Minuten bis sich Robert wieder aus dem Staub macht.

Wenige Kilometer später zwingt uns ein nicht auffindbarer Track wieder zu einen Querfeldeinlauf. Wir verlassen nun Marion Downs und befinden uns laut Karte auf dem Land von Lorna Downs Station. Am King Creek treffen wir auf einen Zaun. Erschöpft bleiben wir bei knapp 50° Grad in der Sonne stehen und betrachten das Drahtgeflecht. In der Ferne entdecke ich ein Gatter. „Ob wir dort durchgehen sollen?“ ,frage ich. „Ich weiß nicht. Du bist der Navigator,“ antwortet Tanja sichtlich angeschlagen. Zu erschöpft eine Entscheidung zu treffen gebe ich Tanja die Führungsleine von Sebastian und knie mich für ein paar Minuten auf den heißen Boden. Nach wenigen Minuten ist der Schwächeanfall vorbei. „Wir laufen besser am Zaun entlang. Wenn die Karte stimmt endet er in drei Kilometern, dann können wir wieder in Richtung Osten marschieren,“ entscheide ich und ziehe die schwitzenden Tiere weiter.

Wir treffen wieder auf einen Track den es in der Karte nicht gibt. Er führt uns in die gewünschte Richtung. Rinder laufen vor uns über das tote Erdreich. Woher bekommen sie ihre Nahrung? Es ist mir ein Rätsel wie diese Tiere hier überleben. Südlich von uns erspähen wir eine spärliche Baumreihe. In der Hoffnung dort Schatten und etwas Fressbares für unsere hungrigen Kamele zu finden laufen wir auf sie zu. Als wir näher kommen sehen wir das vielleicht hundert oder mehr Rinder den Platz für sich beansprucht haben. Wir ziehen nun nach Westen, folgen dem armseligen Erdriss der in der Karte als Canary Creek gekennzeichnet ist und lassen uns im Halbschatten eines Eukalyptusbaumes nieder. Obwohl es hier kaum etwas für unsere höckerigen Kameraden zu fressen gibt entscheiden wir zu bleiben…

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