Die Bettlerin und erneute Überraschung!
N 56°00'52.3'' E 092°53'08.0''Tag: 123
Sonnenaufgang:
07:32 Uhr
Sonnenuntergang:
19:51 Uhr
Gesamtkilometer:
10845.80 Km
Temperatur – Tag (Maximum):
10 °C
Temperatur – Tag (Minimum):
1 °C
Breitengrad:
56°00’52.3“
Längengrad:
092°53’08.0“
Wir verbringen den Tag mit dem Packen unserer Ausrüstung. Weil die Nonnen uns mehrfach eingeladen haben mit ihnen zu essen suche ich mittags den Speiseraum auf. “Sehr gut. Hm, wirklich gut”, lobe ich eine alte zahnlose Nonne die mir einen weiteren Teller Reisgemüsesuppe hinstellt und mich gütig anlächelt. Als Hauptgericht befriedige ich meinen Radfahrhunger mit Brot Kartoffelpüree und leckeren Fisch. “Wo ist denn ihre Frau?”, fragt eine der Nonnen einen Tisch hinter mir. “Sie hat schon gegessen und packt unsere Ausrüstung”, antworte ich als eine Frau die Tür zum Speiseraum öffnet, im Türrahmen stehen bleibt, sich heftig bekreuzigt und zu beten beginnt. Ich schenke mir die zweite Tasse Tee ein und lasse mir einen selbstgebackenen Kuchen munden den mir eine Küchennonne immer wieder mit den Worten “Kuscht! Kuschet” (“Iss! Iss doch!”) anbietet. Mir fällt auf das die Frau noch immer im Türrahmen steht und sich weiterhin ohne Unterlass bekreuzigt. “Seltsam”, denke ich und beobachte sie aus dem Augenwinkel. Die Nonnen um mich herum scheinen die Besucherin völlig zu ignorieren. Erst jetzt bemerke ich den schlechten Zustand ihrer dicken Winterkleidung. “Ohne Zweifel. Die Frau ist eine Bettlerin und versucht mit ihren Gebeten die Nonnen zu erweichen.” Verwundert Blicke ich in die Runde, jedoch macht keiner der Anwesenden Anstalten der Bettlerin etwas zum Essen zu geben. Plötzlich bleibt mir der Kuchen im Hals stecken und mein Appetit ist mir vergangen. Mir wird bewusst wie ungerecht die Welt manchmal sein kann. Während ich die Möglichkeit besitze in unserem Kellerzimmer meinen Hunger mit einer leckeren Travellunch Nahrung zu tilgen, in einem der nahen Restaurants Essen zu gehen oder mich hier im Kloster verwöhnen zu lassen, steht die Frau da und hungert offensichtlich. Eigenartig, einer bekommt alles während ein anderer, aus welchen Gründen auch immer, betteln muss.
Fünf Minuten später bekommt die Bettlerin von der Küchennonne einen halben Leib Brot geschenkt. Sie bedankt sich und als sie im Begriff ist zu gehen springe ich hoch, sage den anwesenden Nonnen das ich gleich zurückkommen werde und verlasse mit der armen Frau den Speiseraum. “Einen Augenblick bitte”, bitte ich sie hier zu warten und eile in unsere Kellerräume. “Schnell Tanja. Da draußen wartet eine Frau die Hunger hat. Such alles zusammen was wir an Essbaren haben”, rufe ich. Wenig später sprinte ich mit einer Tüte voller Leckereien wieder die Treppen hinauf, laufe über den Klosterhof und reiche der Frau etwa 5 Kilogramm hochwertige Nahrung. “Gib mir Geld”, sagt sie und streckt die Hand aus ohne in die Tüte zu sehen. “Du hast hier für mehrere Tage gutes Essen”, antworte ich etwas verdutz. “Gib mir Geld”, sagt sie ein wenig herrisch ohne zu Lächeln oder sich dankbar zu zeigen. “Nein”, antworte ich mich entschuldigend. Als ich mich wieder zum Speisesaal bewege läuft sie mir mit offenen Händen hinterher und fordert mich erneut auf ihr Rubel zu geben. Ich setzte mich wieder zu den Nonnen an den Tisch. Keine von ihnen hat bemerkt warum ich weg war. Nachdenklich nippe ich an meiner Tasse Tee und mir wird in diesen Sekunden klar warum die Nonnen so kühl reagiert haben. Ab und zu schaffen es Bettler in den nach außen abgeriegelten Hof des Klosters zu gelangen. Dort kennen sie sich offensichtlich aus und steuern den Speisesaal an. Sollte es Schule machen, dass jeder Bettler von Krasnojarsk hier versorgt wird, hätte das fatale Folgen für solch ein kleines Kloster. Niemals wäre es in der Lage alle Bedürftigen einer Millionenstadt zu ernähren. Ernüchtert begebe ich mich wieder in unsere Katakomben. Tanja ist nicht da. Wenige Minuten später kommt sie die steilen Treppen herunter gelaufen. “Wo warst du?”, frage ich. “Ach ich habe der Bettlerin noch den Rest unseres Essens gegeben. Öl, Kekse, Quark; Kefir aber sie wollte mehr.” “Ja, ich weiß. Diese Frau wäre wahrscheinlich mit nichts zufrieden gewesen.”
Am späten Nachmittag kommt ein Nachrichtenteam des Fernsehsenders von Krasnojarsk ins Kloster. Wir geben ein Interview und berichten von unseren Erlebnissen. “Woher wusstet ihr von uns?”, interessiert es Tanja. “Katya hat uns von Euch erzählt. Das interessiert uns natürlich. Wir haben ja nicht alle Tage Radfahrer die von Deutschland nach Sibirien fahren”, sagt die Redakteurin. Kaum haben wir all die Fragen beantwortet müssen wir schon wieder weiter. Katya versucht für uns noch eine Registrierung zu bekommen. Da wir uns länger als drei Tage hier befinden schreibt es das Gesetz vor sich registrieren zu lassen. Leider sind am Wochenende die zuständigen Polizeistationen geschlossen. Heute, am Montag, ist Feiertag, also ist die Polizeistation wieder geschlossen. “Wir haben nur noch eine Möglichkeit und das ist die Post”, meint Tanja, da wir erfahren haben sich auch dort registrieren lassen zu können. Leider lehnt man auch bei der Post ab uns eine Registrierung zu geben. “Na dann gehen wir halt ohne Registrierung zum Flughafen”, sage ich entschlossen. “Keine gute Idee. So weit ich weiß sind die Strafen mittlerweile sehr hoch. Es könnte sogar sein das man euch trotz einer Geldstrafe das nächste Mal die Einreise verwehrt. Ihr braucht eine Registrierung”, warnt Katya. “Aber wenn wir doch keine Registrierung bekommen? Die Behörden müssen einem doch zumindest die Gelegenheit geben solch einen Stempel zu erhalten”, schimpfe ich. “Das ist den Beamten am Flughafen egal. Vergesst nicht. Ihr sei hier in Russland. Da läuft alles etwas anders”, hören wir, weshalb wir ungläubig den Kopf schütteln.
Kurz vor Ladenschluss, um 19:00 Uhr, erreichen wir ein Postoffice in einem anderen Stadtteil welches uns für eine Gebühr von 300 Rubel (8,60 Euro) tatsächlich den wichtigen Stempel gibt. Motiviert nutzen wir den restlichen Abend, um uns in einem Cafe zu unterhalten als wieder das Handy von Jenya klingelt. “Und? War es wieder die Oberin?”, frage ich um einen Scherz zu machen. “Ja.” “Was? Tatsächlich? Was liegt denn jetzt schon wieder an?”, möchte ich wissen. “Ihr dürft nun doch nicht eure Ausrüstung und Anhänger im Kloster lassen. Sie hat Angst jemand könnte eure Sachen aus dem Keller entwenden. Sie möchte nicht die Verantwortung übernehmen. Sie ist eine alte Frau. “Wer weiß ob ich noch lebe wenn die Beiden wiederkommen”, hat sie gerade gesagt”, berichtet Jenya. “Und das acht Stunden vor Abflug? Na das hätte sie uns doch auch vorher mitteilen können. Wo sollen wir denn jetzt zu dieser späten Stunde noch unser Gepäck einlagern?”, frage ich bald etwas verzweifelt. “Bei mir. Ich hole noch heute Abend alles ab. Wir schlichten es in meinen Bus und dann werde ich es in meiner Wohnung so lange aufheben bis ihr wieder in Krasnojarsk seid”, bietet Jenya an und rettet somit die heikle Situation.
Da alles was geschieht im Leben einen Sinn ergibt, auch wenn wir ihn im Augenblick des Tiefschlages, des Schiefgehens, der Panne, des Unfalls oder sogar der Krankheit nicht akzeptieren möchten, haben wir gelernt, das es besser und leichter ist die Dinge so zu nehmen wie sie eben kommen. Wer weiß? Vielleicht ist unser Material im Klosterkeller tatsächlich nicht sicher? Zumindest kann jeder, wenn er wirklich möchte, in den Klosterhof gelangen. Auch gibt es an den Gästeräumen im Keller keinen Schlüssel, um die Tür abzusperren. Was daran gut sein soll das uns die Oberin erst wenige Stunden vor Abflug offenbart unsere Ausrüstung nun doch nicht im Kloster lagern zu können? Nun, so dürfen wir unser wertvolles Hab und Gut bei Jenja lassen und müssen es nicht in einem Hotel zwischenlagern. Das wäre wahrscheinlich teuer geworden und sicher wäre es in einem anonymen Hotel, in dem uns keiner kennt, garantiert nicht.
Uns wird immer wieder klar gemacht wie wichtig es ist den Gang des Lebens so zu akzeptieren wie er eben läuft. Unsere gesamte Reise hat es wieder gezeigt. Nicht selten haben wir uns über die verschiedenen Glücksfälle gefreut. Glücksfälle die man auch Fügung nennen kann. Es war von Anfang bis Ende eine fantastische Reise. Eine Reise die uns wohlbehalten tausende von Kilometern durch trockene, einsame Steppenlandschaft geführt hat, die uns über wunderschöne Hügellandschaften bis in das waldreiche Sibirien brachte. Die uns die Denk- und Lebensweise der Kasachen und Russen näher brachte. Völker, deren Gastfreundschaft, Hilfsbereitschaft und Herzenswärme schon bald legendär ist.