Der Wind, ein fantastischer Trainer
N 47°37'11.0'' E 043°07'39.0''Nach einem angenehmen Aufenthalt verlassen wir die Stadt in Richtung Wolgograd. Es ist ein wunderschöner sonniger Tag. Mit etwa 15 Grad etwas kühl aber seit Wochen das erste Mal kein Wind. Absolute Windstille sogar. “Hurra!” Seit unserem Aufbruch in Bukarest trage ich heute zum ersten Mal lange Winterradhosen. Wegen den gefallenen Temperaturen ist sie angenehm. “Immer geradeaus und am Atomkraftwerk links”, hat man uns erklärt. So biegen wir an dem großen Kraftwerk links ab und lassen diese bedrohlich wirkende Anlage hinter uns. Wir kommen sehr gut voran. Mit 20 bis 28 Kilometer pro Stunde. Ein Radfahrtraum, trotz Hänger. Da es zwei Strecken nach Wolgagrad gibt und wir nicht die Hauptschnellstraße nehmen ist die Verkehrsader nahezu leer. Kaum Autos. Wir fühlen uns beinnahe so wie in Moldawien. Nach wie vor freuen sich viele Menschen die ungewöhnlich aussehenden Radfahrer zu sehen. Mehrere deuten auf uns und lachen. Eine alte Frau winkt uns mit ihrem Gehstock zu. Manche Autos fahren uns eine Weile hinterher, um einen genaueren Blick auf die Fremden zu werfen. Andere hupen laut. Vor Schreck hebt es uns ab und an regelrecht aus dem Sattel.
Langgezogene Hügel erstrecken sich vor uns bis auf 125 Höhenmeter. Die größten Erhebungen seit langer Zeit. Durch die Windstille fordern sie allerdings kaum besonderen Kräfteverbrauch. Ganz im Gegenteil. Der Wind hat uns in den vergangenen Wochen derart trainiert das wir jetzt die Erdrunzeln mit Leichtigkeit und Heiterkeit nehmen. Erst nach 70 Kilometer legen wir eine Rast an einer einsamen Suppenbude ein. Als ich den dunklen Schuppen betrete sieht mich eine junge Frau im ersten Moment erschrocken an. “Guten Tag”, begrüße ich sie. Ein schüchternes Lächeln ist die Antwort. “Gibt es etwas zu Essen?”, frage ich hungrig wie ein Löwe. Als sie mir ihre paar Gerichte aufzählt entdecke ich den Grund ihres schüchternen Lachens. Ihr fehlen bald alle Frontzähne. Da Gemüsesuppe zur täglichen Nahrung der Einheimischen hier zählt bestelle ich eine. Somit ist wenigsten gewährleistet das sie nicht alt und verdorben ist. Weil die junge Wirtin das Fleisch in ihrer Suppe angepriesen hat lehnt Tanja ab. Wir nehmen uns die alten angenagten Stühle aus der Hütte und stellen sie ins Freie. “Ist doch viel schöner hier draußen zu sitzen als in der dunklen Kaschemme”, freut sich Tanja. Wegen den angenehmen Temperaturen in der Herbstsonne hat Tanja durchaus Recht. Wir packen unser eigenes Brot und Käse aus. Dann kommt die Bortsch. “Seltsam, ist nicht das winzigste Fleischbröckelchen drin und schmeckt auch nicht so als wäre es mit Fleisch gekocht”, stelle ich zufrieden fest weil Fleisch manchmal nicht von guter Qualität ist.
Dann nehmen wir für heute die letzten 40 Kilometer in Angriff. Weil unser Trainer und manchmal auch Peiniger der Ostwind sich derzeitig entschieden hat uns einen leichten Tag zu gönnen brausen wir wie der Sausewind dahin. “Juchhe! Juuucheee!”, jubeln wir beide. Der dunkle Bitumenstreifen führt uns durch offenes weites Land. Rinderherden grasen am Horizont in der ewigen Steppe. Tiertränken bilden kleine Inseln der Abwechslung in der Endlosigkeit Russlands. Ein kleines Bauernhaus trotzt der Einsamkeit. Die Bewohnerin hängt ihre Wäsche an die Leine und winkt uns freudig zu. Die Augen können nirgends anstoßen. Nur Weite und Freiheit. Unbeschwertheit und Sorglosigkeit erfüllt unsere Herzen. Die Sonnenstrahlen neigen sich schon tief über Mutter Erde als wir noch immer kraftvoll das Ortsschild des Dorfes Kotelnikowo passieren. “Ich habe gewonnen. Ich habe es zu erst gesehen!”, frohlockt Tanja. “Was? Wirklich? Du meinst in dieser abgelegenen Siedlung gibt’s eine Gastiniza?” “Klar. Da war gerade ein Schild”, lacht Tanja. Tatsächlich taucht auf der rechten Straßenseite ein schmaler relativ neuer Bau auf. Beschwingt lassen wir unsere Räder auf den Vorplatz rollen. “Ich frag mal nach ob sie ein Zimmer für uns haben”, sage ich und betrete das einfache Haus. In der Tat dürfen wir bleiben. Nachdem wir unsere Ausrüstung in das saubere Vierbettzimmer geräumt haben macht sich Tanja noch mal auf, um unser altes Brot an eine Ziegenherde zu verfüttern die nur 50 Meter weg von hier im letzten Tageslicht grast. Der Hirte freut sich über die Sonderfütterung und beginnt mit Tanja ein längeres Gespräch. Es ist bereits dunkel als wir ins Haus zum duschen gehen. Die Wirtin hat für uns Wasser auf dem Herd erhitzt. Somit dürfen wir unsere verschwitzten Leib in der Schöpfdusche reinigen. Ein wunderbares Gefühl nach 106 Tageskilometern sich den Schweiß vom Körper waschen zu können.